Almanach 2021

 

Schwarzwald-Baar Jahrbuch Almanach 2021

 

 

 

Foto: Sunthausen mit Sunthausener See und Alpenpanorama. He raus ge ber: Land rats amt Schwarz wald-Baar-Kreis www.schwarz wald-baar-kreis.de landratsamt@schwarzwald-baar-kreis.de Informationen zum Jahrbuch können auch im Internet recherchiert werden: www.almanach-sbk.de Re dak ti on: Sven Hinterseh, Landrat Wil fried Dold, Redakteur (wd) Kristina Diffring, Referentin des Landrats Heike Frank, Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit, Kultur und Archiv Susanne Bucher, Leiterin Informationsund Kulturamt Stadt Hüfingen Für den Inhalt der Beiträge sind die jeweiligen Autoren verantwortlich. Nachdrucke und Ver vielfältigungen je der Art werden nur mit Einwilligung der Redaktion und un ter Angabe der Fundstelle gestattet. Gestaltung: dold.media + dold.verlag Verlag: dold.verlag, Vöhrenbach 2020 www.dold ver lag.de Druck: BaurOffset Print e.K., VS-Schwenningen ISBN: 978-3-948461-05-8 2

 

 

 

 

 

 

Aus dem Kreisgeschehen Corona Schwerpunkt Rad Wiederwahl von Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten Stenogramm einer Pandemie Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar 10 42 82 Es gab stehende Ovationen durch den Kreistag – die Freude stand Sven Hinterseh und seiner Familie ins Gesicht geschrieben. Seine Wiederwahl zum Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises am 16. März 2020 geriet zu einem großartigen Vertrauensbeweis: Sie erfolgte in geheimer Abstimmung und ohne Gegenstimme. Es gab stehende Ovationen für einen Landrat aus Berufung. Corona versetzt im Jahr 2020 die Menschen in einen so nie gekannten Ausnahmezustand. Mit der Situation im Schwarzwald-Baar Klinikum, der Arbeit des Gesundheitsamtes und des Landratsamtes in dieser so nie gekannten Situation, aber besonders auch mit den Sorgen der Bevölkerung im Landkreis, befasst sich der Almanach im Corona-Schwerpunkt. In Zeiten von Klimaschutz und eingeschränkter Reisemöglichkeiten bietet das E-Bike sprich Zweirad viele Möglichkeiten, die eigene Heimat zu erkunden. Der Almanach stellt das kreisweite Radwegenetz vor und beschreibt vier Radtouren im Schwarzwald und auf der Baar. 4 Inhalt

 

 

 

Inhaltsverzeichnis Impressum 2 8 Miteinander, füreinander – ein Jahr großer Herausforderungen / Sven Hinterseh 1. Kapitel / Aus dem Kreisgeschehen 10 Ovationen zur Wiederwahl – Mutig unsere Zukunft 24 gestalten! / Wilfried Dold Joachim Gwinner – Sich stets als Anwalt der Bürger verstanden / Wilfried Dold 32 Professor Dr. Ulrich Fink – Medizinische Versorgung im Landkreis gebündelt / Hans-Jürgen Eisenmann 2. Kapitel / Corona – Stenogramm einer Pandemie 42 Corona-Situation spitzt sich zu 44 Tage weit weg von normaler Arbeit / Nathalie Göbel 52 Stenogramm eines Lockdowns / Wilfried Dold Im Gespräch mit Dr. med. Hinrich Bremer / Nathalie Göbel 66 74 Wie organisiert man den Umgang mit einer Pandemie? / Roland Sprich und Wilfried Dold 3. Kapitel / Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar 82 Die Entwicklung des Radwegenetzes im SchwarzwaldBaar-Kreis / Simone Neß 88 Brigach und Breg bringen die Donau zuweg: Vom Zusammenfluss an die Brigachquelle / Wilfried Dold 102 Der Schellenberg-Trail / Silvia Binninger 110 Der jungen Donau entlang / Rudolf Reim 122 Von Villingen zum Nikolauskirchle / Birgit Heinig 132 Den Neckar entlang ins Neckartäle / Michael Kienzler 4. Kapitel / Städte und Gemeinden 146 Der neu angelegte Kurpark – lebendige, vielgestaltige Mitte des Skidorfs Schonach / Claudius Eberl 5. Kapitel / Da leben wir – Daheim im Schwarzwald und auf der Baar 154 Das Haus Eschle in Schönwald / Marc Eich 164 Andrea Pfrengle – In Stein meißeln, Geschichten erzählen / Marc Eich 172 Zappel-Philipp – das Kinderfachgeschäft mitten in der historischen Villinger Altstadt / Birgit Heinig 178 Simone Puchinger – International erfolgreiche ProfiTänzerin aus Furtwangen / Gerhard Dilger Städte und Gemeinden Neu angelegter Kurpark in Schonach 146 Am 13. Juli 2019 konnte der neue Schonacher Kurpark nach knapp drei Jahren Bauzeit in seiner Ganzheit eröffnet werden. Rund 5.433 Quadratmeter Pflastersteine wurden verlegt, 25.560 Kubikmeter Erde bewegt. Aus dem Kurpark ist ein Treffpunkt für Jung und Alt, ein Ort für Spiel und Spaß geworden. Inhalt 5

 

 

 

Da leben wir Fastnacht Kunst und Kultur Andrea Pfrengle – In Stein meißeln, Geschichten erzählen Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste… Die Apparillos von Dr. Oliver Wolf alias Olsen 164 240 264 Sie lebt im „Eschle“, einem 200 Jahre alten Kaufhaus in Schönwald, und schon immer war Andrea Pfrengle kreativ. Lange Zeit hat sie gemalt und gezeichnet – dann brachte sie eine Freundin zur Bildhauerei. Mittlerweile sind acht Jahre vergangen, und es ist ein vielgestaltiges Werk entstanden, das bei Ausstellungen hohe Wertschätzung erfährt. Stroh in der Hose und ein Brett auf dem Rücken ‒ bei der historischen Villinger Fastnacht sorgt die WueschtGruppe seit langer Zeit für Furore, genießt Kultstatus. Wie es ist, an der Fastnacht über mehrere Tage hinweg mit Stroh ausgestopft herumzulaufen, beschreibt der Wuescht Dieter Wacker aus der Ich-Perspektive. Schwebende oder ans Kreuz genagelte Roboter, Haarbürsten, die sich der Morgensonne zuwenden oder das DiscokugelBraininterface: Der aus Niedereschach stammende Medienkünstler Olsen arbeitet im Atelier in St. Georgen an Objekten und Installationen aus dem Bereich der Maschinenkunst. 6 Inhalt

 

 

 

Natur und Umwelt Streuobstwiesen – Wertvoller Lebensraum 302 Bei der erstmals hergestellten Streuobstschorle von Bad Dürrheimer handelt es sich um einen besonderen regionalen Genuss in limitierter Abfüllung. Das Beste: Mit jedem Schluck wird die Streuobstkultur auf der Baar gefördert und damit zugleich ein wichtiger Beitrag für den Erhalt der Artenvielfalt geleistet. 186 Bernhard Gail – Ein Hobby zwischen Raum und Zeit / Tanja Bury 194 Melanie Reischl – Tattoostudio Tintenfass / Mark Eich 200 Bianca Purath – Alles hat seine Zeit / Silvia Binninger 6. Kapitel / Wirtschaft 206 „Sicher. Sauber. ALPRO“ / Eric Zerm 214 Maschinenring – Mit einem Rübenernter fing alles an / Roland Sprich 222 Nastrovje Potsdam – Das Kultlabel aus dem Schwarzwald / Simone Neß 232 Brennerei Mack – „Wasser des Lebens“ aus den Gütenbacher Highlands / Roland Sprich 7. Kapitel / Schwäbisch-Alemannische Fastnacht 240 Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste… / Dieter Wacker 8. Kapitel / Kunst und Kultur 258 Global Forest St. Georgen – ein offenes Haus für Kunst / Barbara Dickmann 264 Die Apparillos von Dr. Oliver Wolf alias Olsen / Barbara Dickmann 9. Kapitel / Gastlichkeit 272 Orient trifft Okzident – Restaurant Felsen in VS-Schwenningen / Eric Zerm 10. Kapitel / Natur und Umwelt 278 Im Gespräch mit zwei Höhlenbrüter-Experten / Wolf Hockenjos 288 Wie sieht der Wald der Zukunft aus ? Waldzustand nach Sturm Sabine und Borkenkäfer / Dr. Frieder Dinkelaker 298 Von „Sabine“ gekappt: die Große Eggwaldtanne / Wolf Hockenjos 302 Streuobstwiesen – Wertvoller Lebensraum und einmaliges Kulturgut / Tanja Bury Anhang 316 Almanach-Magazin 318 Be völ ke rungs ent wick lung im Schwarz wald-Baar-Kreis, Arbeitslosigkeit in Prozentzahlen, Orden und Ehrenzeichen 319 Die Autoren und Fotografen unserer Beiträge / Bildnachweis 320 Ehrenliste der Freunde und Förderer Inhalt 7

 

 

 

Miteinander, füreinander – ein Jahr großer Herausforderungen Liebe Leserinnen und Leser, ein Jahr, das seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland die größten Herausforderungen für unser Land, unsere Gesellschaft, die Wirtschaft und Politik sowie vor allen Dingen für uns Bürgerinnen und Bürger – für jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns – mit sich gebracht hat, liegt nun beinahe hinter uns: 2020 stand die Bewältigung sowie der „richtige“ Um gang mit der weltweiten Corona-Pandemie über allem. Im Frühjahr 2020 wurde unser aller Leben, der gewohnte Alltag, für einige Wochen außer Kraft gesetzt. Eine Zeit, die viele von uns aber auch einmal zum Innehalten und zum Besinnen auf das Wesentliche nutzen konnten. Schien die Corona-Pandemie Mitte des Jahres für viele beinahe schon wieder überstanden, kam sie im Herbst mit voller Wucht zurück. Trotzdem hat das Jahr 2020 bei allen Schwierigkeiten und großen Herausforderungen aber einmal mehr sehr deutlich gezeigt, dass wir hier im SchwarzwaldBaar-Kreis grundsätzlich gut aufgestellt sind: Hier leben verantwortungsvolle und hilfsbereite Bürgerinnen und Bürger, die sich vorbildlich an Regeln und so manche Einschränkung zum Schutze ihrer Mitmenschen halten. Darüber hinaus sind wir aber auch ausgestattet mit qualifizierten und hochleistungsfähigen Fachleuten, insbesondere im Gesundheitsbereich, sowie im Bereich des Katastrophenschutzes, in der Nahversorgung, bei den Behörden und in vielen anderen Bereichen. Bisher haben wir im Schwarzwald-Baar-Kreis fest zusammengehalten – auch wenn wir weiter physisch Abstand zueinander halten müssen – und dies gilt es auch in den kommenden Monaten zu pflegen. Wir sollten insbesondere auch nicht diejenigen vergessen, die das Jahr 2020 sehr schwer getroffen hat. Umso wichtiger ist es, uns mit dem Almanach 2021 ein Stück „Normalität“ zurückzugeben und zu bewahren. Wir wollen dabei zum einen auf Bewährtes und feste Traditionen, wie beispielsweise die Villinger Fasnet, zurückblicken, zum anderen aber auch neue Entwicklungen aufzeigen sowie unsere Aufmerksamkeit auch den Menschen und Berufsgruppen widmen, die das vergangene Jahr ganz besonders geprägt und teilweise schwer gebeutelt hat. Künstlerinnen und Künstler, Wirtschaftsunternehmen, aber auch besondere Persönlichkeiten unserer Heimat finden im Almanach 2021 mit informativen Beiträgen wieder ihren Platz. Mein Dank gilt auch in diesem Jahr wieder allen, die dazu beigetragen haben, dass das Schwarzwald-Baar Jahrbuch auch 2021 in ansprechender und informativer Form entstehen konnte. Ebenso bedanke ich mich ganz herzlich bei all den treuen Freunden und Förderern unseres Almanachs und insbesondere auch bei den zahlreichen Autoren und Fotografen, ohne die dieses Werk nicht hätte erscheinen können. Auf ein ganz besonderes Ereignis können wir in diesem Jahr gemeinsam mit dem Vöhrenbacher dold.verlag blicken: auf unsere 25-jährige Almanach-Zusammenarbeit. Aus diesem Grund möchte ich dem dold.verlag ein ganz großes Dankeschön aussprechen für 25 Jahre erfolgreiche und vertrauensvolle Kooperation bei unserem gemeinsamen Herzensprojekt – dem Schwarzwald-Baar Jahrbuch, unserem Almanach. Gleichzeitig danke ich aber auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser der 45. Ausgabe und wünsche Ihnen nun, dass Sie auch in diesem Almanach, unserem Schwarzwald-Baar Jahrbuch 2021, jede Menge anregenden Lesestoff finden. Bei der Lektüre wünsche ich Ihnen viel Freude sowie gute Unterhaltung. Ihr Sven Hinterseh, Landrat 8 Zum Geleit

 

 

 

Ovationen zur Wiederwahl – Mutig unsere Zukunft gestalten! Sven Hinterseh für weitere acht Jahre einstimmig als Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises bestätigt 10 10 1. Kapitel – Aus dem Kreisgeschehen Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Es gab stehende Ovationen durch den Kreistag – die Freude stand Sven Hinterseh und seiner Familie ins Gesicht geschrieben. Seine Wiederwahl zum Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises am 16. März 2020 geriet zu einem großartigen Vertrauensbeweis: Sie erfolgte in geheimer Abstimmung ohne Gegenstimme. Sven Hinterseh rief nach Ablauf der ersten achtjährigen Amtszeit im Rahmen der Bewerbungsrede für seine Wiederwahl dazu auf, mutig unsere Zukunft zu gestalten und nicht die Zuversicht zu verlieren. Es war eine Wahl im Schatten von Corona: ohne Händeschütteln, mit abgekürzter Bewerbungsrede und ohne nachfolgende Feier. Mit pandemiebedingtem Sicherheitsabstand übermittelten alle Fraktionen des Kreistages ihre Glückwünsche – herzlich und freudig. Sie galten einem Landrat aus Berufung, der den Schwarzwald-Baar-Kreis mit großer Tatkraft in seine Zukunft führt, in die Zeit nach Corona und ins Zeitalter der Digitalisierung. Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten!

 

 

 

Ob die Wiederwahl als Landrat überhaupt würde stattfinden können, war bis kurz vor Beginn der Kreistagssitzung ungewiss. Im Stundentakt brachen neue Corona-Hiobsbotschaften über die Bevölkerung und die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, der Verwaltung und Politik herein. Zwei Tage später, am 18. März, verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernseh ansprache für Deutschland den Lockdown. Der eben in seine zweite Amtszeit wiedergewählte Landrat Sven Hinterseh schlüpfte endgültig in die Rolle des kreisweiten Krisenmanagers – an eine Rückkehr in den politischen Alltag ist bis heute nicht zu denken. Wie schon die Wahl, stand auch die Vereidigung für die zweite Amtszeit durch Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer im Zeichen von Corona. Der Kreistag versammelte sich dazu am 27. Juli in der Neuen Tonhalle in VS-Villingen, weil nur dort für ein so großes Gremium die Sicherheitsabstände eingehalten werden konnten. Offiziell hat die zweite Amtszeit am 1. Juni 2020 begonnen. Auch der Schwarzwald-Baar-Kreis hat sich als Folge massiver Einnahmeausfälle durch Corona für seinen Haushalt die Umsetzung von Einsparungen auferlegt. Zahlreiche Projekte werden zeitliche Verzögerungen erfahren, beziehungsweise der Kreistag diskutiert deren Machbarkeit in Zeiten von Corona neu. „Jetzt hoffen wir, dass die Rettungsschirme von Bund und Land greifen, nur wenige Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren und hoffentlich die sozialen Systeme nicht überlastet werden“, blickt Sven Hinterseh in einem am 28. September 2020 geführten Interview in die bis heute ungewisse Zukunft. Das nachstehend wiedergegebene Gespräch ist eine Bilanz der ersten acht Jahre im Amt des Landrates und der Versuch eines Ausblicks auf die Kreispolitik im Zeitalter nach Corona. Herr Hinterseh, Ihr Rückblick auf die Jahre 20122020, die erste Amtszeit als Landrat und Ihr Ausblick auf die zweite Amtszeit aus Anlass der Wiederwahl am 16. März des Jahres 2020 war überschattet von den Ereignissen der Pandemie. Wie haben Sie als frisch im Amt bestätigter Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises diese Zeit erlebt? In der Tat – Corona hat unser aller Leben vollständig verändert! Wir im Landratsamt betreiben seit Monaten überwiegend Krisenmanagement. Es galt und gilt ungeheuer viele Prozesse und Verwaltungsabläufe zu koordinieren und abzustimmen. Es gibt ja nirgendwo ein Gesetz, in dem steht: Wenn Corona ausbricht, dann hat das Landratsamt folgende Aufgaben zu erfüllen … und es besteht auch kein Pflichtenkatalog, der Beim Auszählen der Stimmen zur Landratswahl folgte ein „Ja“ auf das andere. Rechts: Walter Klumpp, Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler, gratuliert Landrat Sven Hinterseh zur einstimmigen Wiederwahl. 12 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Am 27. Juli 2020 vereidigte Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer in einer Kreistagssitzung in der Neuen Ton halle in VS-Villingen Landrat Sven Hinterseh für seine zweite Amtszeit. Regierungspräsidentin vereidigt Landrat Sven Hinterseh für zweite Amtszeit „Fulminantes Ergebnis“ In der Kreistagssitzung am 27. Juli vereidigte Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer den wiedergewählten Landrat Sven Hinterseh für seine zweite Amtszeit. Sie erinnerte in ihrer Ansprache an die erste Wahl Sven Hintersehs zum Landrat im Jahr 2012. Damals habe er mit viel Erfahrung in unterschiedlichen Bereichen überzeugt. Nun konnte er mit 100 Prozent der Stimmen ein fulminantes Ergebnis bei der Wiederwahl am 16. März 2020 verzeichnen, so die Regierungspräsidentin, dies sei ein riesiger Vertrauensbeweis. Landrat Sven Hinterseh habe stets Weitblick, den Mut für innovative Entscheidungen und großes persönliches Engagement gezeigt. Er sei ein Landrat, der keine Parteipolitik, sondern Politik mit allen in den Mittelpunkt stelle. Dabei seien wegweisende Entscheidungen getroffen worden, wie beispielsweise die Gründung des Zweckverbands Breitbandversorgung Schwarzwald-Baar. „Hier geht es um ein Jahrhundertprojekt“, hob Bärbel Schäfer die Tatkraft der politisch Verantwortlichen lobend hervor. Auch bei den Schulen habe der Landkreis viele Sanierungen und Erweiterungsmaßnahmen umgesetzt. Bei dem Thema Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) bestehe ein intensiver Kontakt mit dem Regierungspräsidium. Zudem erinnerte die Regierungspräsidentin an die Investitionen des Kreises beim Neubau des Zentralklinikums 2013. „Bei der Corona-Pandemie konnten wir nun erfahren, wie wichtig die Zentralkliniken sind“, betonte Bärbel Schäfer. Ein Blick zurück galt der Flüchtlingssituation des Jahres 2015. Damals habe sich Landrat Sven Hinterseh bei der Flüchtlingsaufnahme als Krisenmanager bewiesen: „Sie haben nicht „hier“ geschrien, aber sich auch nicht weggeduckt. Hierfür möchte ich mich persönlich bei Ihnen bedanken.“ Auch jetzt, in der Corona-Pandemie, hätten die Landkreise gezeigt, wie schnell sie ihre Krisenstäbe hochfahren können, der SchwarzwaldBaar-Kreis habe sehr früh reagiert. Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten! 13

 

 

 

auflistet, was zu tun wäre. Entscheidend scheint mir, das Gebot der Stunde zu erkennen. Auch wenn das Landratsamt für viele Aufgaben nicht zuständig ist, kann es dennoch vermitteln, sich um Lösungen bemühen. Der Kassenärztlichen Vereinigung haben wir geholfen, die Corona-Ambulanz in Betrieb zu nehmen. Dem Schwarzwald-Baar Klinikum konnten wir zur Seite stehen, als es darum ging, mit den Reha-Einrichtungen über eventuelle Not-Kapazitäten zu sprechen. Wir haben Seniorenund Pflegeeinrichtungen beraten, Schutzmasken und -kleidung beschafft und vieles mehr. Wie wir alle, war kein Landrat vor Ihnen mit so einer Situation konfrontiert … Corona ist weltweit eine einzigartige Herausforderung. Wir erlebten 2015/2016 einen ungewöhnlich großen Zustrom geflüchteter Menschen. Manche bezeichneten diese Situation als Krise, ich spreche von einer Herausforderung. Die Bewältigung der Corona-Pandemie hingegen ist bislang in der Tat einzigartig. Wir alle Es gibt ja nirgendwo ein Gesetz, in dem steht: Wenn Corona ausbricht, dann hat das Landratsamt folgende Aufgaben zu erfüllen… Und es gibt auch keinen Pflichtenkatalog, der auflistet, was zu tun wäre. haben uns nicht gewünscht, in so eine Situation zu geraten. Wir befinden uns nach wie vor mitten in der Pandemie – keinesfalls darf man die Lage auf die leichte Schulter nehmen. Dieser Tage war ich selbst kurze Zeit mit einem Corona-Infizierten im gleichen Auto unterwegs. Ich musste mich umgehend testen lassen – der Test fiel negativ aus. Was mich generell verwundert: Die Zahl meiner Auswärtstermine hat stark zugenommen. Nicht immer ist mir wohl dabei, Corona ist längst nicht überwunden. Wir müssen als Ge14 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

sellschaft das richtige Maß finden – das ist eine Aufgabe der nächsten Monate. Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Schwarzwald-Baar-Kreis fällt ziemlich exakt mit dem Ende Ihrer ersten Amtszeit und der Wiederwahl zum Landrat zusammen. Sie wurden in geheimer Wahl ohne Gegenstimme im Amt bestätigt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt? Diese Eindeutigkeit war von mir zu keiner Zeit so erwartet worden. Ich hatte mir natürlich ein starkes Ergebnis gewünscht, aber dass es in geheimer Wahl einstimmig wird, das hat mich doch überrascht und sehr gefreut. Blicken wir auf die Zeit vor Corona zurück. Die Grundlagen für die „Zukunftsregion Schwarzwald-Baar“ zu schaffen, war Ihnen ein wichtiger Ansatz. Welche Impulse konnten Sie geben? Ich bin schon lange in der Politikberatung aktiv. Als Berater und Begleiter von Politiker*innen, eigentlich mein ganzes Berufsleben lang. Es ist meine feste Überzeugung, dass man die mit der Politik verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen muss. Das bedeutet, Zukunftsthemen aktiv anzugehen und die Themenfelder klar und mit Kraft nach vorne zu entwickeln. Infrastrukturthemen sind für einen Landkreis von entscheidender Bedeutung – insbesondere die Sicherstellung der digitalen Infrastruktur. Eine zentrale Rolle spielt dabei die durch Sie initiierte Demografiestrategie? In der Tat. Sie gab und gibt mir noch immer die Legitimation, unsere Zukunftsaufgaben konkret anzupacken. Sie fungierte in den letzten Jahren als gute Richtschnur unseres Handelns. Die Demografiestrategie ist im Kreistag, mit den Städten und Gemeinden sowie in Bürgerworkshops gemeinsam erarbeitet und einstimmig verabschiedet worden. Breitbandausbau, ÖPNVWeiterentwicklung, ärztliche Versorgung und Es ist meine feste Überzeugung, dass man die mit der Politik verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen muss. Das bedeutet, Zukunftsthemen aktiv anzugehen und die Themenfelder klar und mit Kraft nach vorne zu entwickeln. andere Themen sind in ihr angelegt. Sie sichert unsere Daseinsvorsorge. Und wie ich schon bei meiner Bewerbungsrede am 16. März ausführte: Es liegt mir besonders am Herzen, die Daseinsvorsorge nicht nur in unseren Städten und größeren Gemeinden zu erhalten und auszubauen, sondern gerade auch in den vielen Teilorten mit 300, 400 oder 500 Einwohnern sicherzustellen. Ihr sicherlich mit wichtigstes Projekt war der Einstieg in den Aufbau der Breitbandversorgung und die Gründung des Zweckverbands Breitbandversorgung Schwarzwald-Baar. Wo stehen wir beim Aufbau des Glasfasernetzes am Beginn Ihrer zweiten Amtszeit? Wir haben in den letzten acht Jahren ganz Erhebliches geleistet, weit über 11.000 Haushalte sind bereits am Netz, und bis Ende 2019 wurden mehr als 130 Mio. Euro investiert. Der Glasfaserausbau hat die gleiche Bedeutung wie die Trinkwasseroder Stromversorgung. Wir haben dafür dank unserer klugen Politik viele Millionen Euro an Fördergeldern von Bund und Land erhalten. Und wir haben vor allen Dingen – das erscheint mir noch viel wichtiger – bei Land und Bund gezielt Einfluss nehmen können, wie die Förderkulissen ausgestaltet werden, sodass sie für uns auch passen. Das fällt alles nicht vom Himmel. Dafür muss man hart arbeiten, benötigt ebenso die Unterstützung seitens unserer Mandatsträger*innen. Ich wünsche mir, dass wir am Ende meiner zweiten Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten! 15

 

 

 

Amtszeit sagen können, dass der Breitbandausbau gemeistert ist. Und das ist im SchwarzwaldBaar-Kreis mit seinen über 1.000 km2 Fläche schon nicht ganz einfach. Eigentlich wollte ich keine Beispiele nennen, aber denken Sie, dass Sumpfohren, Nußbach, der Rensberg oder Unterbränd – und das sind jetzt nur ein paar wenige Orte – ohne unseren Zweckverband und ohne dieses solidarische Miteinander jemals schnelles Internet bekommen hätten? Wohl kaum, wie uns die Vergangenheit lehrt. Das Internet ist in der Corona-Zeit für viele über Nacht zur Existenzfrage geworden. Sind es jetzt überwiegend noch die eher ländlichen Regionen, die auf das Glasfaserkabel warten müssen? Nein. Zum Teil kommt es auch in größeren Städten zu einer Unterversorgung, von der einzelne Straßenzüge oder nur Teile einer Straße betroffen sind. Die Welt ist in dieser Hinsicht ziemlich kompliziert. Es gibt Orte im Landkreis, die sind zu 80 Prozent oder mehr gut ausgebaut. Und doch finden sich im gleichen Ort kleine Bereiche, die noch schlecht erschlossen sind. Da geht es teils um Grundstücksfragen, oft vor allem um die Wirtschaftlichkeit eines Teilausbaus. Über das schnelle Internet habe ich viele Gespräche mit Bürger*innen geführt. Es gibt den SAP-Berater, der deutschlandweit unterwegs ist, der vieles von zu Hause aus machen könnte, wenn er diese symmetrischen Glasfaseranschlüsse hätte. Es gibt die Wirtschaftsprüferin, die im Achdorfer Tal lebt, und gleichfalls das schnelle Internet braucht, damit sie von zu Hause aus arbeiten kann. Heute gilt: Auch das Achdorfer Tal ist am Netz! Es gibt genauso die Lehrer*innen, die gerade zu Corona-Zeiten die schnellen Anschlüsse benötigen, um ihren digitalen Unterricht bewerkstelligen zu können. Weiter den Studenten im Bregtal oder den Schüler im Glasbachtal bei Königsfeld, der auf schnelles Internet angewiesen ist. Spätestens mit Aufkommen von Corona haben alle erkannt, dass es das Glasfaserkabel einfach braucht, um technisch zukunftsfest aufgestellt zu sein. Denken Sie, dass Sumpfohren, Nußbach, der Rensberg oder Unterbränd ohne unseren Zweckverband Breitbandversorgung Schwarzwald-Baar und ohne dieses solidarische Miteinander jemals schnelles Internet bekommen hätten? Ist der Schwarzwald-Baar-Kreis auch beratend tätig? Wir sind aktuell – auch im Auftrag der Städte und Gemeinden – mit dem Aufbau eines digitalen Netzwerkes für alle öffentlichen Einrichtungen im Landkreis als Grundlage für unsere interkommunale Zusammenarbeit beschäftigt. Das ist ein Angebot, das mit dem Voranschreiten des Glasfasernetzes korrespondiert: Nur mit den Möglichkeiten des schnellen Internets lässt sich so ein Zusammenschluss auch realisieren. Damit sind große Synergieeffekte verbunden, ebenso erhebliche Einsparungen für den Landkreis und die Kommunen. Sie haben die Schulen, die Bildung, angesprochen. Hat Corona den Schulen sozusagen über Nacht die Digitalisierung beigebracht? Das ist rhetorisch überhöht. Der SchwarzwaldBaar-Kreis bemüht sich als Schulträger seit Jahren intensiv um die Digitalisierung. Wir hatten gleichfalls schon vor Jahren ein Pilotprojekt mit der Hochschule Furtwangen initiiert und abgeschlossen. Das heißt, wir haben unseren Masterplan, wie wir die Digitalisierung in die Schulen und in den Unterricht bringen. Natürlich hat Corona dazu geführt, dass sich in ganz kurzer Zeit eben alle mit diesem Thema auseinandersetzen mussten. Insofern war und ist Corona mit Sicherheit ein Treiber dieser Entwicklung. 16 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Gibt es ein Gefälle? Wie schaut es mit Schulen aus, die sich in kommunaler Trägerschaft befinden? Schwarz-Weiß-Bilder sind immer schwierig. Was ich sagen kann, ist, dass die Kreisschulen relativ gut vorbereitet waren. Es gibt auch Schulen in kommunaler Trägerschaft, die sehr gut aufgestellt sind. Richtig ist vielleicht, dass sich ein großer Schulträger bei diesem Thema einen Ticken einfacher tut. Es gibt einige Städte und Gemeinden, die es schwerer haben. Ich würde nicht sagen, dass beim Landkreis alle Probleme gelöst und bei den anderen Schulträgern alle Probleme noch da sind, das wäre ein Zerrbild. Die Bildung war und ist für Sie ein zentrales Anliegen. Sie haben mehrfach betont, wie wichtig es ist, dass Jugendliche und Kinder tatsächliche Chancengleichheit antreffen. Fürchten Sie, dass Corona bei diesem Bemühen eine große Bremse sein könnte? Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir Bildungschancen für alle anbieten. Wir haben in der Demografiestrategie formuliert, dass kein Kind verloren gehen darf. Das heißt, wir wollen gleiche Chancen – egal ob ein Kind in ein bildungsbürgerliches Haus hineingeboren wird oder nicht. In der Tat wollen wir als Schulträger versuchen, den Kindern eine Chance zu geben, die kein optimales Umfeld für ihr Lernen vorfinden. Das ist besonders im Rahmen der Digitalisierung wichtig: Alle Kinder müssen die Möglichkeit haben, mit Tablets oder Laptops arbeiten zu können. Wenn wir auf dem Gebiet der Bildung Spitze sein wollen, brauchen wir die besten Schulen. Unsere Kinder verdienen die größtmöglichen Chancen für Aufstieg und berufliches Fortkommen, für Erfüllung und Zufriedenheit. Aufstieg durch Bildung muss für alle möglich sein – ungeachtet der Nationalität und der sozialen Herkunft. junge Familien halten bzw. in den Landkreis holen können, dann steht neben den Bildungschancen und der Breitbandversorgung ein attraktiver Nahverkehr ebenfalls ganz oben auf der Liste … Er ist ein weiteres großes Thema unserer Daseinsvorsorge und Zukunft. Wir müssen uns neben dem „Ringzug 2.0“ besonders um die „letzte Meile“ kümmern. Der Kreistag hat sich mit diesen Themen beschäftigt, die sehr komplex sind, die weit in die Zukunft hinausschauen und enorme Investitionen nach sich ziehen. Vor Corona war es beim Nahverkehr insofern einfacher, weil wir stetigen Zuwachs hatten. Corona hat hier einiges verändert, wir werden sehen, wie sich die Zahlen pandemiebedingt entwickeln. Glauben Sie, dass der Schwarzwald-Baar-Kreis an Vorhaben wie „Ringzug 2.0“ mit Blick auf die finanziellen Folgen der Corona-Krise festhalten kann? Wenn wir über die Attraktivität von Lebensräumen sprechen, uns Gedanken machen, wie wir Derzeit weiß keiner, wie es mit den Kommunalfinanzen weitergeht. Die Wahrscheinlichkeit ist Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten! 17

 

 

 

Schauen wir in die Zeit vor Corona. Demografiestrategie, Bildung und Öffentlicher Nahverkehr sind bereits benannt. Was waren im Rückblick weitere Höhepunkte Ihrer ersten Amtszeit als Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises? Natürlich die Einweihung unseres neuen Klinikums in Villingen-Schwenningen im Sommer 2013. Mich hat es sehr gefreut, dass mein Amtsvorgänger Karl Heim an der feierlichen Eröffnung mit Ministerpräsident Kretschmann teilnehmen konnte. Er und viele weitere Helferinnen und Helfer waren es, die dieses Großprojekt auf den Weg gebracht haben. Es ist einem wahrscheinlich nur einmal im Leben vergönnt, ein derartiges Bauwerk einweihen zu dürfen. Der Schwarzwald-Baar-Kreis hat sechs Krankenhausstandorte auf zwei konzentriert. Über 280 Mio. Euro sind investiert worden. Gerade sehr groß, dass sie sich eintrüben. Mir scheint, dass der Kreistag nach wie vor den Ehrgeiz hat, den ÖPNV weiter zu stärken und auszubauen. Wenn wir über Infrastruktur und Zukunftsfähigkeit reden, ist es wichtig, dass der Schwarzwald-Baar-Kreis ein gutes Grundangebot vorweisen kann. Nun lässt sich diskutieren, was heißt ein gutes Grundangebot? Ist das der verlässliche Stundentakt, ist das mehr – ist es weniger? Wie sieht es an Wochenenden und in den Nachtstunden aus? Da ist natürlich vieles denkbar. In unserem Nahverkehrsplan formulieren wir diesbezüglich ehrgeizige Ziele. Ich hoffe, dass wir sie weiterhin umsetzen können, am politischen Willen liegt es sicherlich nicht. Zumal ein gut ausgebauter Nahverkehr einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann, der für uns im Schwarzwald-Baar-Kreis schon lange eine wichtige Rolle spielt. Ich freue mich auf die Arbeit unserer Klimaschutzmanagerin und dann auch auf den Zertifizierungsprozess hin zum European Energy Award. auch in Corona-Zeiten haben wir beweisen können, dass unser Klinikum mit zwei Standorten höchste medizinische Kompetenz vorhalten kann. Doch nicht nur die ganz großen Punkte zählen. Mich persönlich hat es sehr gefreut, dass wir den Landschaftserhaltungsverband Schwarzwald-Baar gründen konnten. Der eingetragene Verein bemüht sich um die Pflege unserer Kulturlandschaft. Und ebenso erfreulich ist die Umsetzung des Naturschutzgroßprojektes Baar. Hier sind wir aus der Planungsund Projektphase in die Umsetzungsphase eingetreten. Ungeklärt bleibt indes das Thema Flughafen Zürich, also unsere Belastungen durch das Anflugverfahren auf Zürich. Hier sind wir bis heute nicht wirklich vorangekommen. Zum Thema Infrastruktur will ich noch anmerken, dass wir jetzt endlich bei unseren Bundesstraßenprojekten sichtbare Fortschritte benötigen. Konkret also beim Lückenschluss der B 523. Und gleiches gilt für die Ortsum18 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Im Austausch mit den Bürger*innen und Kommunalpolitikern*innen erfahre ich, was die Menschen vor Ort bewegt. Ich verstehe mich als Anwalt des Schwarzwald-BaarKreises. Kontakt zu sein. Im Austausch mit den Bürger*innen und Kommunalpolitikern*innen erfahre ich, was die Menschen vor Ort bewegt. Ich verstehe mich als Anwalt des Schwarzwald-Baar-Kreises. Das erfüllt mich mit großer Zufriedenheit und gibt mir sehr viel. fahrungen in Blumberg-Zollhaus und Blumberg-Randen. All diese Vorhaben sind im Bundesverkehrs wegeplan enthalten – jetzt aber muss die Umsetzung kommen. Herr Hinterseh: Mit ganzem Herzen Landrat, was fasziniert Sie an diesem Beruf? Die Kombination: Landrat sein bedeutet, eine große Verwaltung mit über 1.000 Mitarbeiter*innen zu führen, Politik zu gestalten und gleichzeitig mit der Bürgerschaft in ständigem Wie begegnen Ihnen die Menschen, welche Wünsche werden an Sie herangetragen? Fast ausnahmslos sind die Begegnungen positiv. Diesen September beispielsweise fand das jährliche Almanach-Abendessen statt. Beim Almanach-Preisrätsel wird als 3. Preis stets ein Abendessen mit dem Landrat ausgelobt. Am Anfang habe ich gedacht, um Gottes willen, wer will mit dem Landrat essen gehen? Ist das ein Preis, der die Leute auch freut? Und in der Tat, diese Art Blind Date ist ausnahmslos angenehm. Sie begegnen völlig unterschiedlichen Menschen: Da gab es die ältere Dame, der im Leben Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten! 19

 

 

 

Das Spektrum reicht vom Rentenbescheid über den Nachbarschaftsstreit bis hin zu Problemen im Zusammenhang mit einem Bauantrag. Vielen Menschen ist es zu allererst wichtig, dass man ihnen zuhört. Sie fühlen sich oft nicht richtig verstanden. Wenn man ihnen persönlich darlegen kann, was hinter manchen Entscheidungen steht, können sie die Dinge besser nachvollziehen. Ab und zu gelingt es so auch, etwaige Einsprüche oder Auseinandersetzungen beizulegen und die Situation zu befrieden. Herr Hinterseh, acht Jahre Landrat im Schwarzwald-Baar-Kreis. Sind Ihnen die Baar und der Schwarzwald bereits zur Heimat geworden? Der Schwarzwald-Baar-Kreis ist ganz klar Heimat für unsere Familie. Ich bin im Kaiserstuhl aufgewachsen und immer wieder gerne dort zu Besuch, aber Heimat und Lebensmittelpunkt ist für mich der Schwarzwald-Baar-Kreis geworden. Unsere Familie fühlt sich hier ausgesprochen wohl. Gibt es so etwas wie liebste Plätze? Lebensmittelpunkt unserer Familie ist unser Häusle in Pfaffenweiler – und das ist ein lieber Platz für uns. Aber natürlich, da gibt es auch andere Eindrücke. Was mich immer wieder neu begeistert ist der Blick von Fürstenberg aus auf die Baar. Oder wenn ich von Schönwald nach Unterkirnach unterwegs bin, der Augenblick, wenn sich der Blick nach Villingen und auf die Schwäbische Alb auftut. Das sind Momente, die mir das Gefühl vermitteln, dass ich nach Hause fahre. Aber ich bin ebenso gerne am Rohrhardsberg bei Schonach, im Glasbachtal bei Königsfeld, am Neckarursprung oder in Hüfingen. Es gibt im Schwarzwald-Baar-Kreis viele schöne Plätze. Auch das ist reizvoll an meinem Amt, dass man viel im Landkreis herumkommt, ihn auf diese Weise besonders schätzen und lieben lernt. nichts geschenkt wurde, die immer Aushilfstätigkeiten ausübte und die Sorge hatte, dass sie ihre Kinder nicht durchbekommt. Und ebenso den Unternehmer aus dem Nachbarlandkreis, ein auch soziologisch breites Spektrum somit. Immer war es nett, weil man leicht ins Gespräch kam und sich über die unterschiedlichsten Dinge unterhalten konnte. Ich bin einfach gespannt, was die Leute so erzählen, was sie umtreibt im Leben, wie ihre Lebenswirklichkeit ausschaut. Natürlich kommen immer auch Berührungspunkte zum Landratsamt zur Sprache, positive, negative, neutrale. Aber vor allem geht es den Leuten darum, zu erzählen, wie sie Heimat erleben, was sie so emotional umtreibt. Das ist für mich immer ein sehr schöner Abend. Und wie schaut es mit den Anliegen aus, die im Rahmen Ihrer Sprechstunde an Sie herangetragen werden? Sie sprechen damit zugleich den großen Themenkreis Naturund Kulturlandschaft an … 20 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Der Schwarzwald und die Baar sind einzigartig. Ich begrüße es, dass wir in Baden-Württemberg schon länger versuchen, die Felder Landwirtschaft, Naturschutz und Tourismus noch besser zu verzahnen. Für den Schwarzwald-Baar-Kreis gilt: Über 42 Prozent der Fläche werden von 1.200 bäuerlichen Familienbetrieben bewirtschaftet. Hinzu kommen bedeutende Waldund Naturschutzflächen, sodass dieses verzahnte Miteinander zwingend geboten ist. Unsere Naturund Kulturlandschaft bildet zugleich die Grundlage für einen florierenden Tourismus. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung? Unser aller Aktivitäten im Tourismus wären wertlos, hätten wir nicht diese Naturund Kulturlandschaft. Die Naturvielfalt auf relativ engem Raum ist in ihrer Fülle herausragend und so anderswo im Land kaum vorhanden. Das Geschaffene im Tourismus ist von großer struktureller Bedeutung – alle Projekte dienen unserer Profilschärfung. Wir haben sehr viel gemacht, beispielsweise in meiner ersten Amtszeit die Tourismus-Konzeption erstellt, die wir jetzt umsetzen. Wir haben das Radund Wanderparadies weiterentwickelt, vor allem unseren neuen Premiumfernwanderweg WasserWeltenSteig von Triberg nach Schaffhausen grenzüberschreitend umsetzen können, der sehr gut angenommen wird. Und ein weiteres Highlight wird die DreiWeltenCard „Schwarzwald.Rheinfall.Bodensee“ sein. Gemeinsam mit dem Landkreis Waldshut und dem Kanton Schaffhausen bringen wir in Abstimmung mit dem Landkreis Konstanz eine Gästekarte auf den Markt, die Touristen über 100 Attraktionen kostenfrei zur Verfügung stellt. Kurz-Vita Sven Hinterseh wurde am 21. Januar 1972 in Freiburg im Breisgau geboren und wuchs in Oberrotweil, einem Ortsteil der Stadt Vogtsburg im Kaiserstuhl, in einem Weinund Obstbaubetrieb auf. Nach einer Berufsausbildung zum Industriekaufmann legte er das Abitur in Baden-Baden ab und leistete seinen Zivildienst in einem Altenund Pflegeheim in Freiburg im Breisgau. Auf das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Konstanz (Erstes Juristisches Staatsexamen) und Rechtsreferendariat am Landgericht Konstanz, das er mit dem Zweiten Juristischen Staatsexamen beendete, folgte ein Postgraduiertenstudium der Verwaltungswissenschaften an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Dort schloss Sven Hinterseh im Jahr 2001 mit dem Magister der Verwaltungswissenschaften (Mag.rer.publ.) ab. Seine beruflichen Stationen führten Sven Hinterseh vom Landgericht Konstanz, wo er als Referendar tätig war, über das Landratsamt Schwarzwald-Baar-Kreis, als Landesbeamter in der Funktion des Rechtsund Ordnungsdezernenten in den Jahren 2001 bis 2003, in die Vertretung des Landes Baden-Württemberg beim Bund, Berlin. In den Jahren 2003 bis 2005, unter anderem zuständig für die Föderalismusreform. In den Jahren 2005 bis 2010 war er als Persönlicher Referent des damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Kauder MdB, tätig. Danach führte ihn sein Weg im Jahr 2010 wieder zurück nach Baden-Württemberg, als Leiter der Grundsatzabteilung im Staatsministerium, der Staatskanzlei des Ministerpräsidenten, in Stuttgart. Von Mai 2011 bis Mai 2012 war Sven Hinterseh als Ministerialdirigent Leiter der Abteilung Naturschutz und Tourismus unter dem damaligen Minister Alexander Bonde. Am 26. März 2012 wurde Sven Hinterseh zum Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises gewählt. Bei seiner Wiederwahl am 16. März 2020 erhielt er 52 von 52 Stimmen und wurde somit einstimmig gewählt. Sven Hinterseh ist römisch-katholisch, verheiratet, hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Pfaffenweiler, einem Ortsteil von Villingen-Schwenningen. Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten! 21 21

 

 

 

Ja, ein Landkreis kann konjunkturelle Impulse geben. Deswegen werbe ich bei der Haushaltsstrukturkommission des Kreistages dafür, dass wir unsere Ausgaben nicht auf Null herunterfahren, sondern ganz gezielt auch Investitionen in Zukunftsbereiche tätigen. Insoweit, ja, ein Landkreis kann Impulse geben. Deswegen werbe ich bei der Haushaltsstrukturkommission dafür, dass wir unsere Ausgaben nicht auf Null herunterfahren, sondern ganz gezielt auch Investitionen in Zukunftsbereiche tätigen. Und so einen Beitrag leisten, dass unsere Wirtschaft stark bleiben kann. In kleinem Maße gilt das natürlich auch für andere Bereiche. Etwa für Werbeagenturen oder Künstler, aber eben nur eingeschränkt. Die Pandemie und ihre finanziellen Folgen: Wie geht die Kreis politik mit der aktuellen Situation um? In diesen Krisenzeiten hat man die Aufgabe, einiges zu hinterfragen. Das bedeutet nicht, dass das eine nicht mehr so wichtig ist, aber man muss jetzt wirklich Prioritäten setzen. Da können selbst Dinge, die in der Vergangenheit gut waren, neu diskutiert werden. Das finde ich legitim und es kostet Kraft – aber dieser Situation müssen wir uns jetzt stellen. Kann ein Landkreis mit Blick auf die vielfach angeschlagene Wirtschaft auch Konjunkturimpulse setzen? Und wie kann man sich das vorstellen? In beschränktem Maße schon, aber keinesfalls im Stil des Bundes. Wir versuchen, wo immer möglich, mit regionalen Partnern zusammenzuarbeiten. Das tun wir bereits seit vielen Jahren. Ein gutes Beispiel sind unsere hohen Investitionen im Schulbereich, da kommen ausnahmslos regionale Partner zum Zug. Und nichts anderes gilt beim Aufbau des kommunalen Glasfasernetzes. Ich war diesbezüglich in der letzten Woche im Achdorfer Tal, sämtliche Arbeiten hat dort ein Tiefbauunternehmen aus dem Landkreis umgesetzt. Das führt dazu, dass hier in der Region Arbeitsplätze entstehen und dass sie auch gehalten werden können. Weiter sanieren wir gegenwärtig das frühere Postgebäude beim Bahnhof in VS-Villingen. Und dort ist es ebenfalls so, dass die Arbeit überwiegend von Firmen geleistet wird, die in der Region ansässig sind. Die Abhängigkeit unserer Industrie vom Automotive-Sektor ist groß. Die E-Mobilität und nun auch Corona trüben die Aussichten ein. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr? Meine Wahrnehmung ist die, dass sich viele mittelständische Unternehmen bereits seit Jahren zukunftsorientiert ausrichten. Richtig ist aber, dass viele Technologien nur im Verbrennungsmotor zu Hause sind und man nicht einfach einen Schalter umlegen und sagen kann: Bis jetzt habe ich Technologien für Verbrenner gemacht, nun stelle ich auf E-Autos um! Etliche Komponenten, die sich in einem Automobil mit Verbrennungsmotor befinden, werden auch in Fahrzeugen mit elektrischem Antrieb benötigt. Aber dennoch: Dieser Transformationsprozess wird sicher schmerzhaft werden. Und unter Umständen könnte das eine oder andere Unternehmen sogar auf der Strecke bleiben. Würden Sie da einen Vergleich zum Niedergang der Uhrenindustrie ziehen? Ich wäre da etwas vorsichtig. Ich persönlich hoffe und wünsche natürlich, dass dieser Technologiewechsel nicht die Auswirkungen hat, wie sie beim Niedergang der Uhrenoder Unterhaltungsindustrie zu beobachten waren. Ich hoffe vielmehr und glaube daran, dass uns dieser Transformationsprozess besser gelingt. Corona gibt uns bereits jetzt einen Vorgeschmack darauf, was mehr Arbeitslosigkeit für unser 22 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Sozialwesen bedeutet. Wie entwickelt sich aktuell der Sozialbereich? Einerseits verringern sich unsere Steuereinnahmen, andererseits steigen die Sozialausgaben. Das ist ein klassisches Dilemma. Wir sehen jetzt schon, dass die Sozialausgaben steigen. Die Arbeitslosigkeit hat sich im Vergleich zum Sommer 2019 verdoppelt. Wir sind auf einem Niveau, das nicht vergleichbar ist – und hoffentlich kommen wir da nicht hin – wie es beim Niedergang der Uhrenindustrie war. Insoweit muss man die Dinge auch richtig einordnen. Aber wir sehen, dass die Zahlen ansteigen. Es gibt eben leider schon Bürgerinnen und Bürger, die aus der Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit gekommen sind. Zu den Schwerpunkten meiner zweiten Amtszeit zähle ich ebenso die Weiterentwicklung im ÖPNV inklusive Ringzug in Richtung St. Georgen. Ich bin dankbar, dass wir jetzt umsteigefrei nach Freiburg kommen. Das gleiche Angebot benötigen wir dringend in Richtung Stuttgart. Blicken wir in die kreispolitische Zukunft: Welche Schwerpunkte sehen Sie in Ihrer zweiten Amtszeit? Das Begonnene muss in allen Bereichen fortgesetzt werden. Die Verbesserung unserer digitalen Infrastruktur bleibt noch über Jahre hinweg ein Arbeitsschwerpunkt. Ich werde mich vor allen Dingen auch im Landratsamt um das Thema digitale Arbeitsprozesse intensiver kümmern. Es klingt jetzt nicht sonderlich spannend für unsere Leser*innen, für mich aber ist es ein wichtiges Feld, dass wir uns als Behörde mit über 1.000 Mitarbeiter*innen weiterentwickeln. Die digitale Transformation, die wir vorher im Zusammenhang mit den Schulen besprochen haben, wurde in der Kreisverwaltung bereits vielfach praktiziert. Wir haben allein während Corona über 160 weitere Homeoffice-Arbeitsplätze geschaffen. Das ist jedoch nicht in allen Bereichen möglich: Wir haben unsere Straßenwärter*innen, unsere Forstmitarbeiter*innen, die Vermesser*innen etc. Am Schluss unseres Gespräches – was würden Sie gerne unterstreichen? Landrat im Schwarzwald-Baar-Kreis zu sein, ist eine herausragende Gestaltungsaufgabe, der ich mich mit meiner Qualifikation, meiner beruflichen Erfahrung auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene, vor allem aber mit Herzblut, weiterhin stelle. Es ist mir Ehre und Verpflichtung, meinen Beitrag für einen starken, sozialen und lebenswerten sowie chancenreichen und innovativen Schwarzwald-Baar-Kreis zu leisten. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass wir eine Zukunftsregion „Nummer 1“ werden. Lassen Sie uns zusammen das Beste geben, dass wir die große und krisenhafte Herausforderung Corona meistern. Wir müssen als Gesellschaft in dieser schweren Zeit zusammenstehen und uns miteinander solidarisieren. Das Gespräch führte Wilfried Dold Landrat Sven Hinterseh – Mutig unsere Zukunft gestalten! 23

 

 

 

Joachim Gwinner Sich stets als Anwalt der Bürger verstanden Der Erste Landesbeamte und Stellvertretende Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises in den Ruhestand verabschiedet Sein Beruf war ihm Berufung: Joachim Gwinner wirkte in der Position als Erster Landesbeamter und Stellvertretender Landrat des SchwarzwaldBaar-Kreises mit Leidenschaft. Ihn begeisterte die damit verbundene Gestaltungsfreiheit, die sämtliche Aufgabenbereiche einer Kreisverwaltung umfasst. Seine Lust am politischen Mitwirken drückte sich über 45 Berufsjahre hinweg in einer Vielzahl von Initiativen aus, die von der Beteiligung an einer Gesetzesnovelle zum Datenschutz sowie der Umsetzung komplexer Bauund Verwaltungsprojekte, über den Hochwasserschutz oder Sozialplanungen, bis hin zum Naturund Umweltschutz und Tourismus reichten. Landrat Sven Hinterseh bescheinigte seinem Stellvertreter am 27. Juli 2020 bei der Verabschiedung in den Ruhestand, eine in allen Belangen herausragende Bilanz. Joachim Gwinner unterstrich sein Bemühen, für die Bürgerinnen und Bürger im Schwarzwald-Baar-Kreis stets das Beste herauszuholen, er habe sich als ihr Anwalt verstanden. Ein Erster Landesbeamter fungiert in BadenWürttemberg als Stellvertreter des Land rates. In dieser Funktion vertritt er als staatlicher Beamter des Landes den kommunalen Landrat in dessen Doppelfunktion: als Leiter der kommunalen Kreisbehörde und als Chef der staatlichen unteren Verwaltungsbehörde. Eine in dieser Form einmalige Konstellation, die es so nur in Baden-Württemberg gibt. Die Verabschiedung von Joachim Gwinner fand unter anderen Bedingungen statt wie ursprünglich geplant. Landrat Sven Hinterseh bedauerte bei der Überreichung der Entlassungsurkunde: „Eigentlich wollten wir Sie mit einem großen Festakt im Beisein Ihrer langjährigen Wegbegleiter, der regionalen und überregionalen politischen Vertreter und der Kollegen aus dem Landratsamt gebührend verabschieden – doch Corona macht uns leider einen Strich durch die Rechnung und das bedauere ich zutiefst!“. 34 Jahre lang für den Landkreis tätig Für den Schwarzwald-Baar-Kreis war Joachim Gwinner 34 Jahre lang tätig, davon knapp 24 Jahre als Erster Landesbeamter. Seine beruf-

 

 

 

Joachim Gwinner, Erster Landesbeamter und Stellvertretender Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises, wurde im Juli 2020 in den Ruhestand verabschiedet. 25

 

 

 

liche Laufbahn beginnt 1975: Auf den zweijährigen Wehrdienst folgt das Jura-Studium an der Universität Tübingen. 1980 legt er die Erste Juristische Staatsprüfung ab – 1983 folgte die Zweite. Bereits seine erste berufliche Station führt Joachim Gwinner in den Schwarzwald-BaarKreis: Am 1. März 1983 übernimmt er als junger Assessor die Leitung des Rechts amtes des Landratsamtes, später die Leitung des Ordnungsdezernats. Im Verlauf dieser ersten drei Jahre in der Kreisverwaltung erwächst eine enge Verbindung zu Landrat Dr. Rainer Gutknecht, von Haus aus gleichfalls Jurist. In der Rückschau bezeichnet ihn Joachim Gwinner als seinen Mentor. Bei ihm lernte er von der Pike auf, wie eine moderne Verwaltung funktioniert. Noch gut in Erinnerung sind ihm seine ersten Aufträge, die er von Dr. Gutknecht erhalten hat: Ein juristisches Gutachten zur Frage des Veröffentlichungsrechts der Kunstwerke von Klaus Ringwald im Almanach sowie zu den Haftungsund Handlungsmöglichkeiten beim damals noch „neuen“ Waldsterben. Es folgt 1986 der Wechsel an das Verwaltungsgericht Sigmaringen als Verwaltungsrichter. Und hier stellt sich für Joachim Gwinner nach knapp zweijähriger Tätigkeit als Richter – auch in Anbetracht der Antragsflut zur umstrittenen Volkszählung – die große Frage: Willst du das wirklich dein Leben lang machen? Er entschließt sich für eine Rückkehr in die Landesverwaltung und damit gegen eine weitere Tätigkeit als Richter. Der Jurist wechselt 1988 ins Innenministerium des Landes Baden-Württemberg. Dort wendet er sich dem damals in den Kinderschuhen steckenden und für ihn spannenden Aufgabenbereich des Datenschutzes zu. Es bietet sich ihm die Möglichkeit, die Grundzüge des Datenschutzes innerhalb der Landesverwaltung mitzugestalten und weiter an einer Novelle des Datenschutzgesetzes mitzuwirken. „Das Spektrum dieses Tätigkeitsfeldes war äußerst breit angelegt, denn gleich, welche Themen es in einer Landesverwaltung gibt, der Datenschutz spielt immer hinein“, unterstreicht Joachim Gwinner. Für Joachim Gwinner öffnet sich in seiner Funktion als Leiter des Sozialdezernates der Blick in eine andere Welt. Der Sozialbereich erfährt zu dieser Zeit einen großen Wandel. Neben der Altenhilfeplanung wird das Programm „Arbeit statt Sozialhilfe“ beschlossen. Rückkehr in den Schwarzwald-Baar-Kreis Ein Hilferuf von Landrat Dr. Rainer Gutknecht veranlasst Joachim Gwinner 1989 in den Schwarzwald-Baar-Kreis zurückzukehren. Dort ist seine Unterstützung bei der Neustrukturierung des Sozial amtes gefordert: Ihm wird im Mai 1989 die Leitung des Dezernats III, des Sozialdezernats übertragen. Ein für ihn vollständig neuer Bereich, den dazu erforderlichen „Unterbau“ erarbeitet er sich in kurzer Zeit. Allerdings mit „Startschwierigkeiten“: Zu den Aufgaben gehört – damals noch Neuland und für einen Juristen ohnehin – die Erarbeitung einer Altenhilfeplanung. Bei der Vorstellung der Konzeption im Kreistag hagelt es vonseiten der späteren SPD-Bundestagsabgeordneten und gelernten Altenpflegerin Christa Lörcher förmlich Kritik … Dennoch wird die Planung mit großer Mehrheit verabschiedet. Joachim Gwinner und Christa Lörcher verbindet in der Folge ein gutes und herzliches Miteinander. Auch das zeichnet den Ersten Landesbeamten und Stellvertretenden Landrat stets aus: Bei aller Zielstrebigkeit, wo immer möglich in der Sache mit anderen zusammenzuwirken und dabei das Miteinander zu pflegen, den Menschen zu sehen. Für Joachim Gwinner öffnet sich in seiner Funktion als Leiter des Sozialdezernates der Blick in eine andere Welt, wie er es formuliert. Der Sozialbereich erfährt zu dieser Zeit einen großen Wandel. Neben der Altenhilfeplanung wird das Programm „Arbeit statt Sozialhilfe“ beschlossen: 26 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Joachim Gwinner (rechts) zusammen mit den drei Landräten Dr. Rainer Gutknecht, Karl Heim und Sven Hinterseh (v. rechts). Das Foto entstand aus Anlass des 85. Geburtstages von Landrat Gutknecht. In der Amtszeit von Dr. Gutknecht hat Joachim Gwinner 1983 seine Tätigkeit im Landkreis begonnen. Acht Monate nach Amtsantritt von Karl Heim wurde er 1997 zum Ersten Landesbeamten und Stellvertretenden Landrat ernannt. Erster Landesbeamter Joachim Gwinner verabschiedet 27

 

 

 

Arbeitgeber können bei Einstellung eines Arbeitslosen staatliche Zuschüsse erhalten. Der Beginn der Jugendhilfeplanung fällt gleichfalls in seine acht Jahre dauernde Tätigkeit. Ernennung zum Ersten Landesbeamten Als 1996 der Erste Landesbeamte Friedemann Kühner in den Ruhestand wechselt, ist es der gemeinsame Wunsch des damals frisch gewählten Landrats Karl Heim und seines Vorgängers Dr. Rainer Gutknecht, dass ihm Joachim Gwinner nachfolgt. Doch braucht es ausgezeichnete Verbindungen ins Innenministerium, um diese Personalie zu realisieren: Die Ernennung eines Ersten Landesbeamten erfolgt nicht durch den Schwarzwald-Baar-Kreis, sondern durch das Land Baden-Württemberg. Und sie hat immer auch eine politische Komponente: Der gute Draht von Landrat Dr. Gutknecht ins Innenministerium und der massive Einsatz seines Nachfolgers Karl Heim bewirken dann dennoch zum 1. Februar 1997 die Ernennung des parteilosen Joachim Gwinner. Er wird Kraft seines Amtes zugleich der Stellvertreter des Landrates. „Herausfordernde und zugleich schöne Zeit“ „Es folgten 23 wunderbare Jahre, es war eine herausfordernde, an Aufgaben und Verpflichtungen reiche und zugleich schöne Zeit“, bilanziert der studierte Jurist am Beginn seines Ruhestandes. Landrat Sven Hinterseh benannte bei der Verabschiedung im Rahmen einer Kreistagssitzung am 27. Juli 2020 einige wesentliche Wegpunkte dieser Tätigkeit: Joachim Gwinner habe 2005 bei der großen Verwaltungsreform wichtige Impulse zur heutigen Organisationsstruktur des Landratsamtes gegeben. Ebenso in der Abfallwirtschaft vieles bewegt, beispielsweise wurde 1998 die Biotonne eingeführt. Richtungsweisend seien zudem die Vertragsverhandlungen im Rahmen der Restmüllverbrennung in den Jahren 1998 bis 2003 gewesen. Diese führten zur Schließung der Kreismülldeponien in Tuningen und Hüfingen. Der Eigenbetrieb „Abfallwirtschaft Schwarzwald-Baar“ löste sich in der Folge auf und wurde als Regiebetrieb Als 1996 der Erste Landesbeamter Friedemann Kühner in den Ruhestand wechselte, war es der gemeinsame Wunsch von Landrat Dr. Rainer Gutknecht und seines frisch gewählten Nachfolgers Karl Heim, dass ihm Joachim Gwinner nachfolgt. in der Struktur des Landratsamtes weitergeführt sowie die Untere Abfallbehörde in das Amt für Abfallwirtschaft eingegliedert (2000). Im Bereich des Wasserund Bodenschutzes und beim Umweltschutz standen neben der Nutzbarmachung des Kienzle-Areals in Schwenningen die Altlasten sanierung des Schwenninger Güterbahnhofs im Zuge der Vorarbeiten für die Landesgartenschau 2010 und die Reaktivierung und Sanierung des Baudenkmals Linachtalsperre im Mittelpunkt. Ebenso war der Bau des 2012 in Betrieb genommenen Hochwasserrückhaltebeckens in Wolterdingen ein Höhepunkt im Berufsleben von Joachim Gwinner. Wie wichtig ein zeitgemäßer Hochwasserschutz ist, erfährt er beim Jahrhundert-Hochwasser im Jahr 1990. Wegen der zufällig gleichzeitigen Abwesenheit von Landrat Dr. Gutknecht und des damaligen Ersten Landes beamten war es der Sozialdezernent und Reserveoffizier Joachim Gwinner, der im Februar 1990 im Schwarzwald-Baar-Kreis den Hoch wasser-Kata strophen fall auszurufen hatte. Im Rahmen seiner persönlichen Rückschau streift Joachim Gwinner zudem ein eigentlich „großes“ Thema, das einem in heutiger Zeit geradezu „profan“ erscheint: Die Genehmigung von Vesperstuben im Außenbereich als dringend benötigte Komponente der Tourismusentwicklung in der gesamten Region. Dank seines Einsatzes wurde es möglich, dass in Außenbereichen trotz baurechtlicher Restriktionen sowie Landschaftsund Denkmalschutz-Bedenken für Wanderer und Biker meist zugleich originelle Vesperstuben er

 

 

 

Joachim Gwinner (vierter v. links) bei der Dezernentenrunde mit Landrat Dr. Gutnecht (rechts) und weiteren Amtsleitern, 1985. Unten links: 10 Jahre Naturparkmarkt in Königsfeld, Joachim Gwinner (rechts) beim Tortenanschnitt mit Bürgermeister Fritz Link (zweiter v. links). Unten rechts: Besprechung im Landratsamt mit Bruno Mössner, Leiter des Wasserwirtschaftsamtes, und Landrat Karl Heim. Erster Landesbeamter Joachim Gwinner verabschiedet 29

 

 

 

öffnen konnten. Einkehrmöglichkeiten, auf die heute keiner mehr verzichten möchte. „Damit zwei, drei Generationen Atomstrom nützen können…“ Aber auch die Windkraft beschäftigt den Ersten Landesbeamten – zumal mit Blick auf die Welt, die wir zukünftigen Generationen hinterlassen. Beispielsweise seiner Enkeltochter Kimia, der Tochter seines Sohnes Michael mit Ehefrau Saghar, die in New York leben. Er Physiker, sie Chemikerin aus dem Iran stammend. Über 20 Jahre hinweg hatte sich Joachim Gwinner von Amts wegen mit der Atommüll-Endlagerstätte der Schweiz zu befassen. Eine bekanntlich bis heute nicht gelöste Aufgabe, da die Entscheidung der Schweizer weiter aussteht. Joachim Gwinner: „Diese Stätte soll die sichere Unterbringung des Atommülls für eine Million Jahre garantieren. Diesen Aufwand treiben wir, damit zwei oder drei Generationen der Menschheit den Atomstrom nutzen können.“ Und er fragt sich mit Blick auf die radioaktiven Abfälle: „Eine Million Jahre Lagersicherheit, wie will man die überhaupt garantieren?“ Folglich zeigt sich der Erste Landesbeamte für regenerative Strom erzeugung sehr offen – zumal mit Hilfe von Windkraft. In kürzester Zeit lagen dem Landratsamt über 60 Anträge zum Bau von Windkraftanlagen vor, denen Joachim Gwinner überwiegend positiv gegenüberstand, was ihm nicht wenige Anfeindungen einbrachte. Seither sind Widersprüche und Gerichtsverfahren in Sachen Windkraft beim Regierungspräsidium und den Verwaltungsgerichten keine Seltenheit. Seit vielen Jahren beschäftigten ihn ebenso die Fluglärmbelastungen durch die Anflüge auf den Züricher Flughafen. „Ganze zwei Jahrzehnte kämpften wir bislang vergebens darum, eine unverhältnismäßig große Flugverkehrsbelastung hier in unserer Region abzuwenden“, so der erfahrene Jurist und Verwaltungsexperte. Wenn ein Erster Landesbeamter sein Tagwerk mit derart großer Schaffenskraft bewältigt, bleiben Rufe von außen, sich in anderen Landkreisen als Landrat zu bewerben oder bei „Ihre Bilanz ist über stolze 45 Berufsjahre hinweg hervorragend“, bescheinigte Landrat Sven Hinterseh dem neuen Ruheständler. „Sie waren eine außerordentlich große und verlässliche Stütze.“ einer Bürgermeisterwahl anzutreten, nicht aus. Einmal hat Joachim Gwinner diesen Ruf gehört und sich als Landrat im Landkreis Rottweil beworben. Und dabei erlebt, wie wankelmütig es in der Politik zugehen kann, dass angesagte Unterstützung aus parteipolitischen Erwägungen heraus über Nacht verloren gehen kann. „Sie waren ein kompetenter Berater und eine verlässliche Stütze“ Im Rahmen der Verabschiedung von Joachim Gwinner in Juli 2020 betonte Landrat Sven Hinterseh vor dem Kreistag, er lasse den Ersten Landesbeamten nur ungern ziehen. Es sei enorm, was dieser gemeinsam mit Landrat a. D. Karl Heim bis 2012 und dann zusammen mit ihm – Landrat Sven Hinterseh – in den vergangenen acht Jahren umgesetzt habe. „Ihre Bilanz ist über stolze 45 Berufsjahre hinweg hervorragend“, bescheinigte Landrat Sven Hinterseh dem neuen Ruheständler. „Sie waren Landrat Karl Heim und mir stets eine außerordentlich große und verlässliche Stütze, ein kompetenter Berater und ein loyaler Verbündeter, den man bei schwierigen Entscheidungen gerne zu Rate zog, und auf dessen juristisches Fachwissen und Urteilsvermögen man sich immer zu einhundert Prozent verlassen konnte. Trotzdem ließen Sie aber auch nie das Menschliche vermissen. Und man ist bei Ihnen bei beinahe allen Themen immer auf viel Verständnis und offene Ohren gestoßen“, würdigte Landrat Sven Hinterseh die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Joachim Gwinner sei stets eine starke Führungspersönlichkeit gewesen, die durch strate

 

 

 

Der frühere Landrat Karl Heim (von links) und Landrat Sven Hinterseh bei der Verabschiedung des langjährigen Ersten Landesbeamten Joachim Gwinner in den Ruhestand, rechts Ehefrau Jutta Gwinner. gisches Denken, klare Analyse und logisches, pragmatisches Handeln bestach – die Wertschätzung und der Respekt vor den Leistungen der einzelnen Mitarbeiter sei dabei nie zu kurz gekommen. Zudem habe er stets eine praxisnahe Vorgehensweise, Kompromissbereitschaft beim Verhandeln, Weitblick und eine ganz besondere Zielstrebigkeit aufgewiesen. Joachim Gwinner hinterlasse eine riesige Lücke, aber auch ein geordnetes und wohlbestelltes Haus. Im Anschluss an seine Rede händigte Sven Hinterseh Joachim Gwinner im Auftrag von Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Versetzungsurkunde in den Ruhestand aus. Als Abschiedsgeschenk überreichte der Landrat eine Tischuhr aus den Uhrmacher-Werkstätten der Robert-Gerwig-Schule Furtwangen, die ihn stets an seine Zeit im Landratsamt erinnern soll. Zudem erhielt Joachim Gwinner einige Erinnerungen persönlicher Art in Form eines Fotobuchs. „34 Jahre lang den Ball im Spiel gehalten“ Auf einmal war sie da, die gesetzliche Altersgrenze, die Zeit, in der die Dienstunfähigkeit eines Beamten erreicht ist“, scherzte Joachim Gwinner im Anschluss. Er habe für den Schwarzwald-Baar-Kreis 34 Jahre lang den Ball im Spiel gehalten, den einen oder anderen Treffer erzielt, aber sicher auch das eine oder andere Foul verursacht“, blickt er bescheiden zurück. Einmal Jurist – immer Jurist. An der Universität Tübingen wird Joachim Gwinner weiterhin als Prüfer bei der Ablegung der Juristischen Staatsprüfung fungieren. Wenn es die Verhältnisse wieder zulassen, kann er sich ebenso gut vorstellen, sich an der Uni als Gasthörer für Geschichte einzutragen. Und er wünscht sich für die Zeit nach Corona gemeinsam mit seiner Ehefrau Jutta die Möglichkeit zu reisen. Wie erwähnt lebt der Sohn mit Familie in New York. Eine seiner Reisen wird eine längere Tour mit dem E-Bike durch den Schwarzwald-Baar-Kreis sein. Die Kollegen schenkten ihm zum Abschied Gutscheine für verschiedene Gaststätten und Vesperstuben entlang der Tour. Auch wenn Joachim Gwinner sein gesamtes Berufsleben lang in Balingen wohnte, seine eigentliche Heimat war und bleibt der Schwarzwald-Baar-Kreis. Wilfried Dold Erster Landesbeamter Joachim Gwinner verabschiedet

 

 

 

32 Aus dem Kreisgeschehen Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

Professor Dr. Ulrich Fink Medizinische Versorgung im Landkreis gebündelt Der ehemalige Ärztliche Direktor des Schwarzwald-Baar Klinikums blickt zurück von Hans-Jürgen Eisenmann Prof. Dr. Ulrich Fink führte am Schwarzwald-Baar Klinikum die Radiologie ins Zeitalter der Digitalisierung und beteiligte sich ebenso maßgeblich an der Planung des Zentralklinikums, das 2013 in Betrieb ging. 24 Jahre lang wirkte er am Klinikum als Radiologe in leitender Position, seit 2004 als Ärztlicher Direktor. Im März 2020 wechselte Prof. Dr. Ulrich Fink nach 41 Berufsjahren in den Ruhestand. „Eine Feier zur Verabschiedung wäre angemessen gewesen, kann aber wegen der CoronaAuflagen nicht stattfinden“, bedauert Geschäftsführer Dr. Matthias Geiser. Er hebt hervor: Prof. Dr. Fink habe aus den drei früheren Radiologie-Abteilungen Villingen, Schwenningen und Donaueschingen eine Einheit geformt, dem Klinikum bundesweit zu einer Ausnahmestellung verholfen. Kaum ein anderes Haus habe so früh damit begonnen, die Radiologie vollständig zu digitalisieren. Professor Dr. Ulrich Fink

 

 

 

Es soll Fachärzte geben, die zu Hause nicht einmal den blutenden Finger ihrer kleinen Tochter versorgen können. Zu denen darf man Professor Dr. Ulrich Fink sicher nicht zählen, stellt er klar. Wenngleich er gerne die Geschichte eines Fußballspiels in München erzählt, wo sein Radiologenteam gegen eine andere Ärztemannschaft spielte. Als sich einer der Kicker beim Sturz verletzte, rief ein Radiologe: „Holt mal einen Arzt!“. Die Radiologen haben, wie Professor Dr. Ulrich Fink meint, sogar einen Vorteil: Sie betreuen alle Fachgebiete. Das heißt: Sie haben einen Überblick über alle Fachgebiete der Medizin und müssen für alle Bereiche die Diagnose stellen, ob Unfallchirurgie, Onkologie oder Orthopädie. Der Radiologe sei also ein sehr breit ausgebildeter Arzt und könne sehr schnell auch Differentialdiagnosen entwickeln. „Hier kannst Du etwas entwickeln…“ 1953 in Speyer am Rhein geboren, studierte Ulrich Fink in München Humanmedizin. „Ich bin auch noch vom Herzen her Pfälzer, aber auch von Herzen Bayer und Badener“, sagt er heute. Schon als Siebenjähriger kam er mit seinen Eltern nach Nürnberg, mit zehn nach München. Dort besuchte er auch die Schule und studierte später an der Ludwig-Maximilians-Universität Humanmedizin. Dort, am Uniklinikum Großhadern, begann er seine medizinische Laufbahn. Er vertiefte ab 1979 als Assistenzarzt an der Radiologischen Klinik der Universität seine Kenntnisse in den Fachbereichen Strahlentherapie, Röntgendiagnostik und Nuklearmedizin. Nach sechs Jahren hatte er seine Facharztanerkennung zum Arzt für Radiologie und wurde gleich Oberarzt. Mit der Habilitation wurde 1989 die Lehrbefähigung festgestellt. 17 Jahre wirkte Dr. Ulrich Fink an der Universitätsklinik in München, als er eines Tages einen Anruf aus Schwenningen bekam. Dort suchte man einen neuen Chefarzt, nachdem zwei bereits ausgewählte Bewerber abgesprungen waren. Parallel hatte er damals an einer städtischen Klinik in Hamburg ein Bewerbungsverfahren laufen und an der Uniklinik in Greifswald. Mit seiner Frau Barbara, 34 In Schwenningen entwickelte Professor Dr. Ulrich Fink die Abteilung zu einer modernen Radiologie. Die Klinik besaß damals nur eine Röntgendiagnostik mit einem alten Computertomografen und eine kleine Nuklearmedizin. ebenfalls Radiologieärztin, fuhr Fink nach Villingen-Schwenningen: „In München regnete es, in Ulm war alles total vernebelt, in Schwenningen kam die Sonne heraus. Als wir das zweite Mal hierher gefahren sind, war es genau so, da sagte meine Frau: Du, der liebe Gott meint es gut mit Villingen-Schwenningen“. Warum er sich dann gegen Greifswald und Hamburg und für Villingen-Schwenningen entschied, begründet er heute so: „Hier hatte ich das Gefühl, hier kannst Du etwas entwickeln“. Klinik-Geschäftsführer Horst Schlenker zeigte mir die Kliniken in Schwenningen und Villingen und verriet mir auch seine Vision, dass nämlich zwischen beiden Stadtteilen mal eine neue Klinik gebaut werden könnte. Mit viel Glück habe die Familie dann ein Grundstück in Bad Dürrheim bekommen. Noch während der Probezeit begann der neue Chefarzt mit dem Bau des neuen Familiendomizils. In Schwenningen entwickelte Professor Dr. Ulrich Fink die Abteilung zu einer modernen Radiologie. Schwenningen besaß damals nur eine Röntgendiagnostik mit einem alten Computertomografen und eine kleine Nuklearmedizin, kein MRT, auch keine Geräte zur Gefäßdarstellung und für radiologische Interventionen. Es gab keinen einzigen Computer in der Abteilung, die Befunde wurden noch mit Schreibmaschine geschrieben. Neben neuen Untersuchungsmethoden wurde nun auch die Digitalisierung Prof. Dr. Ulrich Fink

 

 

 

 

 

 

früh in Angriff genommen. Zum 1. Januar 2000 führte Professor Fink an der Radiologie in Schwenningen die digitale Bildgebung und Bildverteilung ein. Ganzkörperuntersuchungen innerhalb einer einzigen Sekunde „Mein Herz hat immer für die Radiologie geschlagen“, sagt er, das Fachgebiet, das in den letzten 20 Jahren mit neuen Geräten und neuen Untersuchungstechniken mit die größte Weiterentwicklung in der Medizin genommen habe. Als er in der Radiologie begann, kamen die ersten Computertomografen auf den Markt – mit Untersuchungszeiten von oft über einer Stunde. Am Ende seiner beruflichen Tätigkeit schafften es die Radiologen, die Ganzkörperuntersuchung bei einem polytraumatisierten Patienten innerhalb von einer Sekunde durchzuführen. Zuletzt wurde die Neuroradiologie ausgebaut, die Eingriffe bei Schlaganfällen oder Aneurysmen im Gehirn ermöglicht. Die Eingriffe, etwa bei Schlaganfall, werden in einem kleinen OP in der Da haben wir tolle Erfolge, die Blutgerinsel werden innerhalb einer halben bis ganzen Stunde mit Kathetertechnik entfernt und damit die Durchblutung des Gehirns wieder hergestellt. interventionellen Radiologie vorgenommen. „Da haben wir tolle Erfolge, die Blutgerinsel werden innerhalb einer halben bis ganzen Stunde mit Kathetertechnik entfernt und damit die Durchblutung des Gehirns wieder hergestellt.“ Stolz auf die hochmoderne Radiologie Ärzte können in der Radiologie die komplette Weiterbildung zum Arzt für Radiologie erwerben, haben dann noch zusätzlich die Möglichkeit, auch die Schwerpunkte in Kinderradiologie, Neuroradiologie und Nuklearmedizin zu erlernen. „Wir sind eine der wenigen Kliniken, 36 Aus dem Kreisgeschehen

 

 

 

wenn nicht gar die einzige in Deutschland, die unter einem Dach sämtliche Weiterbildungen in der Radiologie anbietet“, erläutert Professor Dr. Ulrich Fink. Dass er eine, mit allen wichtigen Untersuchungsgeräten ausgestattete hochmoderne Radiologie übergeben konnte, erfülle ihn mit Stolz, sagt Fink. Komplett digitalisiert inklusive Spracherkennung. „Das ist ein Riesenvorteil! Wir diktieren alle Befunde digital und haben keine einzige Schreibkraft mehr. Das führt dazu, dass die Befunde zeitnah im System abrufbar sind“, so der Arzt. Als Professor Dr. Ulrich Fink 2020 das Schwarzwald-Baar Klinikum verlässt, zählen 18 Ärzte zur Radiologie – weiter gibt es 45 Stellen im medizinisch-technischen Bereich. Gerade die Digitalisierung habe der Radiologie einen gigantischen Fortschritt beschert. Die zentrale Radiologie des im Jahr 2013 neu in Betrieb genommenen Schwarzwald-Baar Klinikums im Zentralbereich von Villingen-Schwenningen sei heute eine der modernsten Radiologieabteilungen in Deutschland. Daneben verfüge die kleinere Radiologie in Donaueschingen über die notwendigen Geräte, um bei Notfällen röntgen, ein CT oder aber auch ein MRT machen zu können. Den Standort in Donaueschingen beizubehalten, sei eine politische Entscheidung gewesen („Und das ist auch in Ordnung“). Diese Entscheidung sei, im Nachhinein betrachtet, auch nicht schlecht gewesen, weil man damit den kompletten südlichen Schwarzwald-Baar-Kreis versorgen könne. Das werde auch so bleiben, auch wenn die Diskussion, Donaueschingen zu schließen, immer wieder aufkomme. „Aber es wird sicher nie geschlossen, weil es sinnvoll ist, wie wir es gemacht haben. In Donaueschingen sind Fachrichtungen angesiedelt, die weitgehend autonom arbeiten können. Im Zentralbereich haben wir Fachrichtungen, die interdisziplinär arbeiten müssen“. Das habe bisher sehr gut geklappt. Das von Prof. Dr. Ulrich Fink wesentlich mitgeprägte und 2013 eröffnete Schwarzwald-Baar Klinikum.

 

 

 

Zusammenschluss der Kliniken Anfangs war für Prof. Dr. Ulrich Fink die Konkurrenz zwischen Schwenningen und Villingen ungewohnt. Im Nachhinein verrät er auch, dass es schwieriger war, als alle dachten, die beiden Kliniken Schwenningen und Villingen zusammenzuführen. „Weil sich in den Kliniken in Jahrzehnten eigene Abläufe entwickelt haben. Das hat wenig mit Konkurrenz zu tun, das war halt einfach so. Da sind in Villingen bestimmte Dinge anders gelaufen als in Schwenningen“. Die sanitären Verhältnisse in den alten Kliniken seien „überhaupt nicht mehr zeitgemäß gewesen“, in der Urologie und Gynäkologie habe es so z.B. nur Etagentoiletten gegeben. Dr. Fink erinnert sich, wie er 2001 in einer Aufsichtsratssitzung der Kliniken auftrat, als bekannt wurde, dass die damalige Kreisklinik in Donaueschingen für zehn Millionen Mark saniert werden sollte. Die Chefärzte der Kliniken in Villingen und Schwenningen fanden es nicht akzeptabel, dass der Landkreis, der von der Kreisumlage lebt, die zur Hälfte von der Stadt Villingen-Schwenningen gezahlt wird, sein eigenes Klinikum saniert „und wir in VS am Tropf hängen“. Ulrich Fink regte damals schon an, eine gemeinsame Krankenhausträgerschaft im SchwarzwaldBaar-Kreis zu diskutieren. Eine Privatisierung der städtischen Kliniken in VS zum damaligen Zeitpunkt lehnte er entschieden ab. Zuvor war noch über eine solche Privatisierung der städtischen Kliniken diskutiert worden. Aber an der Situation, dass VS mit der Kreisumlage die Donau eschinger Klinik finanziert, hätte sich damit nichts geändert. Der Rhön-Kliniken-Konzern hatte der Stadt Millionen geboten, um die VS-Kliniken zu übernehmen. Ulrich Fink und seine Chefarztkollegen sahen darin keinen gangbaren Weg und führten mit etlichen Stadträten informative Einzelgespräche, worauf dann der Gemeindeund Kreisrat Fahrten zu privaten und kommunalen Kliniken unternahm, um sich selbst ein Bild zu machen. „Gott sei Dank haben wir es geschafft, das Thema Privatklinik in VS zu verhindern“, sagt Fink. Bei Gemeinderat und Oberbürgermeister setzte sich die Überzeugung durch, dass eine kommunale Trägerschaft besser sei. „Das war, Leider sei in Deutschland noch „zu wenig bekannt, was wir hier bieten, nämlich die komplette medizinische Versorgung auf höchstem Niveau in einem Haus und mit modernsten Geräten. glaube ich, die wichtigste Entscheidung, die im Landkreis getroffen wurde, weil dadurch die medizinische Versorgung sehr effektiv gebündelt werden konnte“, so Dr. Ulrich Fink. „Das war ein schwieriger, aber sehr positiver Kampf“, erinnert sich der ehemalige ärztliche Direktor heute. Mit der geplanten Fusion der städtischen Klinik in VS und der Kreisklinik in DS wurde auch der Beschluss gefasst, neu zu bauen. 2004 fusionierten die beiden bis dahin selbstständigen Klinikgesellschaften Klinikum Villingen-Schwenningen und Kreisklinikum Donau eschingen zur Schwarzwald-Baar Klinikum Villingen-Schwenningen GmbH. Im gleichen Jahr wurde Fink Ärztlicher Direktor des Klinikums, blieb aber Chefarzt der Radiologie in Villingen-Schwenningen. Ab 2005 war er dann nicht nur Ärztlicher Direktor des gesamten Klinikums, sondern auch Direktor des Instituts für Radiologie und Nuklearmedizin in Villingen-Schwenningen und Donaueschingen. Die Bündelung der medizinischen Versorgung im gesamten Kreis durch die gemeinsame Trägerschaft und der Bau des Schwarzwald-Baar Klinikums wurde inzwischen umgesetzt. Über einige Jahre hinweg sei dann in den beiden Altbauten nicht mehr modernisiert worden, erinnert sich Prof. Fink. Nach vier Jahren Bauzeit wurde der Neubau im Juli 2013 eröffnet. Keine Personaleinsparungen Professor Dr. Fink widerspricht der hier und da geäußerten Aussage, durch das Zentral klinikum sei Personal eingespart worden. Dies sei nicht der Fall gewesen, aber: „Es hat Synergien gegeben, es ist in manchen Bereichen weniger Per

 

 

 

Prof. Dr. Ulrich Fink mit Ehefrau Prof. Dr. Barbara Fink in der radiologischen Abteilung. sonal notwendig gewesen, weil man optimaler arbeiten konnte“. Die Radiologie beispielsweise habe kein Personal dazu bekommen, obwohl sie deutlich größer geworden sei und neue Geräte dazu kamen. Durch eine effektivere Arbeitsweise konnte das Personal in allen Bereichen besser eingesetzt werden. Noch während der Bauphase sei flächendeckend im gesamten Klinikum WLAN eingeführt worden, was auch zur Effektivitätssteigerung geführt habe. Der Betrieb eines Klinikums ist die eine Sache, die Finanzierung die andere. In Deutschland ist es so geregelt, dass das Land für die Finanzierung der Neubauten zuständig ist, die Krankenkassen für den laufenden Betrieb. „Ich bin der Meinung, dass es nicht mehr zeitgemäß ist, weil das Land gar nicht mehr seinen Aufgaben gerecht wird“, äußert sich Professor Dr. Ulrich Fink. Die Landeszuschüsse beim Neubau des Schwarzwald-Baar Klinikums lagen unter 50 Prozent – „normalerweise hätten es 100 Prozent sein müssen“. Der Schwarzwald-Baar-Kreis habe mit dem Neubau die Chance genutzt, ein modernes Haus zu bekommen, in dem schon alles digitalisiert ist. „Wir haben einen sehr guten Ruf, wir werden beneidet in der Kliniklandschaft“, erzählt Fink. Andere Klinikträger hätten sich nach der Eröffnung des Neubaus hier informiert, wie es gelingen konnte, dass Stadt und Kreis gemeinsam sieben Klinikstandorte in zwei Häusern bündeln konnten. Leider sei in Deutschland noch „zu wenig bekannt, was wir hier bieten, nämlich die komplette medizinische Versorgung auf höchstem Niveau in einem Haus und mit modernsten Geräten“. Eigentlich müssten, so meint Fink, Ärzte und Pflegefachkräfte aus der ganzen Republik vom Wunsch beseelt sein, hier zu arbeiten, denn die Klinik sei hoch attraktiv, doch der Schwarzwald-Baar-Kreis sei zu wenig bekannt. Viele Abteilungen des Schwarzwald-Baar Klinikums hätten aufgrund ihrer Expertise eine Strahlkraft, die weit über die Region hinaus reiche. „Wir haben in jedem medizinischen Bereich Professor Dr. Ulrich Fink

 

 

 

optimale Bedingungen“, so der ehemalige Ärztliche Direktor. Das erkenne der Fachmann schon alleine daran, dass das Schwarzwald-Baar Klinikum in allen Bereichen die volle Weiterbildungsermächtigung für Ärzte habe, hier können alle Ärzte zu Fachärzten ausgebildet werden – das gebe es außerhalb von Unikliniken selten. „Da sind wir optimal aufgestellt“, auch was die Pflege angehe. Das Schwarzwald-Baar Klinikum biete von den Intensivstationen über hochmoderne OP-Säle alles. Ich habe eineinhalb Jahre länger gemacht, als ich hätte müssen – das tat ich gern, weil ich viel Spaß hatte, aber dann hörte ich richtig auf. Er selbst habe festgestellt, dass es wichtig ist, Bewerber zunächst einmal in die Klinik zu bekommen. „Wenn die erst mal in der Klinik sind, sind sie hellauf begeistert und sagen: Wir wussten gar nicht, dass es hier so eine tolle Einrichtung gibt“. Sehr gute Versorgung Natürlich kennt Ulrich Fink auch die Stimmen, die sich über Wartezeiten in der Notaufnahme oder ähnliches beschweren. Doch er wertet dies als Einzelstimmen. „Ich höre natürlich auch viele, die sehr, sehr zufrieden sind, die gehen nicht an die Öffentlichkeit“. Nichtsdestotrotz müsse man auch diese Einzelstimmen ernst nehmen. „Wir haben hier ein Klinikum, in dem alles geboten wird, was heute in der Medizin notwendig ist. Und das ist für einen Landkreis wie den Schwarzwald-Baar-Kreis überhaupt nicht selbstverständlich. Das heißt: Ich kann heute in die Klinik gehen und weiß, dass ich versorgt werde, egal was ich habe. Das ist unbezahlbar“. In anderen Landkreisen müssten Patienten oft bis zu 100 Kilometer fahren, um zu einem Spezia listen zu gelangen. Klar gebe es auch mal Wartezeiten und dass die Notaufnahme voll sei, liege unter anderem daran, dass alles in einer zentralen Notaufnahme zusammengefasst wurde. Fink gibt allen Kritikern zu bedenken: „Wer schwer erkrankt ist, wartet nicht. Das kann ich mit Fug und Recht sagen. Wer wirklich eine schwere Erkrankung hat, wird sofort perfekt versorgt“. Die Leute würden in die Zentrale Notaufnahme kommen, weil hier eben z.B. auch EKG, CT und Labordiagnose gemacht werden. Er selbst war manchmal erstaunt, wie schnell in der Notaufnahme gearbeitet wurde. Als er einmal einer Beschwerde nachging, fand er heraus, dass eine ältere Frau, die gestürzt und danach kurzzeitig bewusstlos war, nach vier Stunden in der Notaufnahme wieder nach Hause gehen konnte. In dieser Zeit war nicht nur ihre Wunde chirurgisch versorgt worden, es wurde auch noch eine Computertomografie ihres Kopfes angefertigt und, weil sie über Rückenschmerzen klagte, eine Kernspintomografie der Wirbelsäule. „Vier Stunden sind da eine super Zeit, wenn man weiß, wie lange andere Patienten darauf in der freien Praxis warten“, so der Mediziner. Die Schwarzwald-Baar-Klinik habe die Kritik aber immer zum Anlass genommen, zu schauen, wie die Prozesse besser gestaltet werden können. Gerade in der Corona-Pandemie habe es sich aber gezeigt, wie gut die Klinik aufgestellt sei und alles geklappt habe. „Wir haben überhaupt keine Probleme gehabt“. Die Klinik habe ja sogar aus Frankreich Patienten übernommen. „Wir haben hier eine optimale medizinische Versorgung, das ist für mich das Entscheidende“. Die Klinik ist aber auch ein Wirtschaftsbetrieb. Kritiker behaupten, dass deutsche Klinik-Ärzte eher zu Operationen raten, weil das Geld für ihren Arbeitgeber bringt. „Diese Frage stellt sich für uns nicht, weil wir immer belegt sind. Wir haben in den letzten Jahren eher schauen müssen, wie wir Betten frei bekommen“, so Professor Dr. Ulrich Fink. Und weiter: „Wir haben gar nicht die Möglichkeit zu sagen: Wir brauchen mehr Hüftoperationen. Nein, wir nehmen das, was kommt, und der größte Teil der Patienten, die stationär aufgenommen werden, kommt ja über die Notaufnahme. Wir suchen nicht nach Krankheiten“.

 

 

 

Natürlich müsse man wirtschaftlich denken Professor Dr. Ulrich Fink mit Familie. und auch beim Einkauf der Materialien wirtschaftlich arbeiten. Bei der Arbeit mit Patienten werde aber primär überlegt: „Wie können wir den Patienten sinnvoll und richtig behandeln?“ Die DRG-Pauschalen hätten dazu geführt, „dass wir noch mehr Druck haben“, die Patienten früher zu entlassen. Die Liegezeiten zu verkürzen, sei aber auch im Sinne der Patienten. Deutschland habe nach dem alten System nach Tagessätzen die mit Abstand längsten Liegezeiten gehabt, weiß Professor Dr. Ulrich Fink. Familie und Sport als Ausgleich Ausgleich im Beruf war für Ulrich Fink die Familie mit Ehefrau Prof. Dr. Barbara Fink und den vier Kindern Anna (heute 23), Nicola (27), Markus (34) und Martin (36). Die beiden Töchter haben sich für den Arztberuf entschieden, Anna studiert in Freiburg Medizin, Nicola ist Radiologin am Münchner Klinikum Großhadern, wo auch ihre Eltern sich zu Fachärzten ausbilden ließen. Sohn Martin arbeitet als Rechtsanwalt in Stuttgart in einer großen Kanzlei und Markus ist als Rechtsanwalt Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Südwestmetall in Villingen. Während er sich mit Fußball und Tennis in jungen Jahren fit hielt, widmet sich der Ruheständler heute dem Golfsport auf der nahen Anlage in Donaueschingen und nur noch im Winter dem Tennissport. Als Mediziner ist er nicht mehr tätig. „Ich habe eineinhalb Jahre länger gemacht, als ich hätte müssen – das tat ich gern, weil ich viel Spaß hatte, aber dann hörte ich richtig auf.“ Nun genießt er es, mehr Zeit für sich zu haben. Natürlich blickt er mit etwas Wehmut, aber auch Stolz und Dankbarkeit auf die 24 Jahre im Klinikum zurück, in denen so viel bewegt werden konnte, aber auch mit Genugtuung, dass seine erste Prognose „hier kann etwas entwickelt werden“ richtig war. Eines ist aber für ihn klar, das Schwarzwald-Baar Klinikum wird vom Herzen her immer sein Klinikum bleiben. Professor Dr. Ulrich Fink

 

 

 

Corona-Situation spitzt sich im Oktober dramatisch zu Die Entwicklung einer Pandemie wie Corona ist für das Schwarzwald-Baar Jahrbuch nur schwer zu fassen. Als Einleitung zum Corona-Schwerpunkt im Almanach veröffentlichen wir deshalb an dieser Stelle einen Überblick zur Situation im Oktober 2020. Stichtag ist der 28. Oktober, der Tag der Verkündung des Teil-Shutdowns durch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ab Mitte Oktober spitzte sich die CoronaSituation bundesund landesweit wie erwartet zu. Auch vor dem Schwarzwald-Baar-Kreis machen die steigenden Zahlen nicht Halt: Die SiebenTage-Inzidenz stieg zunächst steil auf über 50, dann auf über 60 und lag am Mittwoch, den 28. Oktober bei 73,4. Bereits am 15. Oktober 2020 war der Schwarzwald-Baar-Kreis zum Risikogebiet erklärt worden. Vier große regionale Ausbrüche Bei einer Pressekonferenz im Landratsamt schilderte der Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Jochen Früh einige Hintergründe. Vier große Ausbrüche in der Region, allesamt von außerhalb eingetragen, hatten maßgeblich Anteil an der zugespitzten Situation. Darunter der Fall eines 60-Jährigen in St. Georgen, der bei einer Kartenspielrunde, einem Geburtstagsfest und am Arbeitsplatz insgesamt 40 Menschen mit Corona infizierte. In einem anderen Fall war die Teilnahme eines jungen Mannes an einer Großhochzeit in Berlin Ende September die Ursache für rund 20 Infektionen in der Familie und im Kindergarten Brigachtal, der vorübergehend geschlossen wurde. Im Raum Furtwangen kam es nach der Busreise einer Frau in die Schweiz zu einer Ansteckung bei 21 Personen. In BlumCorona-Pressekonferenz des Schwarzwald-Baar-Kreises am 16. Oktober 2020. Anlass war die Einstufung des Landkreises als Risikogebiet. Die Tageszeitungen übertrugen per Videostream live. berg verbreitete ein Arbeiter aus Osteuropa das Coronavirus, steckte Arbeitskollegen und andere an. Auch zwei Schulen waren betroffen. Sieben Monate Erfahrung Dennoch: Sieben Monate Erfahrung im Umgang mit dem Virus machen einen großen Unterschied. „Im Moment kommen wir mit der zweiten Welle besser zurecht als mit der 42 2. Kapitel – Corona – Stenogramm einer Pandemie CORONA

 

 

 

ersten“, sagt Jochen Früh am Abend des 21. Oktober. Der Mediziner ist noch im Dienst, das Gesundheitsamt arbeitet im Zweischichtbetrieb. Corona-Frust? „Nein, die Arbeit ist sinnvoll. Wir können die Befunde schnell abarbeiten und viele Leute vor der Erkrankung in Quarantäne bringen“, sagt Jochen Früh. „Wir betreiben keine Katastrophenverwaltung, sondern verfügen über aktive Eingriffsmöglichkeiten.“ CORONA-MOMENTAUFNAHME ZUM 28. OKTOBER 2020 Es ist eine Momentaufnahme auf Basis der täglichen Meldungen zu den Corona-Fällen auf der Internetseite www.lrasbk.de: Am Mittwoch, 28. Oktober wurden 834 Fälle gemeldet, die bereits wieder gesund sind (+ 17 Fälle zum Vortag). Im März des Jahres habe man zunächst Die Zahl der bestätigten Coronavirus-Fälle einmal alles neu definieren müssen. Durch die Einarbeitung der Mitarbeiter komme man mit den Fallzahlen besser zurecht als im Frühjahr. „Heute wissen wir, wie sich das Virus ausbreitet und kennen bessere Therapiekonzepte als zu Beginn.“ Problematisch sei in erster Linie die Einschleppung an Schulen, wie es beispielsweise in Donaueschingen und Hüfingen der Fall war. Durch die große Zahl an Menschen sei die Quarantänestellung aufwendig. Befunde müssen besprochen und Abstriche organisiert werden, zugleich sei der Diskussionsbedarf bei den unter Quarantäne gestellten Schülern groß. Uneinsichtigkeit sei nicht das Problem. Der Frust eines jungen Menschen beispielsweise, der seine praktische Führerscheinprüfung verschieben müsse, sei aber durchaus nachvollziehbar. Am 2. November tritt Teil-Shutdown in Kraft Ein weiterer Teil-Shutdown tritt am 2. November in Kraft, so die Festlegung der Bundesregierung, die am Mittwoch, den 28. Oktober verkündet wurde. Den gesamten November über sollen Kontaktbeschränkungen gelten, muss einmal mehr die Gastronomie schließen, darf es keine kulturellen Veranstaltungen, kein Kino – aber auch kein Amateurund Vereinssport geben, um an dieser Stelle nur einige Punkte aufzuführen. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte dazu: „Wir wissen, was wir den Menschen zumuten, doch es gilt die Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen.“ Finanzielle Hilfen für die Betriebe, die vom Shutdown betroffen sind, sollen die Auswirkungen auf die Betroffenen abfedern. Die Einschränkungen sollen bis Ende November 2020 gelten. Nathalie Göbel / wd liegt aktuell bei 1.077 (+ 18 Fälle zum Vortag), die genesenen Fälle sowie 35 Todesfälle (keine Änderung) sind hierin enthalten. Somit liegt die Zahl der aktuell an COVID-19 Infizierten bei 208 Personen (+ 1 Fall zum Vortag). Im Schwarzwald-Baar Klinikum befinden sich am Mittwoch, 28. Oktober 22 am Coronavirus erkrankte Personen. Von den bisher bestätigten Fällen wurden folgende Zahlen in den Städten und Gemeinden des Landkreises gemeldet: • Villingen-Schwenningen: 411 (318 genesen) • Donaueschingen: 92 (62 Personen genesen) • Bad Dürrheim: 50 (40 Personen genesen) • Blumberg: 96 (70 Personen genesen) • Bräunlingen: 17 (13 Personen genesen) • Brigachtal: 22 (19 Personen genesen) • Dauchingen: 10 (alle genesen) • Furtwangen: 87 (77 Personen genesen) • Gütenbach: 6 (5 Personen genesen) • Hüfingen: 45 (39 Personen genesen) • Königsfeld: 29 (25 Personen genesen) • Mönchweiler: 8 (3 Personen genesen) • Niedereschach: 33 (24 Personen genesen) • Schönwald: 9 (5 Personen genesen) • Schonach: 17 (14 Personen genesen) • St. Georgen: 87 (75 Personen genesen) • Triberg: 34 (17 Personen genesen) • Tuningen: 6 (4 Personen genesen) • Unterkirnach: 6 (alle genesen) • Vöhrenbach: 12 (8 genesen) Situation spitzt sich zu 43 CORONA

 

 

 

„Tage weit weg von normaler Arbeit“ von Nathalie Göbel – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

CORONA

 

 

 

Der 7. März 2020 ist ein kühler Spätwintertag. Ein ruhiger Samstag nach der Fastnacht. Man kauft ein, trifft sich mit Freunden zum Kaffee oder abends im Kino. Doch plötzlich ist es mit der Normalität vorbei. Um die Mittagszeit teilt das Landratsamt mit, dass eine erste Coronavirus-Infektion durch Labornachweis im Schwarzwald-Baar-Kreis gesichert ist. Die erkrankte Person stammt aus St. Georgen und ihre Infektion bringt SARS-CoV-2 in den beschaulichen Landkreis im Südwesten. Das neue Virus wütete in den neun Wochen zuvor noch in einer Millionenmetropole namens Wuhan. Das liegt in China und die Krankheit schien damit sehr weit weg zu sein. „Wir haben die Entwicklung schon seit Ende des Jahres gespannt verfolgt, aber alarmiert waren wir damals noch nicht“, erinnert sich Dr. Jochen Früh. Der Facharzt für Innere Medizin leitet das Gesundheitsamt des SchwarzwaldBaarKreises seit dem Jahr 2016 und hat mit seinem Team in den Pandemiemonaten eine Schlüsselrolle eingenommen. Dr. Jochen Früh, Leiter des Gesundheitsamtes. Das Ausmaß der Pandemie hat Dr. Jochen Früh nicht unbedingt überrascht: „Neue, auch bedrohliche Krankheiten gibt es immer wieder – denken Sie nur an SARS, HIV, MERS oder Ebola.“ In vernetzten Gesellschaften würden immer wieder Ausbrüche neuer Erreger drohen, die durch Wirtswechsel entstehen können. In allen Bundesländern gibt es daher Pandemiepläne, ausgelegt darauf, dass sich eine Grippewelle großflächig ausbreitet, so wie vor fast genau 100 Jahren, als die Spanische Grippe Millionen Menschen das Leben kostete. Noch Anfang Februar habe das Robert Koch-Institut die Risikosituation als gering eingestuft. Ende Januar hatte sich im bayrischen Stockdorf ein Mitarbeiter des AutomobilzuWir waren gut vorbereitet, weil wir nicht zu den ersten betroffenen Gesundheitsämtern in Deutschland gehörten, sondern eine Vorlaufzeit hatten. Allein am ersten Wochenende wurden im Abstrichzentrum rund 15 Fälle festgestellt. lieferers Webasto bei einer Kollegin aus China angesteckt. Damit war klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis das Coronavirus in Baden-Württemberg auftreten sollte. Das Gesundheitsamt traf die erste nachgewiesene Infektion mit dem neuartigen Coronavirus somit nicht unvorbereitet. Im Schwarzwald-Baar-Kreis wurden daraufhin die Vorbereitungen intensiviert. „Ab dem 1. Februar haben wir zwei unserer ärztlichen Mitarbeiter beauftragt, die Entwicklung zu verfolgen“, schildert Jochen Früh. Die beiden verfolgten tagesaktuell Berichte des Robert KochInstituts und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und erläuterten die Entwicklung in den wöchentlichen Besprechungen des Verwaltungsstabs. Zu Beginn der Pandemie kam das Gremium sogar täglich zusammen. Der Verwaltungsstab ist quasi der Katastrophenschutzstab des Landratsamtes, der immer dann zusammentritt, wenn ein überörtliches Schadensereignis stattfindet, das einer Koordination in größerem Maße bedarf. Er tritt zusammen, wenn besondere Ereignisse wie Hochwasser oder Großbrände es erfordern. Im Jahr 2020 ist jedoch kein Großschadensereignis, sondern ein winziges Virus der Grund. SARS-CoV-2 hat gerade mal einen Durchmesser von 60 bis 120 Nanometer also 0,00006 bis 0,00012 Millimeter. „Wir waren gut vorbereitet, weil wir nicht zu den ersten betroffenen Gesundheitsämtern in Deutschland gehörten, sondern eine Vorlaufzeit hatten“, resümiert Dr. Jochen Früh. Eine der ersten Maßnahmen war die Einrichtung einer Abstrichmöglichkeit am Schwarzwald-Baar Klinikum Anfang März.

 

 

 

COVID-19-FÄLLE IM SCHWARZWALD-BAAR-KREIS Krankheitsfälle pro 100.000 Einwohner nach Städten und Gemeinden Stand: 28.10.2020

 

 

 

Corona-Ambulanz auf dem Schwenninger Messegelände Schnell habe sich gezeigt, dass eine vom Klinikbetrieb getrennte Ambulanz nötig sein würde. Am zweiten März-Wochenende richtete das Gesundheitsamt eine Corona-Ambulanz auf dem Schwenninger Messegelände ein. „Allein am ersten Wochenende wurden im Abstrichzentrum rund 15 Fälle festgestellt“, blickt Dr. Jochen Früh zurück. Am folgenden Montag übernahm die Kassen ärztliche Vereinigung (KV) den Betrieb des Abstrichzentrums, das nach strikten Vorgaben betrieben wurde: Wer hier getestet wurde, musste sich zuvor telefonisch mit seinem Hausarzt abgestimmt und eine entsprechende Überweisung bekommen haben. Ansonsten wäre die Ambulanz wohl hoffnungslos überlaufen gewesen, plagen sich doch im kühlen März viele Menschen mit banalen Erkältungsinfekten herum. Die Ermittlung und Nachverfolgung von Kontakten – sowie die In-Quarantäne-Stellung von Infizierten und Unterbrechung der Infektionsketten – gehören seitdem mit zu den zentralen Aufgaben des Gesundheitsamtes. Es verfügt über 30 Mitarbeiter*innen. Wie reagieren Menschen, wenn man ihnen mitteilt, dass sie in den kommenden zwei Wochen zu Hause bleiben müssen und nicht einmal Einkäufe erledigen dürfen? „In der ersten Phase ist das sehr gut gelaufen“, resümiert Dr. Früh. Die Probleme habe es erst gegeben, als die ersten asymptomatischen Patienten ermittelt wurden, häufig Reiserückkehrer. „Da war es teils schwer verständlich zu machen, warum sie nun – ohne Symptome – 14 Tage zu Hause bleiben sollten“, so der Leiter des Gesundheitsamtes und Facharzt für Innere Medizin. „Damals gab es dafür noch keine rechtliche Grundlage und eine bloße Empfehlung ist rechtlich nicht durchsetzbar.“ Ischgl-Rückkehrer auch im Schwarzwald-BaarKreis ein bedeutender Infektionsherd Große Bauchschmerzen habe er gehabt, als klar wurde, dass die Entwicklung in Ischgl aus Auch in den SchwarzwaldBaar-Kreis kehrten in diesen Tagen Urlauber aus Ischgl zurück, darunter einige aus dem Blumberger Teilort Riedböhringen, wo Ende März 22 Corona-Fälle gezählt werden. dem Ruder zu laufen drohte und es auch in Deutschland sukzessive zu der gefürchteten exponentiellen Steigerung der Fälle kam. Besonders anschaulich kann man sich die Exponentialfunktion anhand der Legende des indischen Königs Shirham vor Augen führen, der den Erfinder des Schachspiels belohnen wollte. Der Weise wünschte sich eine Entlohnung in Reiskörnern und zwar nach folgendem Muster: Auf das erste der 64 Felder eines Schachspiels lege man ein Reiskorn, auf das nächste zwei, auf das übernächste vier – immer doppelt so viele wie auf dem vorigen Feld. Schlussendlich würden auf dem Schachbrett 18.446.744.073.709.551.615 Reiskörner liegen. Das entspricht dem Zighundertfachen der weltweiten Reisernte eines Jahres. Eine unlösbare Aufgabe. Genau so schnell kann die exponentielle Ausbreitung eines Virus verlaufen. Wie dynamisch diese Entwicklung ist, zeigte sich besonders drastisch nach der Rückkehr tausender Skifahrer aus dem Tiroler Urlaubsort Ischgl, der sich seitdem mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, zur Ausbreitung des Virus in Europa maßgeblich beigetragen zu haben. Tausende Skifahrer hatten sich dort im Frühjahr infiziert. Im September wurden erste Sammelklagen eingereicht. Viel zu spät, so der Vorwurf, hätten die Tiroler Behörden auf das Coronavirus reagiert. Bereits Ende Februar hatte Island Alarm geschlagen, nachdem 15 Mitglieder einer Reisegruppe an Covid-19 erkrankt waren. Sie waren in Ischgl gewesen. Dort wurde ein vorzeitiges Saisonende erst am 12. März verkündet. Bis wirklich alle Lifte stillstanden, sollten drei weitere Tage vergehen, unter teils chaotischen Bedingungen reisten die Wintersportler ab. 48 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

Auch in den Schwarzwald-Baar-Kreis kehrten in diesen Tagen Urlauber aus Ischgl zurück, darunter einige aus dem Blumberger Teilort Riedböhringen, wo Ende März 22 Corona-Fälle gezählt wurden und am 1. April eine Ausgangssperre verhängt wurde. Kein Aprilscherz, wie Bürgermeister Markus Keller damals betonte. „Tage weit weg von normaler Arbeit“ Die Corona-Tage waren und sind im Gesundheits amt „Tage weit weg von normaler Arbeit“, wie Dr. Jochen Früh unterstreicht. Ende März hatten wir in Deutschland eine Verdopplungszeit von sechs bis sieben Tagen. Zum Vergleich: Am 3. Oktober 2020 gab die Johns-Hopkins-University diesen Wert mit 89,5 Tagen an. Das Gesundheitsamt teilt täglich – bei Bedarf auch an den Wochenenden – die aktuellen Zahlen auf der Internetseite des Landratsamtes mit. Am Samstag, 25. April, beispielsweise liegt die Zahl der bestätigten Fälle im Kreis bei 473 – 17 dieser Patienten hatten die Infektion nicht überlebt. Bis zum 28. Oktober 2020 sind es dann 1.077 Erkrankte, von Vor der Fieberambulanz – warten auf den CoronaTest. denen 35 an Corona gestorben sind. Die Zahl der aktiv Erkrankten beläuft sich zum Stichtag 28. Oktober 2020 auf 208. Zumindest Ende September war der Landkreis von einem Lockdown, wie es ihn im Frühjahr gab, „gut entfernt“, sagt Dr. Jochen Früh. „Im Moment besteht ein wesentlicher Teil der Arbeit darin, das Personal zu schulen, zu trainieren und Abläufe zu optimieren.“ Dazu gehöre, sich in Computerverfahren einzuarbeiten, in Nachverfolgung und Kommunikation. Schon wenige Wochen später verändert sich das Bild, wie die aktuellen Fälle im Landkreis zeigen (siehe hierzu auch www.Lrasbk.de) An die 9.000 Kontaktpersonen ermittelt Kommunikation nimmt einen wichtigen Stellenwert ein, auch, weil sich nicht alle unter Quarantäne stehenden Personen angemessen ver„Tage weit weg von normaler Arbeit“ 49

 

 

 

halten. „Ja, es gab auch Verstöße“, sagt Dr. Früh. Insgesamt wurden im Flächenlandkreis im Rahmen der „ersten Welle“ an die 9.000 Kontaktpersonen ermittelt. „Mit den Kräften des Gesundheitsamtes können wir keine 24-StundenKontrollen vornehmen“, erläutert er weiter. Bei Kontaktpersonen aus schwierigem Umfeld oder entsprechenden Hinweisen von Nachbarn oder Angehörigen über Missachtung der Quarantäne habe man auch über die städtischen Ortspolizeibehörden Kontrollen veranlasst. Dass die Region die Pandemie bislang gut gemeistert und die erste Welle erfolgreich abgeschwächt habe, sei nicht allein Verdienst des Landratsamtes. „Da haben alle ganz uneigennützig mitgeholfen. Mein Dank geht an die niedergelassenen Ärzte, die mit dem Betrieb des Abstrichzentrums einen ganz wesentlichen Weg der Früherkennung bewerkstelligt haben, aber auch an das Schwarzwald-Baar Klinikum, das seine Kapazitäten schnell ausgebaut hat, so dass man noch alle Behandlungsoptionen hatte. Und nicht zuletzt all den Bürgern, die sich kooperativ an die Empfehlungen gehalten haben.“ Quarantäne und Abstand zeigen Wirkung Dr. Jochen Früh geht davon aus, dass Deutschland aufgrund der bisher gesammelten Erfahrungen mit einer zweiten Welle besser zurechtkommen werde. „Ich schätze, dass man bis zur Rot-Schwelle gut arbeitsfähig bleiben kann. Quarantäne und Abstand zeigen Wirkung.“ Die größte Sorge sei, dass einzelne Krankheitsherde zu Ausbrüchen zusammenfließen und es zu einem exponentiellen Anstieg kommen könnte. Zugleich seien auch andere Szenarien denkbar: Etwa, dass sich aus einem Anstieg auch wieder Ausbrüche in speziell empfängliche Bereiche wie Altenheime, Krankenhäuser, aber auch Fleischfabriken entwickeln könnten. „Das könnte zu einer Zuspitzung führen. Dafür müssen wir uns schulen und vorbereiten.“ Es gelte, einen Weg zu finden, um in Anbetracht der regionalen Häufigkeit die Maßnahmen gezielt steuern zu können. „Etwa Schulen und den ÖPNV hochfahren unter Beobachtung und mit der Tolerierung einer gewissen Rate Dass die Region die Pandemie bislang gut gemeistert und die erste Welle erfolgreich abgeschwächt habe, sei nicht allein Verdienst des Landratsamtes. „Da haben alle ganz uneigennützig mitgeholfen.“ von Fällen.“ Auch Jochen Früh hofft, „dass wir zu unserem freien Leben möglichst bald wieder zurückkehren können“. Zugleich dämpft der Mediziner die Erwartungen an einen Corona-Impfstoff – 40 Impfstoffkandidaten werden Anfang Oktober weltweit in klinischen Studien getestet. Davon, dass einer darunter den Durchbruch bringe, sei er nicht überzeugt. Zu viel hänge von der Oberfläche und der Wandelbarkeit des Virus ab. „Nehmen wir mal die klassische Grippe, die Influenza: Die Impfung hat eine absolute Schutzrate von 60 Prozent. Der Rest bekommt das Virus schwächer, aber ist trotzdem ansteckend.“ Ein hundertprozentiger Schutz sei deshalb auch von einer künftigen Corona-Impfung nicht zu erwarten, ebenso sei es unwahrscheinlich, die Pandemie weltweit durch eine Impfung zu beenden. Manche Viren würden im Verlauf einer Epidemie an Aggressivität zunehmen, andere wiederum sich abschwächen, zugleich komme es in der Bevölkerung zu einer wachsenden Immunität. „Wir gehen davon aus, dass uns Corona in besser beherrschbarer Tendenz die nächsten zwei Jahre begleiten wird, mit kleinen Ausbrüchen und Anstiegen und hoffentlich nicht wieder mit einer Ausnahmesituation wie beim Lockdown“, so die Einschätzung des Mediziners. Rechte Seite: In der Fieberambulanz, oben beim Abstrich. 50 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

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25. Februar 2020 (Fastnachtsdienstag). In VS-Villingen sind zigtausend Narren und fasnetbegeisterte Zuschauer unterwegs. Lachen, feiern, schunkeln – in den vielen Fasnetstüble herrscht die übliche „Druckete“. Das Landratsamt warnt mit Blick auf das fortgeschrittene Infektionsgeschehen in Italien vor dem Corona-Ausbruch auch bei uns. Doch noch hat die Pandemie den Schwarzwald-Baar-Kreis nicht erreicht. Nur wenige Tage nach der Fastnacht tragen ein Kreuzfahrt-Rückkehrer, Ischgl-Urlauber und andere Infizierte die Pandemie in den Schwarzwald-Baar-Kreis hinein. Nachfolgend ein Stenogramm zu den Ereignissen für die Zeit vom 27. Februar bis zum 1. Juli 2020. 52 Corona – Stenogramm einer Pandemie CORONA

 

 

 

STENOGRAMM EINES LOCKDOWNS von Wilfried Dold 53 53 CORONA

 

 

 

Tagtäglich neue Informationen zu Corona – die Interseite www.Lrasbk.de gehört zu den meistbesuchten im gesamten Schwarzwald-Baar-Kreis. 27. Februar # „Infos zum Coronavirus“. Diese Schlagzeile auf der Startseite des Internetauftrittes des Schwarzwald-Baar-Kreises verlinkt auf eine der am meisten besuchten Webseiten der Region: Bis zum 19. Oktober 2020 wurden 779.479 Zugriffe auf die Seite mit den täglich aktualisierten Corona-Daten gezählt! Am 27. Februar 2020 steht unter www.Lrasbk.de zu lesen: „Nachdem vier CoronavirusInfektionen in BadenWürttemberg festgestellt wurden, darunter ein Fall im Nachbarlandkreis Rottweil, behalten die Gesundheitsbehörden die Patienten und deren persönliches Umfeld besonders im Blickfeld.“ Noch hat Corona den Schwarzwald-Baar-Kreis nicht erreicht. 4. März # An der Werkrealschule am Ilben in Furtwangen bestätigt sich bei einem aus Freiburg stammenden Lehrer eine Corona-Infektion. Damit erreicht zugleich der erste SüdtirolCoronafall den Landkreis. Die Werkrealschule wird vollkommen desinfiziert und bleibt bis zum 20. März geschlossen. Die 121 Schüler sind die ersten im Schwarzwald-Baar-Kreis, die im Rahmen des unterstützenden Unterrichts via Internet mit Aufgaben für das Homeschooling versorgt werden. 54 6. März # Die aktuelle Entwicklung verun­ sichert viele Bürger*innen: Das Gesundheitsamt des Schwarzwald-Baar-Kreises schaltet eine Hotline frei – im Verlauf der kommenden 14 Tage gehen über 2.000 Anrufe ein. 7. März # Der erste bekannte Corona­ Fall bei einem Einwohner des Schwarzwald-Baar-Kreises bestätigt sich in St. Georgen, er hat sich wohl bei einer Mittelmeer-Kreuzfahrt infiziert. Die Feuerwehr sagt daraufhin ihre Hauptversammlung ab – Bürgermeister Michael Rieger ruft zur Besonnenheit auf. 10. März # In begründeten Fällen nehmen Ärzte des Schwarzwald­Baar Klinikums ab sofort Corona­Abstriche vor. Die Weltgesundheitsorganisation stuft den Ausbruch des Corona-Erregers nun als Pandemie ein. Trotz aller Aufrufe, nicht in den Hamsterkauf-Modus umzuschalten, decken sich die Bürger auf Wochen hinaus mit Toiletten papier ein. Auch Desinfektionsmittel, Seifen, Nudeln, Mehl und Trockenhefe werden zum Luxus gut. Zu einer generellen Absage kultureller Veranstaltungen kommt es noch nicht, diese wird aber seitens des Gesundheitsministeriums dringend empfohlen. Immer mehr Veranstaltungen werden in der Folge freiwillig abgesagt, zu groß ist das Risiko einer Infektion.

 

 

 

Nicht nur im Villinger Münster bleibt aus Angst vor einer Corona-Infektion das Weihwasserbecken leer, die Hostie wird den Gläubigen auf die Hand gelegt. Bereits jedes zweite Unternehmen in der Region spürt laut einer IHK-Umfrage starke Corona-Auswirkungen. 11. März # Nahezu stündlich wird die Bevöl­ kerung mit neuen Nachrichten zum Coronavirus förmlich überflutet. Die Angst wächst. Gerade ältere Menschen sind besonders gefährdet und ziehen sich vermehrt vorsorglich aus der Öffentlichkeit zurück. Die Hamsterkäufe stellen auch die Tafelläden der Region vor Probleme: Aus den Supermärkten treffen bei ihnen immer weniger Waren ein. 12. März # Weil die Villinger Karl­Brachat­ Realschule eine Klassenfahrt ins Elsass unternommen hatte, wird die neunte Klasse samt sechs Lehrern für 14 Tage vom Unterricht freigestellt. Auslöser ist die Einstufung des Elsass als Corona-Risikogebiet. Während Hochschulen bereits ihren Semesterbeginn verschieben, bleiben die Schulen weiter offen. Immer mehr Veranstaltungen und Zusammenkünfte von Vereinen werden abgesagt. Die Landesregierung verbietet Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Besuchern. Nur zwei Tage später wird die Zahl der maximalen Besucher auf 100 gesenkt. 13. März # In den Fokus des Gesundheitsam­ tes rücken verstärkt auch die Pflegeeinrich­ tungen. Mitarbeitern mit Grippe-Symptomen und Rückkehrern aus Risikogebieten wird geraten, nicht zur Arbeit zu kommen. Besucher mit Erkältungssymptomen dürfen die Einrichtungen nicht mehr betreten. Überall fehlt es an Schutzmasken und -kleidung für das Pflegepersonal. 14. März # Die Landesregierung verkündet die Schließung aller Schulen und Kindergär­ ten ab Dienstag, 17. März. Für Krankenhäuser und Pflegeheime wird ein Besuchsverbot ausgesprochen. Ohne Worte: Die von Kurt Heizmann ins Leben gerufene „Gesellschaft zur Verblüffung des Erdballs“ mit Sitz in Vöhrenbach brachte in Corona-Zeiten die obige Grußkarte in Umlauf (Ausschnitt). Mit dem Erliegen des öffentlichen Lebens im Landkreis ist auch die Sperrung der Spielplätze verknüpft, wie hier in Brigachtal. Corona – Stenogramm eines Lockdowns 55

 

 

 

Um sich vor dem Einschleppen des Coronavirus zu schützen, lagert das Schwarzwald-Baar Klinikum seine Corona-Ambulanz auf das Schwenninger Messegelände aus. Erstmals wird im Schwarzwald-Baar-Kreis die Übertragung einer Corona-Infektion von einer Person zur anderen nachgewiesen. Kreisweit sind sieben Coronafälle bekannt. Landkreisweit registrieren die Beherbungsbetriebe das Ausbleiben von Touristen, die Stornierungen von Buchungen betragen bis zu 80 Prozent. Der Blick auf den Triberger Boulevard zeigt die Dramatik: Wo ansonsten täglich Hunderte von Besuchern entlangschlendern, sind nur vereinzelt Menschen unterwegs. 17. März # Im Schwarzwald­Baar­Kreis wer­ den am Tag vor dem Lockdown elf weitere Coronavirus-Fälle gemeldet. Somit liegen insgesamt 27 bestätigte Fälle vor. 18. März # Es ist ein historischer Augenblick in der Geschichte der Bundesrepublik: Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündet in einer Fernsehansprache den Lockdown, das bislang beispiellose Herunterfahren des öffentlichen Lebens im Land. Angela Merkel: „Es ist ernst. Seit der Deutschen Einheit – nein, seit dem Zweiten Weltkrieg – gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt. … Das Coronavirus verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch.“ Der Lockdown sorgt endgültig für nahezu menschenleere Innenstädte im Landkreis. 21. März # Die Corona­Pandemie trifft neben Industriebetrieben auch die Gastronomie­ und Hotelbetriebe sowie die vielen Selbst­ ständigen mit ganzer Härte. Von Samstag, 21. März 2020, an müssen alle Gaststätten und Restaurants in Baden-Württemberg geschlossen bleiben. Es ist aber möglich, Mahlzeiten abzuholen oder sich ausliefern zu lassen. Schließen müssen ebenso viele Einzelhändler, Caterer oder Fitnessstudios. Ebenso Friseurgeschäfte und ähnliche Betriebe mit engerem Kontakt zu ihren Kunden, um nur einige von vielen 56 Corona fegt die Städte leer – hier in Hüfingen. Auch in VS-Villingen, Donaueschingen oder Bad Dürrheim beispielsweise, präsentieren sich die Innenstädte nahezu menschenleer . Post aus dem Familienzentrum Furtwangen. Der Kindergarten Maria Goretti hatte für alle Kinder einen Brief mit Erde und Blumensamen gerichtet. Denn: „Ohne euch Kinder ist es im Kindergarten still und langweilig! Wir vermissen euer Lachen, unser gemeinsames Spielen, unsere Gespräche…“, schreiben die Erzieherinnen in Corona-Tagen.

 

 

 

Sparten konkret zu benennen. Einzig Geschäfte des täglichen Bedarfs dürfen weiter öffnen. Viele Selbstständige, zumal Kunstund Kulturschaffende, wissen nicht, wie sie wegen der Geschäftsschließungen oder der Absage von Veranstaltungen und Familienfeiern die kommenden Wochen finanziell überstehen sollen. 22. März # Bund und Länder haben sich auf Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coro na virus geeinigt. Versammlungen von mehr als zwei Personen sind verboten. Ausgenommen sind Familien oder Personen, die in einem gemeinsamen Haushalt leben. Außerdem müsse man sich an einen Mindestabstand von 1,5 bis zwei Metern halten. Die Stadt Villingen-Schwenningen überwacht die Einhaltung dieser Regelung mit mehr als 50 Mitarbeitern. Abstand halten gilt es auch auf den Wochenmärkten, die weiter stattfinden dürfen. Die Landesregierung beschließt eine Soforthilfe für Solo-Selbstständige und Kleinunternehmen. Die Angst vor einer Pleitewelle in der Wirtschaft geht immer stärker um. Auch die Bundesregierung kündigt Milliardenhilfen an. Das Gesundheitsamt des SchwarzwaldBaarKreises meldet 76 bestätigte Corona-Fälle: In fünf Tagen haben sich die Infektionen verdreifacht. 23. März # Katholischer Gottesdienst auf YouTube sehr gefragt. Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Lösungen, denn wegen Corona bleiben auch die Kirchen geschlossen. So wird der Gottesdienst des katholischen Pfarrers Martin Schäuble von der Seelsorgeeinheit Oberes Bregtal live auf YouTube ausgestrahlt. Innerhalb von 24 Stunden wurde die in Furtwangen-Neukirch gehaltene Messe auf YouTube mehr als 1.600 Mal aufgerufen, bis heute sind es bald 4.000 Mal. 27. März # Die Zahl der an Coronavirus er­ krankten Personen erhöht sich weiter. Am Freitag, 27. März stellt das Gesundheitsamt des Schwarzwald-Baar-Kreises 153 bestätigte Corona virus-Fälle fest. In fünf Tagen hat sich damit die Zahl der Infizierten verdoppelt. Erstmals beklagt der Landkreis zwei Todesfälle. Die Brüder Felix und Lukas Leicht aus VS-Villingen zeichnen im Homeschooling ein Mutmach-Plakat. Ihr Wunsch: Auch andere Kinder sollen Plakate zeichnen und ins Fenster hängen. Im Corona-geschüttelten Italien singen die Italiener als Dank für ihre Helden des Alltages und zum Mutmachen auf den Balkonen gegen das Virus an. Die Menschen in Villingen-Schwenningen veranstalten am 22. März ebenfalls ein Balkonkonzert. Zu den Akteuren zählt auch die Familie Tröndle, hier Greta und Oskar Tröndle zusammen mit Vater Alexander. Corona – Stenogramm eines Lockdowns 57

 

 

 

Weil es überall an Schutzmasken fehlt und die Politik samt der Virologen die zunächst bezweifelte Schutzwirkung der Masken jetzt bestätigt, nähen unzählige Frauen im Landkreis Stoffmasken. Unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ bieten die Städte und Gemeinden auf der Südbaar ihren Händlern, Handwerkern und Gastro nomen eine neue Online-Vermarktungsplattform an. Überall im Landkreis versuchen von der Corona-Schließung betroffene Selbstständige, sich über Internetplattformen eine neue Geschäftsgrundlage zu erschließen. In VS-Schwenningen näht ein 15-jähriges Mädchen zusammen mit der Mutter kostenlos Atemschutzmasken, die ersten zehn gehen an eine Arztpraxis. Da Atemschutzmasken fast nicht zu bekommen sind, greifen immer mehr Frauen zur Selbsthilfe. In VS-Villingen überwacht jetzt im Auftrag der Stadt ebenso ein privater Sicherheitsdienst die Einhaltung der Corona-Verordnungen. 28. März # Im Schwarzwald­Baar­Kreis gibt es 179 bestätigte Corona­Fälle. Erstmals werden wegen Verstößen gegen die Corona-Verordnungen Bußgelder verhängt. Und in nur vier Tagen wird in der Schwenninger Tennishalle eine neue Fieber-Ambulanz sprichwörtlich aus dem Boden gestampft. Fünf Behandlungszelte stehen darin zur Verfügung (s. Foto S. 74/75), drei Ärzte sind im Dienst, helfen mit, die Arztpraxen im Landkreis zu entlasten. Die Zahl der Covid-19-Patienten im Schwarzwald-Baar Klinikum hat sich auf 37 Fälle verdreifacht. Betroffen sind nun auch die Altenund Pflegeheime in Niedereschach und St. Georgen. Noch immer lehnen zahlreiche Politiker eine Pflicht zum Tragen von Schutzmasken ab. 31. März # Ausgangssperre für Riedböhrin­ gen: Die Stadt Blumberg verhängt in Abstimmung mit dem Landratsamt im Kampf gegen das Coronavirus eine Ausgangssperre für Riedböhringen. Hintergrund ist die hohe Zahl an Infizierten: Von 29 am Coronavirus erkrankten Personen in Blumberg haben 22 ihren Wohnsitz in Riedböhringen. Ursache des Ausbruchs war ein Ischgl-Aufenthalt. Positives ist indes aus den Schulen zu hören: Die Schüler*innen lernen zu Hause gut, das bestätigen ihre Klassenlehrer*innen bei Umfragen. Wesentlichen Anteil haben die Mütter, die 58

 

 

 

Die Großeltern vermissen die Enkelkinder – die Enkelkinder ihre Großeltern. Die abgebildete Plakatfolge drückt aus, was viele Menschen im Landkreis empfinden: Corona macht einsam. vielfach wegen geschlossener Kindergärten und Schulen ihrer beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen können. 01. April # Es fehlt weiter an Masken. Zu einer Nähaktion rufen die DRK-Kreisverbände Villingen-Schwenningen und Donaueschingen auf. Die Schutzmasken sollen an die Feuerwehren und die Mitarbeiter von sozialen Diensten ausgegeben werden. Auch ansonsten steigt die Schutzmaskenproduktion stark an, immer mehr Bürger*innen greifen zur Selbsthilfe. Selbst mit dem 3D-Drucker werden Masken produziert. Die Soforthilfe des Landes Baden-Württemberg für Solo-Selbstständige und Betriebe bis zu 50 Mitarbeitern findet großen Widerhall: In den ersten fünf Tagen gehen bei der IHK bereits über 5.300 Anträge ein. Weiterhin Notstand herrscht bei der Versorgung mit Toilettenpapier, das in den Supermärkten kaum zu bekommen ist. Gleiches gilt für Desinfektionsmittel. 03. April # Noch schwerer als sonst ist die Arbeit der Lkw­Fahrer, ohne die in CoronaZeiten nichts mehr gehen würde. Da viele Rastplätze und öffentliche Toiletten wegen Corona geschlossen sind, stellt das Bräunlinger Unternehmen Straub für die Lastwagenfahrer drei Toilettenwagen auf. Der VerpackungsSpezialist liefert die Schachteln für die Berge an Internet-Bestellungen. Schwer trifft Corona das St. Georgener Seniorenpflegeheim Lorenzhaus, in dem acht Fälle registriert sind. 04. April # „Oma und Opa fehlt uns“. Plakate und Zeichnungen mit diesen Inhalten sieht man im Landkreis immer häufiger (siehe Fotofolge links). Die Senioren*innen leiden unter dem Besuchsverbot in den Pflegeeinrichtungen und sollen auch ansonsten aus Gründen der Ansteckungsgefahr keinen Kontakt zu Kindern und Enkelkindern haben. In Mönchweiler kommt es zu drastischen Schritten: Wegen vielfachen Ignorierens des Besuchsverbotes, wird um einen Wohnpark für Senioren ein Stahlgitterzaun gezogen. 59

 

 

 

Vom Pferd aus kontrollierte die Polizei auf dem Landesgartenschaugelände in VS-Schwenningen am Ostersamstag und -sonntag das Einhalten der Corona-Regeln. 06. April # Einbahnregelung um die Linach­ talsperre. Weil es auf der Mauerkrone der Linachtalsperre und dem dortigen Rundweg eng hergeht, beschließt die Stadt Vöhrenbach zur Sicherstellung der Abstandsregeln eine „Einbahnregelung“. Die Beschränkung hat einen realen Hintergrund: Es wird Frühling und es zieht die Menschen überall hinaus in die Natur. Da Reisen unmöglich geworden sind, wird zu Fuß oder mit dem Bike stärker denn je die Heimat erkundet. Die Stadt Bad Dürrheim verhängt als eine der ersten im Landkreis eine Haushaltssperre, da aufgrund der Pandemie hohe Verluste bei den Einnahmen befürchtet werden. 08. April # Chinesische Schüler sitzen fest. Auch die Zinzendorfschulen in Königsfeld stellten im Rahmen des Lockdowns ihren Betrieb ein. Für 17 chinesische Internatsschüler bedeutet die Schulschließung unter Corona-Vorzeichen, dass sie in den Ferien nicht wie gewohnt nach Hause fliegen können. Sie erfahren großes Misstrauen vonseiten der Königsfelder: Gehen die Schüler in dem Kurort spazieren, wechseln nicht wenige Bürger die Straßenseite. 10 ­ 13. April # Furcht vor den Ostertagen. Rechtzeitig zu den Osterfeiertagen entspannt sich die Corona-Situation im Schwarzwald-BaarKreis leicht. Am Karfreitag, 10. April, werden 142 Fälle gemeldet, die bereits wieder gesund sind. Insgesamt liegt die Zahl der bestätigten Corona virus-Fälle bei 362, die genesenen Fälle sind hierin enthalten. Es gibt somit 220 infizierte Personen, drei Todesfälle sind zu beklagen. Ein Osterfest ohne Gottesdienste, das hat es sehr lange nicht mehr gegeben – wenn überhaupt. Mittlerweile übertragen gleich mehrere Kirchengemeinden die Gottesdienste live auf Youtube, zumal die Feiern zur Osternacht. Wie ernst es damit ist, auch im Freien die Sicherheitsabstände einzuhalten, dokumentiert der Ruf nach einer Polizei-Reiterstaffel zur Überwachung der Parkanlagen in VS-Schwenningen. Beim Einsatz über die sonnigen Osterfeiertage hinweg bleibt aber alles ruhig. Junge Menschen tun sich mit den Abstandsregeln oft schwer. 60

 

 

 

Das sonnige Wetter lockte an Ostern die Menschen ins Freie – so in die Wälder, aber auch an die Linachtalsperre bei Vöhrenbach. Abstand halten hieß es auch beim Betreten der Geschäfte. 15. April # Die Lage entspannt sich weiter, 194 Corona-Kranken stehen 193 Genesene gegenüber. Insgesamt gibt es 397 bestätigte Corona-Fälle, zehn Todesfälle sind hierin enthalten. 20. April # Viele Geschäfte sind endlich wie­ der offen! Bei strengen Sicherheitsregeln dürfen nach fünf Wochen Schließung kleinere und mittelgroße Geschäfte wieder öffnen. Überall freuen sich die Menschen darüber, dass in die Innenstädte wieder das Leben zurückkehrt. Auch die Eisdielen können zumindest den Straßenverkauf aufnehmen. Anders verhält sich die Situation bei der Gastronomie, die weiter um ihre Existenz kämpft. Viele Gastronomen verkaufen ihr Essen auf die Straße oder liefern die Mahlzeiten nach Hause, doch der Ausfall an Einnahmen im Gefolge des Lockdowns kann so nur teilweise ausgeglichen werden. Auch die Hoteliers und mit ihnen die Urlaubsregionen im Landkreis befinden sich in höchster Not. Derweil fordert Corona weitere Opfer: Zwölf Menschen sind im Schwarzwald-Baar-Kreis der Seuche bereits erlegen. 23. April # Sonntagsessen für alle! Zu einem symbolischen Preis von einem Euro für Erwachsene und 20 Cent für Kinder bietet das Rote Kreuz in Villingen-Schwenningen eine warme Mahlzeit an. Hauptzielgruppe sind die Bürger*innen, denen es nicht so gut geht. Das Corona-Hilfsprojekt „Deine Einkaufstüte“ erfreut sich großen Zuspruchs. Denn die Zahl der Hilfsbedürftigen wird auch nach Wiederöffnung der Tafelläden nicht kleiner. Die Tüten voller Lebensmittel werden mit fünf Fahrzeugen ausgeliefert und vor Haustüren abgestellt, hinter denen Menschen leben, die in Coronazeiten auf Hilfe dringend angewiesen sind. Solidaraktionen wie diese gibt es auch andern orts, so beispielsweise in Donaueschingen seitens der katholischen Kirchengemeinde. Weil sie denen helfen will, denen es am Nötigsten fehlt. 24. April # Leere Arztpraxen! Aus Furcht vor einer Corona-Ansteckung gehen viele Menschen 61

 

 

 

Oben: Viel Zeit für den Garten haben im Frühjahr 2020 nicht nur Senior*innen: Der Lockdown schickt so viele Menschen wie selten zuvor in Kurzarbeit. Impression aus der Loretto-Gartenanlage in VS-Villingen. nicht mehr zum Arzt. Was zuvor undenkbar schien, ist eingetreten: Den Ärzten gehen scheinbar die Patienten aus… Diese Vorsicht wäre einem an Diabetes erkrankten 15-jährigen Mädchen fast zum Verhängnis geworden, sie konnte in letzter Minute gerettet werden. Viele Patienten leiden darunter, dass im Schwarzwald-Baar Klinikum wegen Corona selbst dringende Operationen nicht ausgeführt werden dürfen. Weiter ist es nicht erlaubt, die Patienten zu besuchen. Auch Zahnarztbesuche sind nur bei akuten Schmerzen möglich. 27. April # Die Schulen unterrichten wieder! Nach sieben Wochen ohne Präsenzunterricht öffnen sich für die Abschlussklassen wieder die Schulen – doch an einen regulären Unterricht ist zunächst nicht zu denken. Es kommt zum Schichtbetrieb und selbst Sporthallen werden zu Klassenzimmern umfunktioniert, um die Hygieneregeln erfüllen zu können. Nach vielen Irrungen und Verwirrungen gilt in Baden-Württemberg zeitgleich mit dem teilweisen Öffnen der Schulen die Maskenpflicht beim Einkaufen und bei der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Der Mundschutz wird zur begehrten Ware – auch weiterhin können nicht alle Bürger*innen mit einem „Maultäschle“ versorgt werden. Ab sofort darf man unter Einhaltung strenger Hygieneauflagen wieder zum Friseur – und es werden wieder öffentliche Gottesdienste abgehalten. 01. Mai # Die Zahl der Corona­Infektionen sinkt! Nach wie vor sind die aktuellen Zahlen auf der Internetseite www.Lrasbk.de die mit am meisten verfolgten Neuigkeiten des Tages: Am Freitag, 1. Mai, werden 366 Fälle gemeldet, die bereits wieder gesund sind. Insgesamt liegt die Zahl der bestätigten Corona-Fälle bei 498, was 116 aktuelle Infektionen ergibt. Damit haben sich die Infektionen im Vergleich zu Mitte April in etwa halbiert. Es ereigneten sich mittlerweile 16 Todesfälle. 03. Mai # Corona bringt den Arbeitsmarkt im Schwarzwald-Baar-Kreis erwartungsgemäß kräftig in Schieflage. Ein Drittel aller Unter62 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

Schutzmasken bleiben auch im Mai weiter Mangelware. Aber endlich darf man zum Friseur und in Blumberg fährt wieder die Sauschwänzlebahn. Das tolle Wetter lockt die Menschen ins Freie, gut besucht sind Ausflugsziele wie der Blindensee. nehmen im Schwarzwald-Baar-Kreis hat bei der Bundesagentur für Arbeit bis Anfang Mai Kurzarbeitergeld beantragt, das sind 2.085 von 5.647 Betrieben. Besonders betroffen ist das Gastgewerbe, das seit Wochen weitgehend brach liegt. Am Beginn der Corona-Krise arbeiteten gerade einmal 179 Firmen kurz. Von der Kurzarbeit sind somit über 29.000 Beschäftigte betroffen. Die Zahl der Arbeitslosen steigt im Mai auf 11.529 Personen – 4.271 Personen mehr als noch vor einem Jahr. Die Zahl der Anträge auf Soforthilfe hat mittlerweile in der Region SchwarzwaldBaarHeuberg die 10.000er Marke durchbrochen. 04. Mai # Recycling­Center und Wertstoff­ höfe kehren zu üblichen Öffnungszeiten zurück! Mit Beginn der Corona-Krise und bei steigenden Kurzarbeiter-Zahlen verbringen immer mehr Menschen ihre Freizeit mit dem Aufräumen von Speicher und Keller oder mit Garten arbeiten. Es kommt zum Ansturm auf Recycling-Center und Wertstoffhöfe: Dort bilden sich lange Schlangen, Sonderöffnungszeiten werden erforderlich. Nun kehrt auch hier ein Stück weit der Alltag zurück. 06. Mai # Dem Landkreis fehlen 9,1 Mio. Euro. Im Zuge der Corona-Krise geht der Schwarzwald-Baar-Kreis von einem erheblichen Loch in seiner Haushaltskasse aus: Landrat Sven Hinterseh beziffert das Defizit auf 9,1 Mio. Euro. 08. Mai # Die Corona­Situation im Landkreis bleibt entspannt. Die Corona-Abteilung des Schwarzwald-Baar Klinikums in Donaueschin gen verfügt über 130 freie Beatmungsplätze, 30 Corona-Patienten werden stationär behandelt. 11. Mai # Dichtes Gedränge in den Innenstäd­ ten. Im Gefolge der Abmilderung des Coronavirus, aktuell gibt es im Landkreis noch 85 aktive Fälle, sehnen sich die Menschen nach Normalität. Anderen gehen die Lockerungen nicht weit genug, es kommt auch in VS-Villingen zu Demonstrationen wegen Einschränkungen der Grundrechte im Zuge der Pandemie. Weitere Proteste folgen. 63

 

 

 

12. Mai # Internet mildert ein Stück weit die Isolation. Das Coronavirus hat in den Altenund Pflegeheimen im Landkreis zu einer großen Isolation der Bewohner geführt. Manche Einrichtungen wie das Lorenzhaus in St. Georgen entwickeln sich zu einem Hotspot, dort steckten sich 17 Bewohner und 19 Mitarbeiter an. Was einmal mehr aufzeigt, wie gefährlich Corona gerade für Menschen in Altenpflegeeinrichtungen ist. Um die Isolation ein Stück weit aufzubrechen, nehmen die Senioren via Smartphone und Tablet den Kontakt zu Kindern und Enkelkindern auf – unterstützt durch das Pflegepersonal. In Villingen-Schwenningen übergibt das DRK 1.000 selbst genähte Alltagsmasken: Die Masken sind für die Mitarbeiter der Kreisund der Stadtverwaltung genäht worden. Wie sehr die Corona-Soforthilfe von Unternehmen angenommen wird, verdeutlicht eine Zahl aus der Doppelstadt: Allein in Villingen-Schwenningen wurden bereits 14 Mio. Euro ausbezahlt. 13. Mai # Digitales Semester aufgestellt. In kürzester Zeit hat die Fachhochschule Furtwangen ihren Vorlesungsbetrieb ins Digitale überführt. Die Hochschule mit fast 6.000 Studenten verlegte ihren gesamten Vorlesungsbetrieb ins Internet, investierte dazu kräftig in Software und in den Ausbau von System-Kapazitäten. Bis zu 2.500 Studenten gleichzeitig nehmen am Vorlesungsbetrieb teil. 18. Mai # Ein deutliches Stück mehr Norma­ lität kehrt zurück. Es hat lange gedauert, aber jetzt dürfen Angehörige wieder als Besucher ins Schwarzwald-Baar Klinikum: Pro Patient und Tag je ein Besucher, lautet die Regel. Am Wochenende 16./17. Mai öffnen überall im Landkreis wieder die Museen. Verhalten ist die Freude bei den Gastronomen: Sie können zwar wieder Gäste bewirten, doch müssen strenge Hygieneund Abstandsregeln eingehalten werden, was deutlich weniger Sitzplätze bedeutet. Die Gäste kehren zurück – aber anfangs noch verhalten. Die finanzielle Lage in der Gastronomie bleibt mehr als angespannt. Eine Woche nach der Wiedereröffnung 64 fällt die Bilanz der meisten Wirte durchwachsen aus, aber die Tendenz ist steigend. Die Kindergärten bereiten sich auf die Wiederaufnahme eines allerdings eingeschränkten Regelbetriebes vor. 29. Mai # Hotels nehmen wieder Privatgäste auf. Die schlimmste Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges erlebten die Hoteliers im Landkreis. Zunächst durften nur Geschäftsreisende beherbergt werden, doch rechtzeitig zum Pfingstwochenende dürfen auch wieder Privatpersonen in Hotelsund Gaststätten übernachten. Aber die Menschen sind noch verängstigt und unsicher, melden die Beherbergungsbetriebe zurück. 30. Mai # Pfingstfeiertage im Schatten von Corona. Zu Pfingsten finden in den Kirchen bei

 

 

 

Am 15. Juni öffnen im Großraum Blumberg wieder die Grenzübergänge in die Schweiz, oben die im Gefolge der Pandemie errichtete Sperre bei Fützen. begrenzten Teilnehmerzahlen wieder Gottesdienste statt, die zudem online angeboten werden. Da die Grenzen weiter geschlossen sind, bleiben die meisten Menschen über die Feiertage hinweg daheim, freuen sich am Garten, wandern oder fahren mit dem Rad. Die Nachfrage nach Tourismusangeboten ist im Landkreis groß. Während die Hotels weiter Auf den Besuch der Freibäder müssen die Menschen im Schwarzwald-Baar-Kreis auch im Sommer 2020 nicht verzichten, hier das Villinger Kneippbad. klagen, ist die Zahl der Tagesausflügler enorm. Auch die Gaststätten zeigen sich mit dem Betrieb über Pfingsten überwiegend zufrieden. Die verstärkten Inland-Anfragen nach Prospekten zeigen den Trend des Jahres 2020 früh auf: Die Deutschen buchen ihren Urlaub überwiegend im Heimatland. Im Schwarzwald-Baar-Kreis führt das früh zu ausgebuchten Ferienwohnungen und dicht belegten Campingplätzen. 12. Juni # Corona sorgt für mehr Gewalt gegen Frauen. Da die Alltagsstrukturen nicht mehr gegeben sind und die Menschen über Wochen hinweg eng beieinander leben, steigt im Frauenund Kinderhaus in Villingen-Schwenningen die Zahl der Hilferufe deutlich. Da die Einrichtung voll belegt ist, übernimmt unter anderem der Schwarzwald-Baar-Kreis die Kosten für die anderweitige Unterbringung betroffener Frauen und Kinder. 15. Juni # Schritt hin zu mehr Normalität. Ab heute gehen die Schüler*innen zumindest zeitweise wieder zur Schule. Der Präsenzunterricht wird mit dem Homeschooling kombiniert. Nach anderen Freibädern öffnet in VillingenSchwenningen das Kneippbad. Weitere Freibäder wie das Tannheimer können die CoronaBedingungen nicht erfüllen und bleiben geschlossen. Auf den Hilferuf eines Tannheimers an Udo Lindenberg schreibt der Sänger zurück: „No Panic – next Year!“ Das Schwarzwald-Baar Klinikum fährt kontinuierlich seinen regulären Betrieb wieder hoch. Am Klinikum werden noch 13 Corona-Patienten behandelt. Insgesamt gibt es 23 aktiv Erkrankte, die Zahl der Todesfälle beläuft sich auf 30. Die Gesamtzahl der Corona-Fälle beträgt 571. Endlich öffnen sich wieder die Grenzen in Richtung Schweiz. (Mit dem 15. Juni endet dieses Stenogramm zum CoronaLockdown im ersten Halbjahr 2020. Aufgrund der vielen Ereignisse kann diese Schilderung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie basiert im Wesentlichen auf der Bericht erstattung der Tageszeitungen, amtlichen Mitteilungen und den Inhalten der kommunalen Nachrichtenblätter.) 65

 

 

 

66 66 Corona – Stenogramm einer Pandemie CORONA

 

 

 

IM GESPRÄCH MIT DR. MED. HINRICH BREMER von Nathalie Göbel 67 CORONA

 

 

 

Es war ein düsteres Worst-Case-Szenario: 40 bis 45 neue Lungenentzündungen täglich, verursacht durch das neuartige Coronavirus, wären demnach auf das Lungenzentrum am Schwarzwald-Baar Klinikum zugekommen. Täglich rund 40 neue, schwer kranke Patienten, die zu versorgen gewesen wären, womöglich beatmet und sediert. So lautete die Berechnung Ende März anhand der Wachstumsrate von Neuinfektionen. „Das“, sagt Hinrich Bremer, „hätten wir nicht geschafft.“ Dann kam der Lockdown – und mit ihm reduzierten sich die Wachstumsraten. „Dr. med. Hinrich Bremer, Leiter der Pneumologie/Stellvertretender Leiter des Lungenzentrums, Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie/Allgemeine Innere Medizin“ steht auf der Webseite des Klinikums unter seinem Foto. Im Jahr 2020 müsste noch „Team CoronaKrisen-Management“ dabei stehen. An einem Spätsommernachmittag sitzt der gebürtige Marburger in seinem Büro im dritten Stock des Schwarzwald-Baar Klinikums in Donaueschingen. Aus dem Fenster geht der Blick auf die Baar – und auf einen vollen Parkplatz. Im Haus herrscht inzwischen wieder Normalbetrieb: Am Standort Donaueschingen werden nicht mehr ausschließlich Covid-19-Patienten versorgt. Vor wenigen Monaten war das noch anders. Die Corona-Welle, die das Land im Frühjahr mit voller Wucht überrollte, im März zum Lockdown führte, die Wirtschaft in die Knie zwang und das Gesundheitssystem zu überfordern drohte, traf das Klinikum jedoch nicht unvorbereitet. „Wir waren schon seit Februar im Krisenmodus“, sagt Hinrich Bremer. Teamleistung ist gefordert Doch wie managt man eine Krise, für die es keine Blaupause gibt? Naturkatastrophen, Grippewellen, Wirtschaftskrisen, all das gab es schon in unterschiedlicher Ausprägung. Und jetzt: Ein neues Virus, das mutmaßlich von einem Markt im chinesischen Wuhan aus, seinen tödlichen Kurs auf die ganze Welt aufnahm. Ein perfides Virus, das ältere und durch Vorerkrankungen geschwächte Menschen töten kann, während es bei jungen und gesunden Menschen häufig wenige bis gar keine Symptome hervorruft und sie andere aber dennoch anstecken können. Die letzte echte Pandemie haben allenfalls hochbetagte Menschen miterlebt, die zum Ende des Ersten Weltkriegs selbst noch Kleinkinder waren. Die letzte echte Pandemie haben allenfalls hochbetagte Menschen miterlebt, die zum Ende des Ersten Weltkriegs selbst noch Kleinkinder waren: Zwischen 1918 und 1920 forderte die Spanische Grippe weltweit 50 Millionen Todesopfer, mehr als der Erste Weltkrieg in den Jahren zuvor. „Erst einmal muss man die Krankheit und die Dimension dessen begreifen, was von einem verlangt wird“, sagt Hinrich Bremer, der seit Ende 2007 am Schwarzwald-Baar Klinikum tätig ist. Eine Teamleistung, in die neben Ärzten und Pflegekräften des Lungenzentrums auch viele andere medizinische Abteilungen des Klinikums eng eingebunden waren. Alle nicht lebensnotwendigen Operationen der Orthopädie beispielsweise, waren in der Hochphase der Pandemie abgesagt worden. „Die Orthopäden waren praktisch überall im Dienst“, sagt Hinrich Bremer, „die Anästhesisten übernahmen die Betreuung der schwerstkranken, beatmungspflichtigen Patienten.“ Die positiven Effekte interdisziplinärer Zusammenarbeit ließen nicht lange auf sich warten. „Wir haben beispielsweise sehr früh damit angefangen, schwere Verläufe mit Kortison zu behandeln und auch mit Medikamenten, die bereits in anderer Indikation verwendet wurden“, blickt Hinrich Bremer zurück. Eines dieser Medikamente heißt Ruxolitinib, eine Idee des Direktors der Klinik für Innere Medizin II, Professor Paul Graf La Rosée. Normalerweise wird Ruxolitinib bei bestimmten Blutbildkrankheiten eingesetzt. Die 68 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

Dr. Hinrich Bremer, Leiter der Pneumologie/Stellvertretender Leiter des Lungenzentrums am Schwarzwald-Baar Klinikum in Donaueschingen. Erkenntnisse aus dieser Arbeit sind mittlerweile in eine Studie eingeflossen und publiziert. „Da waren wir nicht ganz unerfolgreich“, sagt Bremer und meint die sehr guten Ergebnisse. können bei Covid-19 eine fatale Rolle spielen. Die Hyperinflammation ist eine Überreaktion des Immunsystems als Folge der Virusinfektion, die auch körpereigene Strukturen angreift. Sterblichkeit betrug 17 Prozent Daten von 196 auf diese Art behandelten Patien ten des Schwarzwald-Baar Klinikums – Durchschnittsalter 70 Jahre – sind in die Studie eingeflossen. Demnach betrug die Sterblichkeit 17 Prozent, der Anteil der invasiven Beatmung lag bei vier Prozent. Zum Vergleich: In einer Studie der AOK mit 10.021 Patienten, Durchschnittsalter 72 Jahre, lag die Sterblichkeitsrate bei 22 Prozent, 13 Prozent wurden invasiv beatmet. Der Nutzen des Kortisons Dexamatheson konnte mittlerweile auch wissenschaftlich gesichert werden. Das künstlich hergestellte Glucocorticoid dämpft das Immunsystem und wirkt entzündungshemmend – und Entzündungen „Schwere Verläufe mit einem Hyperinflammationssyndrom sind insgesamt zwar selten, aber mit einer hohen Mortalität assoziiert“, schreibt das Robert-Koch-Institut in einem Handout namens „Hinweise von Klinikern für Kliniker“. Schwere Verläufe gab es auch am Schwarzwald-Baar Klinikum Ab Mitte März wurden am Standort Donaueschingen nur noch Covid-19-Erkrankte behandelt. Die Notaufnahme wurde geschlossen, Notfallpatienten ans Schwarzwald-Baar Klinikum in Villingen-Schwenningen verwiesen. Der Tagesablauf in diesen ersten Pandemie-Wochen? Anstrengend. „In dieser Zeit habe ich eigentlich Im Gespräch mit Dr. med. Hinrich Bremer 69

 

 

 

nur gearbeitet oder geschlafen“, sagt Hinrich Bremer. Jeden Tag fanden interdisziplinäre Fallbesprechungen statt, Videokonferenzen, jeden Morgen meldete das Institut für Klinische Pharmazie – die klinikeigene Apotheke – den Bestand an Medikamenten. Auch am Schwarzwald-Baar Klinikum gab es schwere Verläufe. 270 Covid-19-Patienten hat das Klinikum – Stand Ende August 2020 – behandelt. Das klingt zunächst einmal nicht viel. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 hat das Lungenzentrum 2.400 Patienten stationär und über das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) etwa 5.000 Patienten ambulant behandelt. Geht man jedoch davon aus, dass jeder der stationär aufgenommenen Covid-19-Patienten theoretisch einen schweren Verlauf hätte entwickeln können, erscheint die Zahl 270 nicht mehr so gering. Intensivtherapie teilweise durch Patientenverfügungen ausgeschlossen Zum Teil, sagt Hinrich Bremer, habe man die Patienten nur noch palliativ behandeln können. Zum einen, weil manche die Intensivtherapie bereits durch entsprechende Patientenverfügungen ausgeschlossen hatten, zu schwer waren bei anderen die Auswirkungen auf das komplexe Zusammenspiel aller Funktionen im menschlichen Körper. „Bei den schweren Fällen kam es häufig zum respiratorischen Versagen“, schildert er. Die meisten dieser Patienten mussten beatmet werden, häufig sei es zu Organversagen gekommen. Der Altersdurchschnitt der 35 Todesopfer im Landkreis (Stand Anfang Oktober) habe bei rund 82 Jahren gelegen. „Da geht es auch viel um ethische Fragen“, sagt Bremer. „Zum Beispiel die Frage, wie lange man eine Intensivtherapie fortsetzt, zumal viele Patienten schwer vorerkrankt waren.“ Zum Glück habe man nicht so reagieren müssen, wie es in Nachbarländern – beispielsweise im Elsass – der Fall war, wo die Behandlungkapazitäten erschöpft waren. „Dort mussten die Kollegen ressourcenorientiert versorgen und haben Patienten teilweise nach Deutschland verlegt“, sagt Bremer. Erst einmal muss man die Krankheit und die Dimension dessen begreifen, was von einem verlangt wird. Dort stellten sich dann auch die Fragen, die ansonsten eher in der Theorie in Ethikoder Philosophiekursen diskutiert werden, die während der Hochphase der Pandemie im Frühjahr auch in Italien und New York bittere Realität wurden. Nämlich die Frage, wer die besten Überlebenschancen hat und damit bevorzugte Behandlung erhält. Stichwort: Triage. Fragen, die man sich am Schwarzwald-Baar Klinikum glücklicherweise nicht zu stellen brauchte. Wohl aber diejenige, wie man einer fast unkalkulierbaren Gefahr begegnet. Wie viele Menschen werden schwer an Covid-19 erkranken? Wie viele Erkrankte haben Infizierte bis zu ihrer eigenen Diagnose angesteckt? Kann das Klinikum einen Massenansturm von Patienten bewältigen? Und nach welchen Konzepten geht die Versorgung vonstatten? Situation ist beherrschbar geblieben „Ein großer Segen war, dass wir schnell damit begonnen haben, standardisierte Behandlungen nach vorab definierten Parametern vorzunehmen“, sagt Hinrich Bremer. So wurde etwa sechs Mal täglich die Sauerstoffsättigung der Patienten gemessen, um Veränderungen so schnell wie möglich zu bemerken. Standardisiert wurde auch der Aufnahmebogen. Ohne die Frage beantwortet zu haben, ob im Ernstfall eine Maximaltherapie erwünscht ist, konnte das Dokument gar nicht erst abgespeichert werden. Fragen, mit denen sich niemand gerne beschäftigen möchte. Doch das Virus hat viele ethisch-politische Fragestellungen aufgeworfen. „Da ist ja auch die politische Dimension und die Frage, was wir – am Beispiel von Todesfällen – bereit sind, zu akzeptieren“, sagt 70 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

Um einen sicheren Umgang mit den Beatmungsgeräten zu garantieren, gab es am Schwarzwald-Baar Klinikum zahlreiche Schulungsangebote. Niemand käme auf die Idee, Autobahnen zu sperren, weil es tödliche Unfälle gibt. Zugleich hat man es über Jahrzehnte hingenommen, dass jedes Jahr Hunderttausende Tote auf das Konto der Tabakindustrie gingen. der Mediziner. „Niemand käme auf die Idee, Autobahnen zu sperren, weil es tödliche Unfälle gibt. Zugleich hat man es über Jahrzehnte hingenommen, dass jedes Jahr Hunderttausende Tote auf das Konto der Tabakindustrie gingen.“ Dass das neuartige Coronavirus die Welt derart in Atem halten könnte, habe er schon früh für möglich gehalten. „Noch im Januar habe ich einen Ärztekongress in Berlin besucht, auf dem ein angesehener Professor das Virus als ‚harmlos‘ einstufte. Ich war, ehrlich gesagt, angesichts der Bilder, die man aus Wuhan sah, damals schon skeptisch, ob es wirklich so harmlos ist.“ Hat der 50-Jährige selbst Angst vor Covid-19? „Ich sag’s mal so: Mein Testament habe ich nicht gemacht“, sagt Hinrich Bremer und lacht. Respekt, ja, der sei vorhanden, vor der Krankheit an sich, aber in erster Linie vor der Frage, ob die Situation beherrschbar ist und es auch bleibt. Dies sei gelungen, weil jedes Teammitglied den absoluten Willen gehabt habe, die Coronakrise so gut wie möglich zu meistern. Viel Pragmatismus und eine hohe Solidarität hätten jene Zeit geprägt. „Da wurde nichts von ‚oben‘ vorgegeben.“ Da gab es das Hilfsangebot eines Altenheims, das dem Klinikum seinen halben Im Gespräch mit Dr. med. Hinrich Bremer 71

 

 

 

Jedes Teammitglied hatte den absoluten Willen, die Corona-Krise so gut wie möglich zu meistern. Bestand an Schutzkleidung spendierte, da gab es einen guten Freund von Hinrich Bremer, der in nur einer Nacht eine App programmierte, um die Rekrutierung von Fachkräften zu vereinfachen. Da gab es den schwer an Covid-19 erkrankten französischen Patienten, der Ende März von der französischen Luftrettung eingeflogen und Wochen später geheilt entlassen wurde. Und es gab Dankbarkeit von Menschen, die das Coronavirus beinahe das Leben gekostet hätte. „Wir haben im Nachgang viele sehr nette Briefe bekommen“, freut sich Dr. Bremer. Infektionsketten werden unterbunden Warum gelang es Italien nicht, die Pandemie einzudämmen, warum starben dort so viele Menschen? „Dazu haben viele Faktoren geführt“, sagt Hinrich Bremer. Ein Grund sei das höhere Durchschnittsalter der Menschen und die Tatsache, dass man anfangs nicht mit Corona gerechnet und dementsprechend auch nicht getestet und sich geschützt hatte. „Man darf auch nicht vergessen, dass wir in Deutschland vier Wochen Vorsprung hatten.“ In Ein großer Segen war, dass wir schnell damit begonnen haben, standardisierte Behandlungen nach vorab definierten Parametern vorzunehmen. Italien sei anfangs keine Teststruktur vorhanden gewesen. Zugleich gab es mit dem Fußballspiel Bergamo-Valencia am 19. Februar vor knapp 45.000 Fans einen regelrechten Brandbeschleuniger. Nach diesem Match, sagt Hinrich Bremer, „sind wahrscheinliche Hunderte mit dem Virus aus dem Stadion gegangen“. In Deutschland sei ein Vorteil die weitaus größere Zahl an Laboren, auch wenn deren Testkapazitäten zu Beginn der Coronakrise äußerst begrenzt gewesen seien. „Ganz am Anfang konnte nur die Charité in Berlin testen und es dauerte ganze drei Stunden, ein einziges Röhrchen auszuwerten.“ Mittlerweile werden bundesweit an jedem Tag Hunderttausende Test-Kits in den Laboren bearbeitet. Ein Zustand, 72 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

Die französische Luftrettung brachte einen schwer an Corona erkrankten Patienten nach Donaueschingen. von dem man im Frühjahr weit entfernt war – auch in Italien, weshalb man dort anfangs keine Infektionsketten habe unterbinden können. Das gelingt mittlerweile in vielen Fällen, unter anderem dank der Kontaktdatenerfassung, etwa beim Schwimmbadoder Restaurantbesuch. Dennoch: Nach dem Ende der Sommerferien sind die Infektionszahlen bundesweit wieder angestiegen. Infizierte Reiserückkehrer einerseits, Leichtsinn angesichts der Lockerungen andererseits – die steigenden Zahlen beweisen im Spätsommer eindrücklich, dass dem Corona virus die Puste noch längst nicht ausgegangen ist. Der Schwarzwald-Baar-Kreis ist bis dahin mit einem blauen Auge davon gekommen. Ausblick auf die kalte Jahreszeit Wie wird’s im Winter? Wie geht man mit der Situation um, wenn man weiß, dass man vorneweg von November bis Ende März mit fünf kalten Monaten kalkulieren muss? Dass die Zahl der Infektionen angesichts sinkender Temperaturen und der Verlagerung vieler Aktivitäten in Maske und Abstand – das ist es! geschlossene Räume steigen wird, dürfte niemanden überraschen. Hinrich Bremer verweist auf Ostund Südostasien, wo die Menschen schon lange Mundschutz tragen – ganz ohne behördliche Anordnung. Wurden japanische Urlauber vor nicht allzu langer Zeit noch amüsiert beobachtet, wenn sie an europäischen Touristen-Hochburgen die Maske zückten, weiß man inzwischen auch hier: Das Stück Zellstoff wird in erster Linie nicht deshalb getragen, um sich selbst vor einer Ansteckung zu schützen, sondern aus Höflichkeit den Mitmenschen gegenüber. Genau diesem Zweck sollen auch die Alltagsmasken dienen, egal ob aus schicken Stoffen selbst genäht oder nüchtern-weiß im Zehnerpack aus der Drogerie. Oder wie der Pneumologe mit Blick auf die kalte Jahreszeit zusammenfasst: „Maske und Abstand – das ist es!“ Im Gespräch mit Dr. med. Hinrich Bremer 73

 

 

 

74 74 In der Fieber-Ambulanz, einer Tennishalle in VS-Schwenningen. Corona – Stenogramm einer Pandemie CORONA

 

 

 

Im Gespräch mit Landrat Sven Hinterseh, Kreisbrandmeister Florian Vetter und dem Leiter des Ordnungsamtes und Verantwortlichen für den Brandund Katastrophenschutz im Schwarzwald-Baar-Kreis, Arnold Schuhmacher WIE ORGANISIERT MAN DEN UMGANG MIT EINER PANDEMIE? von Roland Sprich und Wilfried Dold 75 CORONA

 

 

 

Die Corona-Pandemie versetzt im Jahr 2020 die Bevölkerung im Schwarzwald-BaarKreis in einen so nie gekannten Ausnahmezustand. Im Interview schildern Landrat Sven Hinterseh, Kreisbrandmeister Florian Vetter und der Leiter des Ordnungsamtes und Verantwortliche für den Brandund Katastrophenschutz im Schwarzwald-BaarKreis, Arnold Schuhmacher, wie die Behörden mit den Corona-Herausforderungen umgehen und welche Maßnahmen sie ergreifen, um die Bürger*innen im Landkreis bestmöglich zu schützen. Das am 29. September geführte Interview ist als Momentaufnahme zu sehen und berücksichtigt in seiner Fortschreibung die CoronaSituation bis zum 20. Oktober 2020. Danach musste die Drucklegung des Schwarzwald-Baar Jahrbuchs „Almanach“ erfolgen. Wie bereitet man sich auf einen so heimtückischen Gegner wie das Coronavirus vor? Landrat Sven Hinterseh: Als ein in Furtwangen tätiger Lehrer an Corona erkrankte, war sofort klar: Auch bei uns sind die Dämme gebrochen, uns erwarten schlimme Wochen. Als schließlich am 18. März der Lockdown verkündet wurde, befanden wir uns alle in einer so nie erwarteten und erlebten Situation. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man ein ganzes Land in so kurzer Zeit praktisch komplett herunterfahren kann. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die Corona-Zahlen im Kreis dann Anfang April. Es gibt für solche Situationen keinen Fahrplan: Wir haben mit Altenpflegeheimen gesprochen, mit Kurkliniken – unseren eigenen Kliniken in Villingen-Schwenningen und Donaueschingen. Wir haben alle Reha-Einrichtungen zu Telefonkonferenzen eingeladen, um so alle denkbaren Eventualitäten und medizinischen Möglichkeiten abzuklären. Arnold Schuhmacher: Wir selbst verfügten ja über keinerlei Erfahrung, die man hätte heranziehen können. Wir bauten auf den Erfahrungswerten beispielsweise des Robert-Koch-Instituts und anderer Länder auf, um die Lage zu bewerten. Wir fragten uns: Was könnte kommen, wie bereiten wir uns vor und wie kann eine CoronaStrategie tatsächlich funktionieren? Frage, wie lässt es sich verhindern, dass das Schwarzwald-Baar Klinikum selbst vom Coronavirus heimgesucht oder überfordert wird? Wir haben Tag für Tag nach Krisenmodus Stabsbesprechungen abgehalten. Auf der Ebene der Kreisbrandmeister und Katastrophenschutzverantwortlichen hat dann ebenso ein Austausch zwischen den Landkreisen begonnen. Wie sehen Sie es in der Rückschau: War aus heutiger Sicht der am 18. März verkündete Lockdown gerechtfertigt? Sven Hinterseh: Ich glaube, in der Situation Mitte März, war es die richtige Entscheidung. Im Nachhinein kann man sagen, vielleicht hätte auch ein bisschen weniger gereicht, um die Krise in den Griff zu kriegen. Aber ich hätte nicht an der Stelle unserer Bundeskanzlerin oder der Ministerpräsidenten sein wollen. Die Wirkung war, dass die Infektionen Anfang April stark nach unten gingen – und das hat Entspannung gebracht. Im Krankenhaus, aber auch bei uns und im Gesundheitsamt. Deswegen konnte man gezielter arbeiten. Jetzt wissen wir, wir sind im Frühjahr gut durchgekommen. Und das, obwohl wir zu Beginn einen Mangel zu verwalten hatten: Es gab keine Schutzkleidung und keine Masken. Eine schwierige Zeit! Ein ganz großes Thema war von Anfang an die medizinische Versorgung. Vor allem die Florian Vetter: Wir mussten auch schauen, dass wir handlungsfähig bleiben. Eine Herausforde76 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

Im Gespräch zum Thema Corona, von links: der Leiter des Ordnungsamtes und Verantwortliche für den Brandund Katastrophenschutz im Schwarzwald-Baar-Kreis, Arnold Schuhmacher, Landrat Sven Hinterseh und Kreisbrandmeister Florian Vetter. rung war zudem der Umgang mit neuen Medien: An Telefonund Videokonferenzen teilnehmen, das mussten viele von uns ganz schnell lernen. Aber es hat sich bewährt, wir konnten auf diesem Weg schnell Entscheidungen treffen. Arnold Schuhmacher: Ein Gesprächskreis, der sich zwischenzeitlich etabliert hat, ist die Telefonkonferenz mit der Ärzteschaft. Auch die Kassenärztliche Vereinigung beteiligt sich, die die Fieber-Ambulanz oder das Abstrich-Zentrum eingerichtet hat. Weiter sind Vertreter des Gesundheitsamtes mit dabei, des Klinikums, der Hausärzte und der Kinderärzte. Wir telefonieren nach wie vor jede Woche. Sie haben erwähnt, dass es zunächst keine Masken und keine Schutzausrüstung gab. Wie verhielt sich das genau? Arnold Schuhmacher: Das Land Baden-Württemberg ist relativ rasch in die Beschaffung eingetreten und hat uns Lieferungen zukommen lassen. Gleichzeitig trafen sehr viele Anfragen Heute sind wir bei der Bevorratung von Masken und Schutzausrüstungen relativ gut aufgestellt. von Altenund Pflegeheimen, Reha-Kliniken, Ergotherapeuten oder Sozialdiensten bei uns ein. All diese Einrichtungen haben von uns auch tatsächlich Schutzausrüstungen bekommen. Wir haben mit jeder Lieferung einen neuen Schlüssel ausgearbeitet und die Masken und Schutzkleidung dann auf die 20 Städte und Gemeinden verteilt. Die letzte größere Landeslieferung erreichte uns kurz vor der Sommerpause im Juli. Heute sind wir bei der Bevorratung von Masken und Schutzausrüstungen relativ gut aufgestellt. Florian Vetter: Die erste Lieferung habe ich noch selber mit ausgefahren – sie entsprach dem sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben sieben bis neun Paletten in der Woche bekommen. Bei der Verteilung unterstützWie organisiert man den Umgang mit einer Pandemie? 77

 

 

 

Von links: Florian Vetter, Arnold Schuhmacher und Landrat Sven Hinterseh. Wir wussten: Jetzt müssen wir zusammenstehen, nur das zählt. Und das hat auch wirklich gut funktioniert. ten uns beispielsweise auch Mitarbeiter der Straßenmeisterei. Es formierte sich sozusagen eine große Gemeinschaft. Wir wussten: Jetzt müssen wir zusammenstehen, nur das zählt. Und das hat auch wirklich gut funktioniert. Sven Hinterseh: Und was mich als Behördenchef besonders freute, war die Tatsache, dass die Mitarbeiter*innen allesamt mitgezogen haben. Wir hatten sowohl im Landratsamt als auch im Schwarzwald-Baar Klinikum einen niedrigen Krankenstand. Das zeigt, dass das Team funktionierte und dass alle wussten; jetzt kommt’s auf uns an! Und ja, ich hatte auch den Eindruck, dass die Bürger*innen gespürt haben, was wichtig ist. Im Rückblick möchte ich festhalten: Es hätte nicht besser laufen können. Florian Vetter: Das ist definitiv so. In der Runde der Kreisbrandmeister informierte der Leiter der Berufsfeuerwehr aus Freiburg über die Situation in Frankreich. Da haben wir uns gesagt, französische Verhältnisse könnten theoretisch auch bei uns kommen, diesen Gedanken müssen wir uns stellen. Gott sei Dank sind wir von derlei Ereignissen verschont geblieben. Wie haben die Einsatzkräfte im SchwarzwaldBaar-Kreis diese schwierigen Tage erlebt? Florian Vetter: Es war ja der ganze Katastrophenschutz betroffen. Wir müssen einsatzfähig bleiben für unser tägliches Geschäft, die Brandbekämpfung. Aber ebenso für die Versorgung unserer Bürger*innen. Die Übungsdienste sind komplett ausgefallen – es gab nur den Einsatzfall. Und dazu viele Vorschriften, etwa, wann welche Schutzausrüstung zu tragen ist, wenn es zu einem Corona-Fall kommt. Der Übungsdienst ist heute noch eingeschränkt. Bis zu zehn Leute können gemeinsam proben, das funktioniert. Die Feuerwehren haben sich darauf eingestellt. Es war uns weiter wichtig, Hygienekonzepte zu entwickeln. Auch die Jugendlichen haben durch Corona ein völlig neues Leben erfahren, sei es schulisch oder in der Freizeit. Wir haben Treffen veranstaltet mit den Kommandanten, um zu besprechen, wie es mit der Jugendarbeit weitergehen kann. Es ist erstaunlich: Bisher gab es keine OnlineKurse an der Landesfeuerwehrschule. Wir hin78 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

die Infektionszahlen zu senken? Und fragen uns: Wäre das in so einem Fall auch für den Schwarzwald-Baar-Kreis ein Lösungsansatz? Sven Hinterseh: Die Verhältnismäßigkeit ist enorm wichtig. Wir haben Grundrechtseinschränkungen erlebt, die temporär aufgrund dieser historischen Situation vertretbar und geboten waren, aber in dieser Dimension meines Erachtens sicher nicht mehr akzeptabel wären. Sollte es lokale Ausbrüche geben, dann sollte man auch sehr lokal reagieren können. Haben Sie den Eindruck, dass die Leute sich noch an die Vorschriften halten? Sind sie noch diszipliniert – oder lässt das schon etwas nach? Florian Vetter: Jeder ist in seiner eigenen Verantwortung gefragt. Früher hat man es belächelt, dass in Asien viele Menschen wie selbstverständlich mit Masken herumlaufen. Mittlerweile gehört die Maske auch bei uns fast schon dazu. Sie ist ein Gebot der Höflichkeit. Sven Hinterseh: Ich glaube schon, dass sich die Mehrzahl an die Regeln hält. Das ist meine Wahrnehmung. gegen haben einen Onlinekurs angeboten, der 1.000 Teilnehmer vorweisen kann. Ob Feuerwehr, Sanitätseinheiten, Katastrophenschutz oder THW: Es sind alle sehr diszipliniert. Das ist die Stärke dieser Einheiten, sie sind es gewohnt, Herausforderungen zu bewältigen. Wir müssen uns diesen neuen Rahmenbedingungen einfach stellen. Wie bewerten Sie den Verlauf der Pandemie in der Momentaufnahme – noch ist sie ja nicht vorbei? Landrat Sven Hinterseh: Als ein furchtbares Ereignis, das so vielen Menschen enormes Leid brachte. Viele, die infiziert waren, durchlebten glücklicherweise einen recht glimpflichen Krankheitsverlauf – aber einige leider einen schweren oder gar tödlichen. Vor allem auch wirtschaftlich sind die Einschläge ganz erheblich. Es ist offensichtlich, dass die Pandemie nicht überstanden ist und ich fürchte, dass wir noch einige wirtschaftliche Einschläge erfahren werden. Das betrübt uns natürlich. Was die rein organisatorische Seite der Pan demiebekämpfung anbelangt, will ich festhalten: Es hat alles gut funktioniert und wird weiter gut funktionieren! Damit meine ich nicht nur den Katastrophenschutz. Das gesamte Landratsamt hat bewiesen, dass wir in der Krise leistungsfähig sind. Auch was die Digitalisierung betrifft. Die Corona-Pandemie hat diesbezüglich einen weiteren Schub gegeben. Wir waren schon bislang nicht schlecht aufgestellt, aber jetzt sind wir um einiges besser geworden. Vieles, was wir mittlerweile als normal ansehen – beispielsweise Hybridveranstaltungen, bei denen sich Personen via Video einem Gespräch zuschalten – wäre vorher undenkbar gewesen. Arnold Schuhmacher: Wir schauen natürlich, welche Entscheidungen trifft eine andere Verwaltung, um beispielsweise in einem Hotspot Kreisbrandmeister Florian Vetter Wie organisiert man den Umgang mit einer Pandemie? 79

 

 

 

Müssen Sie sich bezüglich der PandemieBekämpfung auf die kalte Jahreszeit speziell vorbereiten? Sven Hinterseh: Die Experten gingen davon aus, dass die Zahlen steigen werden, weil die Menschen sich mehr in geschlossenen Räumen aufhalten. Anfang Oktober haben wir das ja exakt auch so erlebt. Im Schwarzwald-Baar-Kreis hatten wir mehr Fälle als je zuvor: Am Donnerstag, 15. Oktober, hat der Schwarzwald-Baar-Kreis den Grenzwert der Sieben-Tage-Quote von 50 auf 100.000 Einwohner (Inzidenz) überschritten und lag bei einer 7-Tages-Inzidenz von 56 pro 100.000 Einwohnern. Das bedeutet beispielsweise, dass Feiern mit mehr als zehn Personen nicht mehr möglich sind. Wir alle sind unter derlei Vorzeichen mehr denn je aufgefordert, zu überlegen, ob man sich einfach mehr an der frischen Luft aufhalten sollte, weil es dort weniger gefährlich ist als in geschlossenen Räumen. Da müssen sich beispielsweise Geburtstagskinder überlegen, ob sie auch mal bei einer Wandergaststätte draußen mit einem Glühwein in der Hand und Stockbrot feiern können – und nicht beim Käseraclette drinnen, wo alle eng zusammensitzen. Ich meine das ernst. Ich glaube das Gebot dieses Winters wird sein: Nicht zu viele Menschen in geschlossenen Räumen bei stickiger Luft. Ich kenne privat viele Fastnachter, die alle sehr vernünftig und sehr pflichtbewusst sind. Sven Hinterseh: Ich kenne privat viele Fastnachter, die alle sehr vernünftig und sehr pflichtbewusst sind. Da entstehen derzeit viele neue Ideen. Unter anderem überlegen sich manche Vereine beispielsweise Digitalmodelle. Da die Zahlen wieder deutlich steigen: Wie verhält es sich aktuell mit der Beschaffung von Schutzmasken? Arnold Schuhmacher: Parallel zu den Lieferungen, die das Land Baden-Württemberg dem Landkreis hat zukommen lassen, haben wir auch für die Verwaltung intern Masken beschafft. Und Besucher, die keine Schutzmaske besaßen, konnten bei uns eine erwerben. Wir haben weiter Schutzkittel besorgt und versucht, auf dem uns unbekannten Markt, zu einem günstigen Preis eine gute Qualität zu finden. Ich darf feststellen: Wir sind mit moderaten Mitteln gut zurecht gekommen. Es wurden mittlerweile alle Einrichtungen und Institutionen dazu verpflichtet, einen Vorrat für mindestens zwei Monate anzulegen. Auf der anderen Seite wurden die ganzen Weihnachtsmärkte abgesagt. Die wären ja im Freien und somit dann möglich? Eine wichtige Rolle spielt weiter die CoronaAmbulanz… Sven Hinterseh: Es verhält sich mit den Weihnachtsmärkten wie mit der Fasnet. Da ist man oft eng miteinander und es ist schwierig, die gebotene Distanz einzuhalten. Der Staat kann nicht alles regeln. Wir sind als mündige Bürger aufgefordert, auf uns und auf andere zu achten. Zum Stichwort „Fastnacht“. Gibt es seitens des Katastrophenschutzes oder Verwaltungsstabes bereits Ideen oder Vorkehrungen für die fünfte Jahreszeit? Arnold Schuhmacher: Es hat viel Energie, Kreativität, Zeit und Überlegungen erfordert, die Corona-Ambulanz auf dem Messegelände in VS-Schwenningen aufzubauen. Sie ging dann sogar einen Tag früher als geplant in Betrieb, da das Schwarzwald-Baar Klinikum den großen Ansturm nicht mehr stemmen konnte. Sowohl was die Corona Ambulanz in der Messehalle D angeht als auch später jene in der Tennishalle oder im leerstehenden Schulgebäude auf der Hallerhöhe: Hierbei haben wir unwahrscheinlich viel Unterstützung aus dem Ehrenamt bekommen – 80 Corona – Stenogramm einer Pandemie

 

 

 

aus der Feuerwehr, dem THW, dem Roten Kreuz und der DLRG. All diese Einrichtungen haben uns sehr geholfen und uns unterstützt, wo es nur ging. Sven Hinterseh: Und wir haben dabei nicht nach Zuständigkeiten gefragt, sondern die Dinge einfach umgesetzt. Auch die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten war wirklich sehr gut. Arnold Schumacher und Florian Vetter haben ein sehr gutes Netzwerk in unsere kreisweiten ehrenamtlichen Strukturen hinein. „In der Krise muss man Köpfe kennen“, das ist so ein Leitspruch. Und diesbezüglich waren und sind wir sehr gut aufgestellt, das hat sich absolut bewährt. Es musste ja auch eine besonders intensive und umfassende Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden… Arnold Schuhmacher: Auf die Bedeutung einer guten Pressearbeit muss ich besonders hinweisen – bis hin zu unseren Aktivitäten im Bereich von Social Media. Da ist Heike Frank als Leiterin dieses Bereichs vorbildlich tätig. Es geht auch darum, Verhaltensweisen immer wieder neu zu vermitteln. Bis hin zu grundsätzlichen Informationen wie: Wo befindet sich die Corona-Fieberambulanz, wann hat sie geöffnet, wie funktioniert dort die Behandlung und wer darf kommen? Das alles muss ja sehr präzise abgestimmt werden. Florian Vetter: Auf jeden Fall ist eine umfassende Pressearbeit von großer Bedeutung. Man muss diese schwierigen Themen der Bevölkerung verständlich kommunizieren. Um zum Schluss zu kommen: Corona und die Folgen – wie finden wir in der Zeit nach dieser Krise in die Normalität zurück? Der Leiter des Ordnungsamtes und Verantwortliche für den Brandund Katastrophenschutz im Schwarzwald-Baar-Kreis, Arnold Schuhmacher. der Politik. Es wurden die letzten Jahrzehnte Dinge vernachlässigt, weil man sie nicht für notwendig erachtet hat. Vielleicht findet nun in mancherlei Hinsicht ein Umdenken statt. Florian Vetter: Es waren jetzt schon viele Feste im privaten Bereich, die aufgrund der Pandemie anders stattfinden mussten. Es ist für uns alle ausgesprochen schwierig, mit dieser Situation klarzukommen. Beispielsweise wenn ein Brautpaar völlig alleine im Standesamt steht… Ich bin gespannt, wie sich unser Leben nach Corona gestalten wird und kenne die Antwort nicht. Sven Hinterseh: Corona wird uns noch lange begleiten. Und wer weiß – vielleicht wird es kulturell irgendwann ganz verschwinden, jemandem die Hand zu geben oder in den Arm zu nehmen. Mir persönlich fehlt das. Mir persönlich hat es immer etwas gegeben, jemanden die Hand zu schütteln oder einen Freund in den Arm zu nehmen. Ich akzeptiere dieses andere Verhalten im Augenblick, aber ich glaube, dass das kulturell etwas mit uns macht. Arnold Schuhmacher: Ich glaube, dass für die Zeit danach Lehren gezogen werden – auch in Das Interview führten Roland Sprich und Wilfried Dold Wie organisiert man den Umgang mit einer Pandemie? 81

 

 

 

DIE ENTWICKLUNG DES RADWEGENETZES IM SCHWARZWALDBAAR-KREIS von Simone Neß Im Schwarzwald und auf der Baar wird das Fahrrad in Zeiten von Klimaschutz, E-Mobilität und ebenso vor dem Corona-Hintergrund immer beliebter. Der Landkreis selbst trägt dieser Entwicklung mit immer mehr und immer besser ausgebauten Radwegen entsprechend Rechnung. Im Quellenland kann der Radfahrer nicht nur einige Höhenmeter zurücklegen, so im Schwarzwald, sondern auch gemütlich an Neckar und Donau entlang radeln. Die gute Infrastruktur mit einer weitläufigen Beschilderung sowie die idyllische Landschaft locken auch viele Touristen in den Kreis und auf das Fahrrad. Vor allem auf das boomende E-Bike. 82 82 3. Kapitel – Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

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Die landschaftliche und städtische Vielfalt ist im Schwarzwald-BaarKreis enorm. Auf einer Fläche von 42.000 Quadratkilometern gibt es einiges zu entdecken. Um das Quellenland wirklich hautnah erleben zu können, ist eine Radtour eine der besten Möglichkeiten. Hierfür legte der Schwarzwald-Baar-Kreis bereits vor über zehn Jahren den Grundstein, um mit dem Rad die Region zu erkunden. Ob Stöcklewaldturm, Neckarursprung, die historische Innenstadt Villingens oder der Magdalenenberg – der SchwarzwaldBaar-Kreis hat einiges zu bieten. Projekt „RadParadies Schwarzwald und Alb“ Im Bereich Tourismus nahm alles ab 2009 seinen Lauf. Der Schwarzwald-Baar-Kreis erkannte das Fahrrad als wichtige Alternative zu herkömmlichen Fortbewegungsmitteln. In Kooperation mit dem Landkreis Rottweil wurde das Projekt „RadParadies Schwarzwald und Alb“ in die Wege geleitet. Das Projekt beinhaltet die Beschilderung von 30 Radrundtouren mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad auf einer Strecke von insgesamt 1.150 Kilometern. Eine vergleichbare Beschilderung wie die des RadParadieses gab es zuvor nur von Seiten einzelner Kommunen. Einige Radwege in den großen Kreisstädten Villingen-Schwenningen und Donaueschingen waren beispielsweise schon beschildert. Vorbei an den schönsten Orten in der Region verlaufen sowohl die Touren für Freizeitradler als auch für Sportbegeisterte. Etwa ein Drittel der Touren ist leicht, fünf haben es richtig in sich. Die 30 Radtouren werden in drei Tourenbroschüren vorgestellt, die kostenlos in den Tourist-Infor6 2 9 4 9 / 2 7 5 7 0 g n i t l u s n o C o C r a M RADROUTEN RAD + WANDERPARADIES L a n d k r e i s e R o t t w e i l & S c h w a r z w a l d B a a r K r e i s Tourenbroschüre mit 10 ausgewählten Radtouren im RAD+WANDERPARADIES Schwarzwald und Alb 10 Radrundtouren Leicht: 4 6 13 17 19 21 24 Mittel: 9 10 16 Band 3 Nicht nur in der Freizeitgestaltung, sondern insbesondere im Alltag hat das Rad einen immer größer werdenden Stellenwert. mationen zu erhalten sind. Anfangs konnten die Broschüreninhalte in Form eines Tourenbuchs erworben werden, doch die Nachfrage boomte. Der Hype um das Fahrrad wurde immer größer, die Radwege von Jahr zu Jahr beliebter. Mittlerweile werden jährlich etwa 10.000 Broschüren nachgedruckt und entsprechend aufbereitet. Der Schwarzwald-Baar-Kreis punktet mit einer eindrucksvollen Landschaft, charmanten Städten und einer beeindruckenden Topographie. Die höchste Erhebung des Kreises liegt 1.164 Meter über dem Meeresspiegel südlich des Rohrhardsbergs in der Nähe des Griesbacher Ecks. Der tiefste Punkt mit 472 Metern liegt an der Gutach zwischen Triberg und Hornbach. Damit kommt man auf eine Höhenmeterdifferenz von 692 Metern, die sich mit dem Rad teilweise nur schwer bewältigen lässt. Angesichts der Topographie spielen Elektrofahrräder in der Region eine wichtige Rolle, insbesondere auch vor dem Hintergrund des Klimawandels und der zunehmend präsenter werdenden E-Mobilitätsbranche. Darum organisierte das Quellenland in Kooperation mit dem Landkreis Rottweil den Fahrradverleih von elektrischen Zweirädern und etablierte zahlreiche Ladestellen. Mittlerweile gibt es im RadParadies 20 Verleihstationen und E-Tankstellen für die Fahrradfahrer. Aus der Organisation des Fahrradverleihs hat sich der Landkreis aufgrund der stark gestiegenen Verkaufszahlen für Pedelecs mittlerweile ausgeklinkt. Dennoch bieten weiterhin zahlreiche Kommunen, beispielsweise Villingen-Schwenningen und Königsfeld, den Verleih von E-Fahrrädern an. Die Tourenbroschüren vom „RadParadies Schwarzwald und Alb“ erfreuen sich großer Beliebtheit. www.rad-und-wanderparadies.de 84 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Straßenbauamt federführend bei der Erstellung des Radwegekonzepts Die touristischen Radwege sind allerdings nur ein kleiner Teil des Gesamtnetzes, zu dem auch die Alltagsrouten und Fernradwege gehören. Nicht nur in der Freizeitgestaltung, sondern insbesondere im Alltag hat das Rad einen immer größer werdenden Stellenwert. Nachdem die benachbarten Landkreise Waldshut und Breisgau-Hochschwarzwald bereits die Vereinheitlichung der Beschilderung für Radwege, insbesondere auch für die Fernradwege, umgesetzt hatten, zog auch der Schwarzwald-BaarKreis nach, um die Beschilderung in der Region fortzusetzen. Im Vorfeld zu dem neuen Wegweisungskonzept wurde ein Radverkehrsplan erstellt, in dem im Wesentlichen der Radwegebau eine Rolle spielte. Federführend bei der Erstellung des Radwegekonzepts waren das Straßenbauamt, der Bereich Tourismus und Wirtschaftsförderung im Landrats amt und das Straßenverkehrsamt. Aber auch der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) brachte sich mit seinen Erfahrungen ein. Der Kreis zog außerdem externe Planungshilfe durch die Firma Radverkehr-Konzept aus Frankfurt hinzu. Handlungsvorschläge der Bürger in Planung mit aufgenommen Darüber hinaus hatten auch die Bürger aus dem Kreis die Möglichkeit, sich diesbezüglich einzubringen. Mittels einer Bürgerbeteiligung über Einen Radverkehrskonzept gab es bereits in der Vergangenheit, doch das damalige Konzept war lange nicht so umfassend wie das des Plans, der 2013 erarbeitet wurde. Hintergrund für die Erstellung eines solchen Plans war auch eine Richtlinie des Landes Baden-Württemberg vom 1. Juni 2012, in der das Land Zuwendungen für den Ausbau von Radverkehrsanlagen zusicherte. Auch Sven Hinterseh hatte im Anschluss an seine Wahl zum Landrat im Jahr 2012 den Wunsch geäußert, im Thema „Radverkehr“ aktiver zu werden. Bis dato war der Bau von Radwegen eher zufällig, das Vorgehen unkoordiniert, Radwege in den Kommunen entstanden oft nur auf Zuruf. In den vergangenen Jahren wurden sämtliche Radwege im Landkreis mit großem Aufwand einheitlich beschildert. 85 65StandortNaturpark SüdschwarzwaldDer Südschwarzwald ist eine der schönsten Erholungsgebiete Deutschlands. Aussichtsreiche Berge, urige Bauernhöfe, blühende Wiesen, dichte Wälder eine einzigartige Mischung aus Natur und Kultur, aus Tradition und Moderne.Der Naturpark Südschwarzwald ist Garant für den Schu� und die nachhaltige Entwicklung der Region und dafür, dass alle diese besondere Naturund Kulturlandschaft erleben können. Ob Wandern, Radfahren, Langlaufen, Schneeschuhwandern, Erlebniswandern oder regionale Produkte genießen seien Sie uns im Naturpark Südschwarzwald willkommen!Naturpark Südschwarzwald, Haus der Natur, Dr.-Pilet-Spur 4, 79868 Feldberg www.naturpark-suedschwarzwald.de Weitere Radtouren und -wege RadParadies Schwarzwald und Alb: Auf 30 Radrundrouten werden Sie weg von den viel befahrenen Strecken durch die schönsten Landschaften der Region geführt. www.rad-paradies.deSchwarzwaldPanorama-RadwegQuellregion Donau: Die Städte Donaueschingen, Hüfingen und Bräunlingen laden auf 9 ausgeschilderten Radrouten zu unbeschwertem Freizeitspaß und kulturellen Erlebnissen ein. www.quellregion-donau.deLandesradfernwege: Durch das Quellenland Schwarzwald-Baar-Kreis verlaufen vier Landesradfernwege. Neben den Flussradwegen Neckartal-Radweg und Donau-Radweg sind dies der Schwarzwald Panorama-Radweg und der Heidelberg-Schwarzwald-Bodensee-Weg.Radverkehrsnetz Schwarzwald-Baar-Kreis KnotenpunktsystemDas Knotenpunktsystem▪ Individuelle Zusammenstellung von Fahrradtouren▪ Ziele, Streckenlänge und Landschaft können frei gewählt werden▪ Knotenpunkte in gewünschter Reihenfolge notieren▪ Nummern auf den Fahrradwegweisern folgen▪ Ausgewiesen werden immer die nächsten NachbarknotenQualitätssicherung Ihre Mithilfe erwünscht!▪ Der Schwarzwald-Baar-Kreis verfügt über ein ausgeschildertes iiRadverkehrsne� von 1.100 Kilometern Länge▪ Die Fahrradwegweisung wird jährlich geprüft und Fehler behoben▪ Helfen Sie bei der Qualitätssicherung: QR-Code am Wegweiser scannen und Mängelmeldung versenden Dieses Projekt wurde gefördert durch den Naturpark Südschwarzwald mit Mi�eln des Landes Baden-Wür�emberg, der Lo�erie Glücksspirale und der Europäischen Union (ELER).Teil des Projekts:Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums: Hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete.

 

 

 

Bei der Eröffnung des Knotenpunktsystem der Fahrradwegweisung im Schwarzwald-Baar-Kreis am 05.07.2019 in Tuningen, von links: Landrat Sven Hinterseh, Regina Melch, Naturpark Südschwarzwald, Ralf Pahlow, Bürgermeister Tuningen und Siegfried Heinzmann, ehem. Kreisrat. das Internet war es möglich, das Amt darüber zu informieren, an welchen Orten Radwege noch gebaut werden müssen. Die Plattform, die im Juli 2013 freigeschalten wurde, war drei Monate lang aktiv. Insgesamt gingen 236 Meldungen von 150 Bürgern ein, die auch Positives zu dem bereits bestehenden Radverkehrskonzept rückmeldeten. Das bestehende Radverkehrsnetz konnte durch Befahrung erfasst werden. Als Ergebnis wurde ein Plan für ein Radverkehrsnetz für den kompletten Schwarzwald-Baar-Kreis entwickelt, der außerdem Vorschläge beinhaltet, Lücken im Radwegenetz zu schließen und Verbesserungsmaßnahmen in einem mittelfristigen Bauprogramm vorzunehmen. Die Ergebnisse der umfangreichen Arbeit wurden ausgewertet und im Kreistag priorisiert, um daraufhin einen Kosten-Nutzen-Plan zu erstellen. Auch die Handlungsvorschläge der Bürger wurden in die Planung mit aufgenommen. Letztendlich galt: Je höher der Nutzeffekt und je geringer in der Relation die Investition, umso weiter vorne die Maßnahme in einer großen Maßnahmenliste. Der Radverkehrsplan betrachtet dabei vor allem außerörtliche Radwege entlang klassifizierter Straßen. Ziel ist es, kurze, sichere Wege entlang dieser Straßen zu errichten. 2014 wurde der Radverkehrsplan im Kreistag genehmigt. Seitdem dient das Konzept als Grundlage für die Planung verschiedenster Bauprojekte und ist gleichzeitig eine wichtige Rücksicherung für Fördermittel. Weitere Projekte in Planung und Vorbereitung Mittlerweile hat sich schon einiges getan. Im Zeitraum von 2015 bis 2020 konnten die ersten Radwege gebaut werden. Dabei wurden 6,54 km Radweg an Kreisstraßen vom Landkreis, gemeinsam mit den Kommunen gebaut, wofür Kosten in Höhe von 1.388.000 Euro anfielen. Der Schwarzwald-Baar-Kreis erhielt dafür Fördermittel in Höhe von 743.000 Euro. Der Radwegebau ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen. In den kommenden fünf Jahren sollen die nächsten Baustellen in Angriff genommen werden. Gemeinsam mit den Städten und Gemeinden wird versucht, sukzessiv die Maßnahmen im Radverkehrsplan umzusetzen. 86 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Einige Projekte sind bereits in Planung und Vorbereitung. Darunter beispielsweise ein Radweg an der K 5705 zwischen Bad Dürrheim und Biesingen, der etwa eine Länge von 2,17 Kilometern umfasst. Außerdem soll ein Radweg zwischen St. Georgen und Hardt entstehen mit einer Länge von 4,5 Kilometern. Das Großbauprojekt ist eine interkommunale Maßnahme mit dem Nachbarlandkreis Rottweil und wird zusammen mit dem vorgesehenen Straßenausbau einige Jahre bis zur Fertigstellung dauern. Bei Genehmigung werden auch hier Fördermittel in beachtlicher Höhe erwartet. Neben dem Bau von über sechs Kilometern Radweg konnte in den vergangenen Jahren in einem enormen Kraftakt auch eine einheitliche Beschilderung in die Wege geleitet werden. Die kommunalen Radwege wurden überarbeitet und die touristischen Radwege in die Beschilderung mit aufgenommen. 2018 wurde das Projekt abgeschlossen. Im darauffolgenden Frühjahr fand die Schlussabnahme statt. Das Radwegenetz von etwa 1.100 Kilometern wurde abgefahren, um jeden Schilderstandort zu überprüfen. Das soll auch in Zukunft regelmäßig stattfinden, um so die Qualität der Infrastruktur zu sichern. Auch die Fahrradfahrer können zur Instandhaltung beitragen. Denn an jedem Wegweiser ist ein QR-Code angebracht, über den man Mängel an der Infrastruktur melden kann. Im Zuge des neuen Wegweisungskonzepts wurden über 3000 Schilder an fast 500 Standorten in der Region angebracht. Knotenpunktsystem als Pilotprojekt Doch die umfangreiche Beschilderung und der Bau zahlreicher Radwege ist nicht alles, was sich in den vergangenen Jahren im SchwarzwaldBaar-Kreis getan hat. Als erster Flächenlandkreis setzte der Schwarzwald-Baar-Kreis das Knotenpunktsystem als Pilotprojekt um. Das System, das insgesamt 70 Knotenpunkte und 1.700 Zusatzplaketten beinhaltet, soll Radfahrern ermöglichen, ihre Touren individuell zusammenzustellen. Orientiert hat sich der Landkreis dabei an einem Projekt aus unserem niederländischen Nachbarland. Das Ziel der Tour, die Als erster Flächenlandkreis setzte der Schwarzwald-Baar-Kreis das Knotenpunktsystem als Pilotprojekt um. Streckenlänge und die Landschaft können durch das neue System selbst bestimmt werden. Dafür müssen Radfahrer lediglich die Knotenpunkte in gewünschter Reihenfolge notieren und den Nummern auf den Fahrradwegweisern folgen. Auf den Wegweisern werden immer die nächsten Nachbarknoten mittels eines blauen Schilds mit einer weißen Nummer ausgewiesen. Mit Hilfe von QR-Codes an den Knotenpunktstangen kann die Karte direkt auf das mobile Telefon geholt werden. So erhält der Radfahrer vor Ort eine Übersicht über das komplette Radwegenetz. Die Radwegebeschilderung kostete den Landkreis insgesamt 381.000 Euro, wovon 162.000 Euro gefördert wurden. An Visionen mangelt es dem SchwarzwaldBaar-Kreis auf jeden Fall nicht. Denn auch in Zukunft können sich die vielen Radfahrbegeisterten auf zahlreiche Neuerungen freuen. Die vorhandenen Radwege sollen gesichert und in Stand gehalten werden, der Bau neuer Wege ist schon geplant. Auch der zielgruppenspezifische Ausbau der Infrastruktur, beispielsweise speziell für Mountainbikefahrer, genauso wie die Entschärfung von Nutzungskonflikten auf den Radwegen, ist nach wie vor ein Thema. Denn die Nachfrage ist groß, das Potenzial weiterhin da. Gleichzeitig arbeitet der Landkreis an einem Hüttenkonzept, um den Radfahrern möglichst viele Einkehrmöglichkeiten am Wegesrand ihrer Routen anbieten zu können. Und auch die Realisierung von Selbstbedienungsautomaten steht noch auf der To-Do-Liste des Quellenlands. Denn letztendlich ist das Gesamtpaket entscheidend. Die Infrastruktur mit einer guten Beschilderung sowie die atemberaubende Landschaft sind hierfür schon mal ein guter Anfang. Die Nachfrage bestätigt schließlich das Angebot, weshalb der Landkreis auch in Zukunft das Radfahren fördern wird und so vielen Radfahrbegeisterten ermöglicht, die Region kennenzulernen. Die Entwicklung des Radwegenetzes im Schwarzwald-Baar-Kreis 87

 

 

 

88 88 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Brigach und Breg bringen die Donau zuweg VOM ZUSAMMENFLUSS AN DIE QUELLE DER BRIGACH Kaiser Wilhelm, Jacques-Yves Cousteau und Claudio Magris waren hier, um drei von zahlreichen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zu nennen, die an der historischen Donauquelle in Donaueschingen vom Geländer des Quelltopfes aus zur Mutter Baar hinaufblickten. Die Skulptur weist der jungen Donau beim Schloss der Fürsten zu Fürstenberg symbolisch den Weg nach Osten – mich und eine von der Donau begeisterte Begleiterin hingegen zieht es nach Westen: Wir machen uns vom Zusammenfluss aus auf den Weg zur Brigachquelle beim Hirzbauernhof im St. Georgener Ortsteil Brigach. Was sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen lässt: Die Quellentour öffnet zugleich ein Tor in die geheimnisvolle Welt der Kelten, die im Landkreis vielfache Spuren hinterlassen haben. xyz Bestaunt von Besuchern aus aller Welt – die Mutter Baar zeigt der jungen Donau den Weg. 89

 

 

 

Der 31. Juli 2020 präsentiert sich als strahlender Sommertag. „Es ist fast zu heiß um Rad zu fahren“, schmunzelt meine Begleiterin aus dem Wiesental. Weit über 30 Grad sind für diesen Freitag vorhergesagt. Doch wer wie Sylvia als Donau-Begeisterte eigens in den SchwarzwaldBaar-Kreis reist, um vom Zusammenfluss aus auf dem E-Bike mit der Brigach einen der beiden Quellflüsse der Donau zu erkunden, den schrecken hochsommerliche Temperaturen nicht ab. Wo sich Brigach und Breg vereinen, gehört die Donau-Geburt in der gewohnten Form der Vergangenheit an: Am Zusammenfluss wird an diesem Freitag an gleich zwei Orten gebaggert Die Brigach fließt mitten durch Donaueschingen. Vorne links die Fürstenberg-Brauerei, dahinter die Stadtkirche St. Johann, in deren Rücken sich das Schloss der Fürsten zu Fürstenberg und die historische Donauquelle befinden. und Traktoren fahren im Fünf-Minuten-Takt hängerweise frisch ausgehobenes Erdreich von der Baustelle. Die Verlegung des Donaubeginns um ca. 300 Meter flussaufwärts ist erst wenige Wochen in Gang, doch die Erdbewegungen lassen schon jetzt das enorme Ausmaß des 90 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Vorhabens erkennen: Es handelt sich um eines der aktuell größten Renaturierungs projekte in Baden-Württemberg. Das Land investiert vier Millionen Euro in einen Auenpark, der dem Donaubeginn seine Würde zurückgibt und ihn als Wasserwelt erlebbar macht. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei außerdem, die Breg optisch nicht länger als „Nebengewässer“ der Brigach zu präsentieren. Schließlich lernt in Baden-Württemberg jedes Kind schon in der Schule: „Brigach und Breg bringen die Donau zuweg!“ Und eben nicht überwiegend die Brigach, wie es der bisherige Zusammenfluss suggeriert hat. Das gewohnte Bild des Zusammenflusses von Brigach und Breg zur Donau gehört der Vergangenheit an. Gegenwärtig entsteht dort ein Auenpark. Es handelt sich dabei um das aktuell größte Renaturierungsprojekt in Baden-Württemberg. An der historischen Donauquelle Auf die Baustellenbesichtigung folgen die ersten eineinhalb Kilometer auf dem Rad, es geht an der Brigach entlang zur historischen Donauquelle beim Schloss der Fürsten zu Fürstenberg. Auf dem Grund des symbolischen Vom Zusammenfluss an die Quelle der Brigach 91

 

 

 

Von links: Quelltopf der historischen Donauquelle, Mutter Baar zeigt der jungen Donau den Weg, Donaurelief beim Brigachufer am Diana-Brunnen und die Schützenbrücke,ein viel besuchter Ort an der Brigach. Quelltopfs funkelt in der Morgensonne ein wahrer Münzschatz. „Es bringt Glück, in eine Quelle ein Geldstück hineinzuwerfen“, gebe ich mich überzeugt. Wohl wissend, dass Jahr für Jahr die Mitarbeiter des Donau eschinger Bauhofes die Münzen im Quelltopf bei den obligatorischen Reinigungsarbeiten wieder einsammeln, opfere ich ein 20-Cent-Stück. Sylvia zeigt sich von der 1896 entstandenen Skulpturengruppe des Vöhrenbacher Bildhauers Prof. Adolf Heer beeindruckt. Die Mutter Baar weist hier ihrer Tochter, der jungen Donau, den Weg in Richtung Osten. Dort mündet der zweitgrößte Fluss des Abendlandes nach einer 2.875 Kilometer langen Reise ins Schwarze Meer. Auf ihrem Weg ins Biosphärenreservat Donaudelta, des zweitgrößten Deltas in Europa, verbindet die Donau zehn Länder. Das Heer an Radfahrern ist unübersehbar Die Ferienzeit belebt Donaueschingen spürbar, trotz Corona-Pandemie versammeln sich an der hervorragend inszenierten historischen Donauquelle Besucher aus mehreren Ländern: Familien, junge Paare – viele Ruheständler. Unübersehbar ist das Heer an Radfahrern. Sie sind nicht wie wir zu einem Donau-Quellfluss unterwegs, sondern starten am Lammplatz beim DianaBrunnen auf den 2.700 Kilometer langen Donau-Radwanderweg, der dort offiziell beginnt. Wir steigen die Treppenanlage zum Platz bei der Stadtkirche hinauf. Von dort aus lässt sich die historische Donauquelle aus ungewohnter Perspektive studieren. „Noch 1.260 Kilometer bis Budapest“, ulkt ein Mann in rotem Raddress. Er gehört zu einer sechsköpfigen Gruppe junger Menschen mit üppig bepackten Rädern. Ein Selfie mit Donauquelle, dann radelt einer nach dem anderen davon. Trotz Corona wäre Budapest mit Blick auf die derzeit offenen Grenzen sogar erreichbar – doch wer im Sommer 2020 auf den Donauradweg startet, ist pandemiebedingt fast ausschließlich auf die deutsche Donaustrecke fokussiert. Donaueschingen hat „Fürstenflair“ – der fürstliche Prunk ist im Stadtbild bis heute präsent. Allerdings befinden sich etliche der Bauten nicht mehr in „fürstlichem“, sondern in „bürgerlichem“ Privatbesitz. Wie es sich in den stilvollen Häusern mit ihren hohen Räumen wohl lebt? Wir schieben unsere Räder an der Stadtkirche St. Johann vorbei zum Dianabrunnen. Hopfenduft hängt in der Luft, der Geschmack der grünen Seele des Biers. Jeder hier weiß, woher er stammt: Die in der Stadtmitte liegende Fürstenberg-Brauerei braut nicht nur in diesem Au92 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Der Duft von Hopfen hängt in der Luft, der Geschmack der grünen Seele des Bieres. Jeder hier weiß, woher er stammt: Die Fürstenberg-Brauerei braut nicht nur in diesem Augenblick eines der besten Biere der Welt. genblick eines der besten Biere der Welt. Trotz der vielen Menschen in der Stadt, der offenen Lokale und des geschäftigen Treibens auf dem Wochenmarkt: Es fehlt die gewohnte sommerliche Leichtigkeit. Über allem hängt die Pandemie – nicht nur die Masken erinnern einen trotz der augenblicklich fast nicht vorhandenen Fallzahlen unaufhörlich daran. Der Brigach entlang – 40 Kilometer „helles, lauteres Wasser“ Unser Vorhaben ist ehrgeizig: Wir wollen über Villingen und St. Georgen hoch zum Hirzwald radeln – und dabei zusätzlich den einen oder anderen Abstecher einlegen. So zumindest der Plan zweier Radfahrer, die wie viele andere in CoronaZeiten ins Lager der E-Biker gewechselt sind. Diese neue Form der Mobilität erlaubt auch „Normalos“ Radtouren mit großer Reichweite. Das E-Bike bedeutet gerade im Jahr 2020 für so viele Menschen wie noch nie zuvor ein Stück neu gewonnene Freiheit – und das bei sich daheim! Wir lassen Donaueschingen hinter uns und fahren an Aufen und Grüningen vorbei in Richtung Brigachtal. Sylvia fragt spontan, wo wohl der Name „Brigach“ herstamme? Einigkeit besteht wie im Fall der Breg im keltischen Ursprung. Doch die einen übersetzen „Brigach“ mit „helles, lauteres Wasser“ – die anderen mit „Bergbach“. „Brig“ soll für Berg und „ach“ für Fluss oder Bach stehen. Zwischen Donaueschingen und Brigachtal plätschert die Brigach meist wenig spektakulär dahin. Dichtes Gebüsch verhindert über weite Passagen hinweg den Blick auf den Fluss. Erst am Ortsausgang von Grüningen, vor allem ab Beckhofen bis Marbach, darf der zweite Quellfluss der Donau mäandern und Charakter zeigen. Bei Beckhofen stoßen wir unmittelbar neben dem prächtigen Bauerngarten von Beatrix und Dietmar Maier auf einen imposanten Brigach-Alt arm, der mit einer Biberburg durchsetzt ist. Gitter schützen den Baumbestand am Flussufer vor den Zähnen des Nagers. Die Spuren des Bibers begleiten uns von nun an bis hinauf zur Brigachquelle im Hirzwald. Das Magdalenenbergle – Tor in eine schriftlose Vergangenheit Die Gegend hier ist altes Keltenland: Mit Brigach und Breg vereinen sich auf der Baar zwei Vom Zusammenfluss an die Quelle der Brigach 93

 

 

 

Blick auf den Grabhügel am Magdalenenberg und die Eiche (ganz rechts). Im Hintergrund sieht man Rietheim und das Brigachtal. Flüsse mit keltischem Namen zur Donau – und auf dem Villinger Magdalenenberg befindet sich eines der bedeutendsten keltischen Fürstengräber Europas. Brigach, Breg – das Fürstengrab: alles ist verbunden. Wir entschließen uns bei Brigachtal spontan dazu, einen Umweg über das Magdalenenbergle einzuschieben und biegen nach Rietheim ab. Der weithin sichtbare Grabhügel liegt neben einer nicht minder imposanten Eiche. Er fungiert als Tor in die Vergangenheit einer noch schriftlosen Kultur. Als Archäologen im Jahr 1890 am Magdalenenbergle graben, hoffen sie auf Schätze – und entdecken ein geplündertes Fürstengrab. Und dennoch ist der Fund sensationell: Die 2.600 Jahre alte Grabkammer des Fürsten vom Magdalenenberg gilt heute als der größte hallstattzeitliche Holzfund Europas. Nach Baumring-Untersuchungen wurde der Grabhügel mit seinem Durchmesser von 104 Metern und zwölf Metern Höhe etwa um 616 v. Chr. aufgeschüttet. 80 Jahre später folgt die zweite Sensation: Es werden im Umfeld des Fürstengrabes 126 weitere Bestattungen mit einzigartigen Beigaben entdeckt. Sie verwandeln den Grabhügel am Rande Villingens in einen der bedeutendsten Fundorte der Eisenzeit in Süddeutschland. Das Fürstengrab erweist sich damit als Teil einer Die 2.600 Jahre alte Grabkammer des Fürsten vom Magdalenenberg gilt heute als der größte hallstattzeitliche Holzfund Europas. komplexen Grabanlage. Und diese soll nach einer 2012 von Allard Mees vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz veröffentlichten Abhandlung als frühkeltisches Kalenderwerk zu verstehen sein. Die Lage der einzelnen Gräber entspreche den nördlichen Sternbildern des Jahres 618 v. Chr., wie mithilfe von Software der Raumfahrtbehörde NASA ermittelt wurde. Wir lassen die Räder am Fuß des Hügels stehen und wandern hinauf. Der weite Blick nach Villingen und über Rietheim hinweg ins Brigachtal fasziniert. Auf dem Grabhügel soll 1633 die Villingerin Barbara Schwinger mit dem Teufel getanzt haben, so ihr „Geständnis“ unter grausamer Folter. Ein mystischer Ort, der gleich bei welchem Wetter und bei welcher Tageszeit immer wieder neu seine Besucher hat. Manche übernachten hier oben im Schlafsack, andere geben unter der Eiche ein Gitarrenkonzert oder versuchen in sich gekehrt, die keltischen Wurzeln dieses Landstrichs zu erspüren. Auch wenn es reizvoll wäre: Es fehlt heute einfach die Zeit dazu, die hier gemachten Keltenfunde im Villinger Franziskanermuseum in Augenschein zu nehmen. Bald drei Stunden sind mittlerweile verstrichen – und wir sind noch 94 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

nicht einmal in Villingen angekommen. Dabei wäre der Weg von Donaueschingen nach Villingen auf dem gut ausgebauten und bequem befahrbaren Radweg die Brigach entlang in einer reinen Fahrzeit von nicht einmal einer Stunde zu schaffen. Vorausgesetzt, man geht diese Tour weniger kulturgeschichtlich, sondern etwas sportlicher an. Kostbare Ringwald-Portale Über einen Feldweg rollen die E-Bikes wie von selbst nach Villingen hinab, immer in Richtung der Münstertürme. In der Fußgängerzone der Altstadt herrscht Hochbetrieb, die bis vor Kurzem teils gespenstisch leeren Straßen gehören gegenwärtig der Vergangenheit an. Beim Café Raben lädt ein Ecktisch im Freien zu einer Eisund Kaffeepause ein. Mittlerweile zeigt das Thermometer auf 31 Grad – doch nicht ein Villinger Kind watet, wie es eigentlich zu erwarten wäre, barfuß im Stadtbächle: Wegen Corona drehte die Stadtverwaltung dem Bächle kurzerhand das Wasser einfach ab. Aber es gibt ja die Brigach: Die hat zwar aufgrund der aktuellen Trockenzeit einen Tiefstand wie lange nicht zu beklagen, Wasser allerdings fließt dort nach wie vor. Gleich zwei Kindergärten nutzen die Gunst der Stunde und sind mit ihren Schützlingen einen Sommertag lang zur Brigach umgezogen, die unmittelbar an der Innenstadt vorbeifließt. Nah der Die Ringwald-Portale am Münster sind die mit bedeutendsten Kunstwerke, die es in VS-Villingen zu bestaunen gibt. Bei hochsommerlichen 31 Grad freuen sich die Kinder über Spielen in und an der Brigach. xyz 95

 

 

 

96 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Unter Denkmalschutz stehende eiserne Brigach-Brücke im Villinger Groppertal. Sebastian-Kneipp-Straße planschen die Kinder lautstark und voller Freude im kühlen Bach. Garantiert war das schon zu Keltenzeiten so… Wir schieben unsere Bikes zum nahen Villinger Münster, bestaunen die Portale von Klaus Ringwald. Die von Ringwald in unsere Zeit übertragenen Ereignisse der biblischen Geschichte gewinnen in Corona-Zeiten ungeheuer an Aktualität, berühren mehr denn je. Das Baugerüst am Münsterturm macht neugierig – ein Passant klärt uns auf: Die größere der beiden Glocken im Nordturm hat einen Sprung und muss heruntergeholt und repariert werden (s. S. 316). Durch das Groppertal und den Stockwald nach St. Georgen Durch das Villinger Kurgebiet geht es nach einem kurzen Halt im Kurpark dem Groppertal Links: „Brigach und Breg bringen die Donau zuweg.“ Majolikafiguren im Villinger Kurpark aus den 1930er-Jahren, hergestellt in der von Richard Bampi geleiteten „Fayence-Manufaktur Kandern GmbH“. entgegen, der Villinger Riviera. Der Besuch im Villinger Kurpark lohnt allein schon wegen der dort aufgestellten Majolikafiguren, darunter die Flussallegorie „Brigach und Breg bringen die Donau zuweg“. Um 1935/36 schuf die von Richard Bampi geleitete„Fayence-Manufaktur Kandern GmbH“ u.a. sieben Majolikafiguren für den Villinger Kurpark, darunter die Flussallegorie. Wir radeln am Kirnacher Bahnhöfle vorbei, und schließlich taucht rechts am Straßenrand der Uhufelsen auf – seit eh und je ein beliebter Ausflugsort der Villinger. Wo zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Silber gegraben wurde, übt sich heute der Nachwuchs im Klettern. Motorradfahrer, Pkws, Radfahrer wie wir und Inliner teilen sich das schmale Sträßchen durch das malerische Groppertal. Stressfrei ist das nicht! Die meiste Zeit führt der Weg unmittelbar an den Gleisen der Schwarzwaldbahn entlang. Gut dreihundert Meter oberhalb der Stelle, an der sich der Gropperbach mit der Brigach vereint, weckt ein schmuckes Bahnwärterhäuschen unser Interesse. Ganz in der Nähe stoßen wir auf eine eiserne Brigachbrücke und entdecken eine Idylle, wie sie im Buche steht. Vom Zusammenfluss an die Quelle der Brigach 97

 

 

 

Blick auf Brigach mit St. Georgen. sich hier. Heute fungiert der Klosterweiher als Naturbad. Der Badebetrieb ist an diesem Freitag mit seinen mittlerweile 34 Grad zwar rege, aber hält sich coronabedingt in Grenzen. Da im Groppertal gerade Hochbetrieb Mehr als das Naturfreibad fasziniert die herrscht, beschließen wir die Tour zur Brigachquelle durch den Zinken Stockwald fortzusetzen. Vorbei an den wenigen Häusern führt der Weg bis zum Abzweig Dreihäusel/Stockwald. Dort geht es rechts ab und es gilt, die erste wirkliche Steigung zu bewältigen: Bereits seit Villingen führt uns der Weg stetig leicht bergauf, zunächst von 730 Meter auf 830 und jetzt auf über 900 Höhenmeter. Dank der E-Bikes stellt das keine wirkliche Herausforderung dar. Im angenehm-schattigen Wald passieren wir den „Süßen Winkel“ und erklimmen die letzten Meter der Schwanenhöhe. Jetzt rollen die Räder über eine Gemeindeverbindungsstraße wie von selbst hinab in Richtung Bahnhof St. Georgen. Klosterweiher und Biberland Im Gegensatz zu VS-Villingen und Donaueschingen fließt die Brigach in St. Georgen nicht mitten durch das Stadtgebiet, sondern am Rand der Bergstadt entlang. Nur ein einziges Mal macht sie dabei mit Nachdruck auf sich aufmerksam: Dem Donauquellfluss verdanken die St. Georgener ihren 27.000 qm großen Klosterweiher. Er diente dem früheren Kloster als Fisch weiher, auch eine Klostermühle befand sumpfartige Landschaft im Anschluss an den Klosterweiher. Dass sich dort ein wertvolles Biotop entwickeln konnte, ist das Werk einer Biberfamilie. Die Biber haben in den vergangenen rund zehn Jahren nicht nur diesen Ort, sondern den gesamten Brigachlauf bis hinauf zur Quelle am Hirzwald grundlegend verändert. Die durch das Werk der Nagetiere vielerorts sumpfig gewordenen Wiesen schaffen neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Die Landwirte allerdings freut die Anwesenheit des Bibers nicht: Sie haben bei der Bewirtschaftung ihrer Wiesen mit den Folgen zu kämpfen – auch der Ruf nach Abschüssen wurde deshalb bereits laut. Vom Klosterweiher aus führt ein Radweg wenige Hundert Meter die Bundesstraße entlang. Wir folgen der Untertalstraße, durchfahren eine Unterführung der Schwarzwaldbahn und biegen nach anderthalb Kilometern beim Unterbauernhof nach rechts zum Neubauernhof ab – es geht aufwärts auf 940 Meter Höhe. Wie so oft auf dieser Fahrt fällt beim Neubauernhof ein mit Liebe angelegter Bauerngarten auf. Obstbäume entlang der Straße bezeugen, dass der Schwarzwald auch in früheren Zeiten nicht ganz so karg gewesen sein kann, wie er oftmals beschrieben wird. 98 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Oben angekommen, sind das Gewann „An der Langen Gasse“ und der 940 Meter hohe Sturmbühl unser Ziel. Wir genießen die einmalige Aussicht auf den Schwarzwald bei St. Georgen und bei Triberg/Schonach. An einem Waldeck findet sich eine Informationstafel zur Langen Gasse. Hier verlief von der Sommerau kommend die Landesund Religionsgrenze zwischen dem katholischen Vorderösterreich und dem protestantischen Württemberg. Es sind alte Wege, auf denen wir unterwegs sind. Sie dienten bereits im späten Mittelalter als Verbindung nach Triberg und Furtwangen. Das Naturbad Klosterweiher und ein Biberdamm an der jungen Brigach. Mehr noch als die Lange Gasse fasziniert der Sturmbühl. Aussichtspunkte dieser Art finden sich im Schwarzwald selten: Unser Blick streift in östlicher Richtung über die Schwäbische Alb mit Hochberg, Lemberg und Klippeneck. Im Westen sind Schonach und der Rohrhardsberg Der Hirzbauernhof mit Brigachquelle. Vom Zusammenfluss an die Quelle der Brigach 99

 

 

 

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Links: Die Brigachquelle beim Hirzbauernhof. auszumachen. Zugleich stehen wir hier auf der europäischen Hauptwasserscheide zwischen Rhein und Donau. Bis zur Brigachquelle liegen jetzt gerade noch drei Kilometer vor uns. Wir radeln gemütlich über den Höhenrücken mit seinen immer wieder neuen, imposanten Ausblicken auf Brigach und St. Georgen. Nach exakt 48 Kilometern, inkl. des Umweges zum Magdalenenbergle, taucht in der Talsenke unter uns der Hirzbauernhof mit Brigachquelle auf. Die Fahrt hinab ist rasant – und wir stoppen sie verwundert auf halber Höhe: Am Hinteren Hirzbauernhof waten zwei über und über mit Schlamm bedeckte Mädchen laut lachend und kreischend in einem abgelassenen Weiher umher. Besser gesagt, sie stecken mittendrin im Schlamm… Der Weiher wird an diesem Rekordsommertag vom Schlamm befreit, die beiden Mädchen helfen mit und haben sichtlich Spaß dabei. Ausgetrocknete Brigachquelle Was die Trockenheit des Sommers 2020 mit den Gewässern der Region macht, verdeutlicht nicht nur überall im Landkreis der niedrige Wasserstand der Gewässer. Selbst der Brigachquelle geht das Wasser aus – kein Tropfen fließt aus dem Quellstein mit der Aufschrift „Brigachquelle“ heraus. Das stellt bald zwei Monate später auch ein prominenter Gast fest: Ministerpräsident Winfried Kretschmann besucht den Schwarzwald-Baar-Kreis und verweilt kurz an der vorübergehend ausgetrockneten Quelle. Wieder werden uns die reichen keltischen Spuren in dieser Region bewusst: Im Hirzbauernhof entdeckten die damaligen Besitzer bei einer Küchensanierung um 1889 das sogenannte Brigachrelief. Diese Steinplatte mit der Darstellung von Hirsch, Hase und Vogel sowie drei Köpfen soll römisch-keltischen Ursprungs sein. Eine Nachbildung findet sich an der Quelle. So ist unsere Tour zur Brigachquelle zugleich eine Reise ins Keltenland. Auch wenn sie rege besucht wird, steht die Brigachquelle im Schatten der Bregquelle auf der Martinskapelle in Furtwangen, die zugleich Schlammschlacht am Rekord-Sommertag des Jahres 2020 im Weiher des Hinteren Hirzwaldhofes. als geografische Donauquelle gilt. Das mag auch damit zu tun haben, dass es an diesem schönen und freundlichen Ort beim Hirzbauernhof keine Einkehrmöglichkeit gibt. Aber die verdiente Stärkung haben wir in den Radtaschen selbst mitgebracht und Ruhebänke stehen für jedermann zur Verfügung. Nach einer reinen Fahrzeit von etwas mehr als drei Stunden und bald sieben Stunden nach dem Aufbruch in Donaueschingen steht jetzt die Rückfahrt an. In St. Georgen könnten wir die Schwarzwaldbahn besteigen und bis Donaueschingen mitfahren… Aber wir entscheiden uns gegen den ganz bequemen Weg. Schließlich radeln wir die Landstraße nach Brigach hinunter, rollen weiter bis St. Georgen. Dort schwenken wir auf den Radweg ein, der uns bis Peterzell zur Abzweigung nach Stockburg führt. Es geht immer bergab, was die Fahrt bequem und schnell macht. Durchs Groppertal fahren wir nach Villingen, dann führt der Weg durchs Brigachtal nach Donaueschingen zurück. Ohne besondere Anstrengung ist der Rückweg zum Auto mit dem E-Bike in gut zwei Stunden absolviert. Unser Fazit nach bald 100 Kilometern auf dem Rad: Die Brigach ist eine Reise wert – allein schon wegen den Begegnungen mit der Welt der Kelten. Vom Zusammenfluss an die Quelle der Brigach 101

 

 

 

Der Schellenberg-Trail TRAILSURFING IN DER QUELLREGION von Silvia Binninger Für jeden ambitionierten Mountain-Biker ist es ein Genuss, auf engen und steileren Naturpfaden sein Können zu beweisen. Der Schwarzwald-Baar-Kreis bietet hier auf einigen ausgewiesenen „Bike-Trails“ eine Menge Fahrspaß. Einer dieser Trails, der „Schellenberg-Trail“, befindet sich zwischen Bräunlingen und Donaueschingen. Sein Bau wurde von der Stadt Bräunlingen zwar maßgeblich unterstützt, doch einen großen Teil der Arbeit stemmten ehrenamtliche Helfer, die mit viel Herzblut ihren Traum vom eigenen Parcours verwirklichen wollten. Im Jahr 2018 war es soweit, die Strecke konnte eröffnet werden. 102 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

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Wunsch nach einem Bike-Trail Die Stadt Bräunlingen hat den Wunsch einiger Jugendlicher und junger Erwachsener im Jahr 2014 ernst genommen, einen ausgewiesenen Trail am Südwesthang des Schellenberges zu unterstützen. Nachdem die bürokratischen Hindernisse überwunden waren, konnte im Februar 2017 mit dem Trailbau begonnen werden. Die Freude war groß bei den Bikern, schnell entstand eine WhatsApp-Gruppe, in der sich die ehrenamtlichen Trailbauer organisierten. Lars Fischer, Daniel Vogt, Jonas Günzer, Luca Gantert, Ringo Ammann und Vinzent Zandona waren federführend verantwortlich. Etwa 70 Helfer organisierten sich in der WhatsApp-Gruppe und trafen sich regelmäßig mit Schaufeln und Spaten bewaffnet am Trail: zum Graben und Buddeln. Sie bauten Hindernisse, errichteten Schanzen und Kurven und befreiten die Strecke von Ästen und Gestrüpp. Es machte bald die Runde in der Mountain-Bike-Szene, dass am Schellenberg etwas Neues entsteht. So unterstützten sogar Helfer aus den Nachbarstädten Schwenningen und Dauchingen das Team. Für die Strecke sind Ausgleichsmaßnahmen notwendig. Hier installieren Jugendliche um Daniel Vogt (rechts) einen Nistkasten für Vögel. Regelmäßig beteiligten sich zahlreiche Jugendliche an den Arbeiten rund um den neuen Bräunlinger Mountainbike-Trail am Schellenberg. 104 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Das Trailbau-Team mit Ringo Ammann, Vinzent Zandona, Jonas Günzer, Daniel Vogt, Lars Fischer und Christian Vogt sowie Bräunlingens Bürgermeister Micha Bächle, Oberbürgermeister Eric Pauli aus Donaueschingen, Bürgermeister a. D. Jürgen Guse, Geschäftsführer des Naturparks Südschwarzwald, Roland Schöttle und Maren Ott vom Bräunlinger Tourismusamt bei der Eröffnung des Trails 2018. Unterstützung von allen Seiten Beratend stand der Badische Radsportverband den Trailbauern zur Seite. Der Naturpark Südschwarzwald unterstützte die Strecke ebenfalls finanziell, förderte die Beschilderung und die Werbemaßnahmen zum Bräunlinger SingleTrail. Die verbleibenden Ausgaben trug die Stadt Bräunlingen. Die Nachbarstädte Donaueschingen und Hüfingen, beteiligen sich an den laufenden Kosten zur Unterhaltung. Eröffnung 2018 Endlich konnte die Strecke am 14. Juli 2018 nach der Freigabe des Badischen Radsportverbands eröffnet werden. Ständige Wartung und Kontrolle garantieren den Fahrspaß und die Sicherheit des Parcours. Durch die vielen Fahrten der Biker ist der Verschleiß groß und es muss hin und wieder die eine oder andere Passage ausgebessert werden. Die Stadtverwaltung Bräunlingen hat hierzu Gespräche geführt und ist fündig geworden: Die passionierten Mountain-Biker der Familie Vogt aus Bräunlingen kümmern sich mit Michael Heizmann vom Skiclub Bräunlingen darum. Christian, Daniel und Heinrich Vogt sowie Michael Heizmann kontrollieren die Strecke einmal im Monat und achten darauf, dass sie befahrbar bleibt. Der Schellenberg-Trail ist nicht nur für Profis geeignet, auch Intermediate (Fahrer*innen mit mittlerer Qualifikation) haben hier ihren Spaß. Allerdings sollten Anfänger ohne Trailerfahrung die Strecke mit Vorsicht befahren. Rote und schwarze Kennzeichnungen geben an, was für wen geeignet ist. Ähnlich der Auszeichnung einer Skipiste steht die schwarze Markierung für den anspruchsvollen Teil. Es empfiehlt sich aber vor der ersten Abfahrt, die Strecke einmal zu Fuß abzuwandern. 400 Meter lang ist die mittelschwere EnduroStrecke und hat einiges an Sprüngen und steilen Kurven zu bieten – bei den schwierigen Passagen gibt es auch immer leichte Der Schellenberg-Trail 105

 

 

 

Aus der Streckenbewertung des Badischen Radsport-Verbands: Der Trail ist sportlich anspruchsvoll, die schwierigsten Hindernisse bieten aber immer eine Umfahrungsmöglichkeit. Er fügt sich sehr schön in das lokale Waldbild ein. Es wechseln sich Abschnitte mit hohem Flow und teilweise stark verblockte Abschnitte ab. Es ist eine fortgeschrittene Radbeherrschung notwendig, um diese Abfahrt bewältigen zu können. Zwar können alle ganz schwierigen Elemente umfahren werden, dennoch bleibt eine durchgehende Schwierigkeit vorhanden. Umfahrungen oder Abrollmöglichkeiten. Es geht 100 Höhenmeter abwärts auf einem sehr flowigen, sprich fließend befahrbaren Parcours. Zu einer sicheren Abfahrt gehört auch die passende Ausrüstung, der Fahrradhelm ist selbstredend ein Muss, dazu werden Knieund Ellenbogen-Schoner empfohlen. Wer möchte, kann zusätzlich einen Rückenprotektor anziehen. Das beste Bike für diesen Trail ist ein voll gefedertes Mountain-Bike oder ein gefedertes E-Mountain-Bike. Der Trail kann jedoch auch mit einem einfach gefederten Bike/Hardtail bewältigt werden. Die MTB-Saison beginnt am 1. April und endet am 31. Oktober, sie ist vom Forstbzw. der unteren Naturschutzbehörde vorgegeben. Die Nutzungsbedingungen bzw. „Trail Rules“ sind auch auf der Homepage www.schellenberg-trail.de zu finden. 106 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Linke Seite: Rasant geht es den Trail hinab. Oben links: Lars Fischer und Daniel Vogt vom Trailbauteam bei der Eröffnung 2018. Oben rechts: Der Blick vom Bike auf die Strecke mit einer GoPro fotografiert. Unten links: Eine Bikerin testet den Parcours. Unten rechts: Das Trailbauteam auf der Holzrampe. Zwei Jahre nach der Eröffnung des Trails ist die Freude groß bei Maren Ott vom Bräunlinger Tourismusamt über die grandiose Entwicklung dieser Strecke am Schellenberg, so zentral in der Quellregion gelegen. Sie betont: „Wir sind schon ein bisschen stolz darauf, dass in der Heimat des Schwarzwald-Marathons auch das Mountainbiken sogar mit zwei Trails bzw. Parcours, einer in der Kernstadt und einer in Unterbränd zuhause ist.“ Bei guten Witterungsbedingungen und am Wochenende herrscht reger Verkehr am Trail. Zahlenmäßig sind die Biker leider nicht zu fassen. Sie kommen aus der gesamten Region, vereinzelt sogar aus den Großräumen Rottweil oder Stuttgart. Es tummeln sich hier Vereine, Gruppen, aber auch Einzelfahrer. Eine kleine Mountainbike-Szene hat sich schon um den Trail gebildet. Viele Jugendliche identifizieren sich mit diesem Projekt und helfen bei den Ausbesserungsarbeiten. Lars Fischer vom Trailbau-Team würde gerne das Angebot an Strecken auf der Gemarkung Bräunlingen erweitern, um die Attraktivität weiter zu erhöhen. Der Schellenberg-Trail 107

 

 

 

Wegbeschreibung: Wie kommen wir zum Trail? Es gibt zwei Möglichkeiten mit dem Bike zum Ausgangspunkt zu gelangen. Für alle, die von Bräunlingen kommen, starten wir am Ringzug-Bahnhof, überqueren die Donaueschinger Straße und biegen in die Bregenbergstraße ein. Wir folgen dem, mit gelben Schildern ausgewiesenen Weg durch ein Wohngebiet, fahren weiter stetig bergauf. Am Ende eröffnet sich uns schon eine grandiose Aussicht über Bräunlingen. Nach einer Rechtsund dann wieder Linkskurve folgen wir dem Weg geradeaus bis zum Waldrand. Endlich haben wir die große Hinweistafel, die den Trail beschreibt, erreicht. Auf dieser wird Wichtiges über die Benutzung und die Beschilderung aufgezeigt. Zu diesem Ausgangspunkt können wir aber auch von Donaueschingen aus starten. Dazu fahren wir am Krankenhaus vorbei und die Sonnhaldenstraße hinauf. Nun umfahren wir die Sonnhaldenklinik linksseitig und weiter zieht sich der Weg bergauf bis zur Amalienhütte. Wir genießen hier einen wunderbaren Ausblick auf die Baar und manchmal erstreckt sich die gesamte Berner Alpenkette am Horizont. Jetzt geht es weiter an der Hütte vorbei den Berg ein kleines Stück hinunter. Ein Hinweisschild zeigt uns den richtigen Pfad, der nach links abbiegt. Wir folgen dem gut ausgeschilderten Weg. Nach einer kurzen Abfahrt auf einer Schotterpiste treten wir wieder stetig den Berg hinauf und erreichen ebenfalls die Hinweistafel zum Trail. Nach dem Anstieg geht es endlich bergab Der tatsächliche Einstieg in den Trail befindet sich jedoch noch ein kleines Stück weiter oben im Wald. Wir fahren deswegen auf einer schmalen Rückegasse links von der eigentlichen Streckenführung etwas bergauf. Nun befinden wir uns am Startpunkt, einer Holzrampe, und schieben das Bike hinauf – mit Schwung geht es jetzt bergab. Der erste Teil des Trails ist kurvig, aber nicht ganz so steil. Für Geübte bieten sich hier gleich einige Sprünge an, die wir aber auch umfahren können. Weiter geht es bergab über schöne Wurzelteppiche bis zum nächsten größeren Sprung, dem ebenfalls auf der rechten Seite ausgewichen werden kann. Jetzt eröffnet sich ein etwas steileres, kurvenreiches Stück, das wie der übrige Trail gutes fahrerisches Können verlangt. Eine linksseitige abgeschrägte Kurve bildet den krönenden Abschluss dieser Passage. Nach einem kurzen, flacheren Teil fahren wir über ein abschüssiges Steinfeld mit Spitzkurve. Geübte Fahrer haben hier ihren Spaß, andere „tasten“ sich eher vorsichtig hindurch. Am Ende des ersten Teilstücks führt der Trail über einen hohen Absatz auf einen Waldweg. Hier ist Vorsicht geboten für Wanderer wie auch für Biker. Hinweisschilder warnen vor beiden Parteien. Es ist wichtig, dass bei allem Spaß der Respekt vor der jeweiligen Freizeitbeschäftigung gewahrt bleibt. Der zweite Streckenabschnitt Wir überqueren den eben erwähnten Weg und weiter geht es links abbiegend den Pfad entlang. Dieses Stück ist sehr abschüssig und wir müssen auf der Hut sein, um nicht rechts den Hang hinunterzurutschen. Weiter geht es über Wurzeln und Steine, noch zwei kleine Sprünge und wir haben das Ende erreicht. Auf dem Waldweg/Eichhölzleweg fahren wir links weiter, wiederum durch das Bräunlinger Wohngebiet zu unserem Ausgangspunkt, dem Bahnhof in Bräunlingen. Die Biker, die nach Donaueschingen zurück möchten, biegen am Ende des Trails nach rechts ab und treten stetig dem Waldweg folgend den Schellenberg wieder hinauf bis zur Amalienhütte. Dort sehen wir schon Donaueschingen unter uns liegen. Wir folgen dem ausgeschilderten Weg hinunter in die Stadt. 1. Die Holzrampe am Startpunkt. 2. Der erste Sprung, der umfahren werden kann. 3. Das steile kurvenreiche Teilstück. 4. Die linksseitige Kurve am Schluss dieses Stücks. 5. Das sehr abschüssige Steinfeld. 6. Wurzelteppich im zweiten Streckenabschnitt. 108 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

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DER JUNGEN DONAU ENTLANG von Rudolf Reim Jahr für Jahr starten mittlerweile Tausende von Radfahrern auf eine Donautour. Viele radeln über Wochen hinweg vom Zusammenfluss in Donaueschingen aus bis zum Biosphärenreservat Donaudelta, der Mündung der Donau in das Schwarze Meer. Der Radfernweg führt auf einer Strecke von etwa 2.850 km durch die Länder Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien. Wer nicht so lange unterwegs sein kann oder will, der kann die Donau auch ein Stück lang im Schwarzwald-Baar-Kreis begleiten und über den Wartenberg sowie Unterhölzer Wald wieder nach Donaueschingen zurückradeln. Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar 111

 

 

 

Los geht’s in Donaueschingen. Zwar ist der offizielle Startpunkt dieser Tour zugleich der Startpunkt des Donau-Radweges am Lammplatz, doch zieht es mich für ein Foto zunächst zur historischen Donauquelle. Schon seit dem 15. Jahrhundert gibt es dort eine Quell-Fassung. 1875 wurde das kreisrunde Quellbecken neu geschaffen und mit Ornamenten reich verziert. Hier ist ein Anziehungspunkt für Besucher aus der ganzen Welt – die Quelle ist viel besucht und der Donau-Radweg viel befahren. Die Hinweisschilder des Donau-Radweges zeigen wo es lang geht. Ich fahre vorbei an der Stadtkirche St. Johann, die mich mit ihren frischen Farben anstrahlt. Über die Brigach-Brücke geht es nach ca. 200 Metern auf der Josefstraße links ab über die Prinz-Fritzi-Allee in den Schlosspark. Der Donaueschinger Schlosspark ist einer der größten Landschaftsparks im Südwesten. Bemerkenswert ist sein Wasserreichtum. Viele Quellen, Weiher, Bäche und Kanäle beleben den Park und legen beredet Zeugnis davon ab, dass hier ursprünglich nichts war als Sumpf. Von Anfang an war er nicht nur den Mitgliedern des fürstlichen Hauses vorbehalten, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich. Sie sollte sich hier an der Natur erfreuen und ebenso gesundheitlich profitieren. Schon um 1800 brachte es der fürstliche Hofkavalier auf den Nenner: „Einst den Fröschen, jetzt der Gesundheit“. Aufgrund von Baumaßnahmen am Zusammenfluss von Brigach und Breg ist der Donau-Radweg umgeleitet. Die Ausschilderung ist vorbildlich und ich radle weiter im Park in Richtung Allmendshofen. Es geht direkt am Sportpark der DJK vorbei. Schon früh am MorKURZBESCHREIBUNG Strecke: ca. 40 km Dauer: • mit E-Bike: ca. 2,5 Stunden reine Fahrzeit • mit einem Mountainbike ohne elektrische Unterstützung: ca. 3,5 Std. reine Fahrzeit Pausen: Pfohren: Café, Neudingen: Grablege, Wartenberg, Donaueschingen je nach Lust und Interesse 30-60 min. Höchster Punkt: 830 Meter über NN Tiefster Punkt: 670 Meter über NN Bergauf: 330 Höhenmeter Bergab: 330 Höhenmeter Anforderung: mittel (leicht, wenn man den Wartenberg auslässt) Fahrrad: E-Bike / Mountain Bike Aussichtsreiche Rundtour mit vielen Sehenswürdigkeiten und einigen Möglichkeiten zum Einkehren. START/ENDE: DONAUESCHINGEN/ LAMMPLATZ AASEN IMMENHÖFE DONAUESCHINGEN PFOHREN HÜFINGEN DREILÄRCHEN 112 NEUDINGEN GUTMADINGEN Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

gen treffe ich hier auf Josef Reith, der mit Vorbereitungen für einen Wettkampf beschäftigt ist. Ich komme mit dem sympathischen Herren ins Gespräch. Er erzählt, dass er heute das Deutsche Sportabzeichen abnimmt. Für den Erwerb des Abzeichens werden in den vier Sportarten Leichtathletik, Schwimmen, Geräteturnen und Radfahren Prüfungen abgelegt. Zwischenzeitlich sind die beiden Prüflinge Harald Sell und Peter Strittmatter auch da. Sportlich sehen sie aus, die drei Herren aus Donau! Auf jeden Fall wäre mit meiner Tour zugleich ein Anfang für das Sportabzeichen gemacht. Jetzt überquere ich den zweiten Quellfluss der Donau, die Breg. Ich folge den Schildern und unterquere die B 33, um an den Riedsee zu kommen. Das Ried ist ein Gelände, auf dem sich vier größere und mehrere kleinere Seen befinden. Wegen ihrer landschaftlichen Reize – aber auch zum Beobachten von heimischen oder durchziehenden Wasservögeln – sind die Riedseen ein beliebtes Ziel bei Naturfreunden und Vogelkundlern. Auf dem Parkplatz fällt mir ein Wohnmobil im Retrostil ins Auge, ein gepflegter Hymer mit H-Kennzeichen. Er strahlt eine Gemütlichkeit aus wie ein altes Sofa. Macht sicher Spaß, damit unterwegs zu sein. Pfohren – „Das erste Dorf an der Donau“ Die Hinweisschilder kündigen mein nächstes Ziel an; Pfohren. „Das erste Dorf an der Donau“, begrüßt ein Schild am Ortseingang. Eine Brücke führt über die junge Donau. Auf der Brücke steht ein älterer Herr in Tarnkleidung und mit einer Fotokamera. Zunächst beobachte ich nur, wie er gespannt in das Okular der Kamera schaut. Vorne ein mächtiges Teleobjektiv mit Tarnring. Dann kommen wir ins Gespräch: Jean Tanchot stammt aus Donaueschingen, er ist leidenschaftlicher Tierund Naturfotograf. Von ihm erfahre ich viel Wissenswertes über die Artenvielfalt an der jungen Donau. So über den Eisvogel, den er heute im Visier hat. Ja, Der „Storchenbrunnen“ in Pfohren. Der jungen Donau entlang tatsächlich entdecke auch ich den kleinen blauen Vogel, wie er knapp über der Wasseroberfläche den Fluss quert. Er sieht aus wie ein blaues Juwel und sticht, trotz der Fluggeschwindigkeit, aus dem Wasser und der Uferböschung hervor. Mit Jean Tanchot‘s Unterstützung entdecke ich plötzlich Fische, Wildgänse und vieles andere mehr. Jean Tanchot erzählt mir aus seinem Leben, von der Arbeit in St. Georgen, wo man ihn schlicht „den Franzosen“ nannte. Auf Facebook und Instagram zeigt er seine Bilder. Es sind die Natur, die Denkmäler und die Geschichte, die diese Tour so schön machen. Aber nichts ist für mich spannender als die Menschen, die im Schwarzwald-Baar-Kreis leben. Viele, die hier aufgewachsen sind und ihre Wurzeln haben – und andere wie ich oder Jean Tanchot, die es hierher verschlagen hat. 113

 

 

 

Gruftkirche der Fürsten zu Fürstenberg in Neudingen, rechts die Familie Hahn auf ihrer Donautour nach Ulm. Da ich bei Süßem schlecht „Nein“ sagen kann, lege ich einen Halt am „s‘Café an der Donau“ ein. Es liegt an einem ausgemacht schönen Platz. Die Terrasse mit Blick auf die junge Donau und die Brücke. Über der Theke hängt der Spruch „Kein Kuchen ist auch keine Lösung“. Ich entscheide mich für eine Apfeltasche und packe die in meinen Rucksack. Im Ort geht es rechts ab und nach wenigen Metern sehe ich die Entenburg. Auch diese ehemalige Wasserburg ist, wie schon das Schloss in Donaueschingen, von den Fürstenbergern erbaut worden. Und zwar 1471. Damals noch „hus zu Pforren“ genannt. Prominentester Gast war Kaiser Maximilian I. Heute befindet sich die Entenburg in Privatbesitz. Auf der „Alten Schule“, in direkter Nachbarschaft zur Burg, schaut ein Storch aus seinem Nest. Je nachdem, zu welcher Jahreszeit man unterwegs ist, trifft man auf der Baar und zumal in Pfohren/Neudingen immer wieder auf Störche. Am Ortsende macht der Radweg einen Rechtsknick und führt direkt an der Donau entlang. Es ist herrlich, hier mit dem Rad unterwegs zu sein. Die Luft ist klar und heute spiegelt sich die Flora und Fauna auf der Wasseroberfläche. Ich unterquere die B 31, die nach Tuttlingen führt. Nach ca. dreihundert Metern geht es leicht abschüssig nach Neudingen. Vor mir breiten sich „die Mutter Baar und ihre Tochter Donau“ in ganzer Schönheit und Vielseitigkeit aus. Das Gebiet hier ist ein Vogelschutzgebiet von europäischem Rang. Für die Vögel, die auf ihrem Flug von den Brutgebieten in Nordeuropa und Sibirien in die afrikanischen Winterquartiere und auch bei ihrer Rückkehr im Frühjahr weite Strecken zurücklegen, stellt die Baar eine unverzichtbare Zwischenstation dar. Am Radweg finden sich Informationstafeln des Landschaftsparks Junge Donau. Wenn es die Zeit erlaubt oder man mit Kindern unterwegs ist, empfehle ich den „Riedbaar Rundweg“. Er liegt direkt am Weg und informiert über die Fische in der Donau, die Vegetation auf der Baar, die Vögel und Insekten. Aber auch über die Bewässerung, Landwirtschaft oder Nutztiere auf der Baar erfahre ich viel Interessantes. Neudingen mit der Historischen Kaiserpfalz Noch immer befinde ich mich auf Donaueschinger Gemarkung. In der 700 Einwohner großen Gemeinde Neudingen wartet ein weiterer Höhepunkt der Tour, das Ziel wird schon am Ortseingang angekündigt: die Historische 114 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Die junge Donau bei Neudingen. Kaiserpfalz. Auf dem Weg durch den Ort komme ich auf wenigen Hundert Metern gleich an vier teils ehemaligen Gasthäusern vorbei. Am Gasthaus zum Bahnhof, Gasthof Linde, Gasthof Sonne und Gasthof Storchen. Das Gebiet wurde schon vor über 5.000 Jahren besiedelt. Bereits 870 ist die Neudinger Pfalz in einer Urkunde des Klosters St. Gallen erwähnt. Am 13. Januar 888 verstarb Kaiser Karl III. aus dem Hause der Karolinger auf dem Königshof in Neudingen. Von 1274 bis 1802 bestand auf dem Gelände der ehemaligen Pfalz das Kloster Neudingen. Vorbei an der Pfarrkirche St. Andreas führt die Tour in Richtung Gutmadingen. Hinter einem schmiedeeisernen Tor liegt ein ruhiger, ein magischer Ort: die Gruftkirche der Fürstenfamilie zu Fürstenberg samt Park mit den Familiengräbern. Es ist Zeit durchzuschnaufen, innezuhalten. Anschließend geht es zurück in Richtung Bahnhof. Am Bahngleis treffe ich Albert Hahn mit seiner Familie. Er steht mit seinem Verkaufswagen zweimal in der Woche auf dem Villinger Markt am Münster. Ich liebe seinen schmackhaften Käse vom Untermühlbachhof in Peterzell. Mit den Rädern sind die Fünf unterwegs nach Ulm. Tolle Menschen gibt es hier im Landkreis. Albert Hahn und seine Frau gehören für mich dazu. Ich habe großen Respekt davor, wie die beiden ihre Familie und die Verantwortung für den Hof meistern. Der geografische Höhepunkt der Tour Jetzt geht es zurück an die Junge Donau und ich biege auf dem Donauradweg rechts ab in Richtung Gutmadingen. Der Weg führt durch Sonnen blumenfelder, Mais und Getreide. Vorbei an Wiesen und der nahen Donau, die hier ganz Natur sein darf. Nach zwei Kilometern kommt der Abzweig zum Wartenberg. Ich unterquere die B 31, um gleich wieder links abzubiegen. Ein historisches Wegkreuz steht unmittelbar am Weg und dahinter kommt der geografische Höhepunkt der Tour in Sicht: der Wartenberg. Ein schönes Bild. Vor mir liegt der Unterhölzer Wald der Fürsten zu Fürstenberg mit seinen uralten Eichen. Es ist ein ganz außergewöhnlicher Wald. Ich stoße auf den Tierfriedhof Schwarzwald-Baar und schiebe mein Mountainbike an der Holzschranke vorbei, um ein paar Schritte nach innen zu gehen. Es ist ein schöner Platz für den besten Freund des Menschen. Der Laubmischwald Der jungen Donau entlang 115

 

 

 

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besteht aus Eichen und Eschen. Die Wege sind mit weicher Baumrinde präpariert. Die Erinnerungstafeln und die liebevollen Grabstellen zeigen, dass Menschen hier ihre treuen Weggefährten begraben haben. Der Weg geht weiter durch den Wald, der zum Forstbetrieb der Fürsten zu Fürstenberg gehört. Am Ende biege ich nach rechts auf die Landstraße ab, die zu dem Weiler „Drei Lärchen“ und auf den Wartenberg führt. 1783 gründete ein Fürstenberger die Bauernkolonie für sieben Siedler. Gänse schnattern um die Wette und „frische Eier“ sind ab Hof im Angebot. Die Höfe empfangen mich mit reichem Blumenschmuck, und das große Sonnenblumenfeld am Anstieg zum Wartenberg wäre eine gute Vorlage für ein Stillleben. Am Wegkreuz geht es gut zwei Kilometer hinauf mit einer Steigung von zehn Prozent. Auf etwa halbem Weg lädt eine Bank zum Durchschnaufen ein. Ich nutze die schöne Aussicht auf die Höfe und ins Tal, um jetzt meine leckere Apfeltasche zu genießen. Herrlich, was der Donaubäcker in Pfohren aus Blätterteig und Äpfeln macht. Auf der Liste der Vulkane in Deutschland findet sich unter „Hegau“ auch der Wartenberg. Der nördlichste Basaltkegel des Hegaus ist 844,8 Metern hoch. Der letzte Ausbruch ist allerdings bereits Millionen von Jahren her. Um einen Schweißausbruch zu vermeiden, schiebe ich mein Cannondale Jekyll die letzten Meter den steilen Berg hinauf. Schließlich sind wir beide ja nicht mehr die Jüngsten 🙂 Vor mir liegt die höchstgelegene Streuobstwiese des Landes. Apfelbäume, Zwetschgen, Birnen wie aus dem Bilderbuch. Die roten Früchte strahlen mich an. Es ist ein beglückendes Gefühl, nun oben angekommen zu sein. Von hier aus – es handelt sich um den südlichsten Zipfel der Schwäbischen Alb – habe ich einen grandiosen Ausblick auf die Baar. Unten im Tal Gutmadingen, Neudingen und der Fürstenberg. Wartenberg-Impressionen und Blick vom Wartenberg zur jungen Donau. Der jungen Donau entlang 117

 

 

 

Der Rundblick reicht über Hüfingen und Donaueschingen hinweg bis zum Feldberg. Etwas unterhalb der Bergkuppe in Richtung Donaueschingen stand über lange Zeit die Burg Wartenberg. Ich umfahre den Wartenberg und folge dem Hinweis „Unterhölzer Wald“. Die Scheibenbremsen quietschen, was das Zeug hält. Es geht zurück zur ehemaligen Bauernkolonie „Drei Lärchen“. Durch den Weiler lasse ich das Rad laufen und biege am Ende der Geraden, direkt in der Kurve, nach rechts ab in den Wald. Ein Hinweisschild informiert mich, dass ich mich im Privatwald der Fürstenberger befinde. Der Untergrund wird gröber, sodass es von Vorteil ist, wenn das Trekkingoder Mountainbike eine gute Bereifung hat. Quer durch den Unterhölzer Wald Der Unterhölzer Wald gilt als eines der schönsten Naturschutzund Waldgebiete der Region. Uralte Baumbestände zeichnen das Naherholungsgebiet aus. Es wird geprägt von Jahrhunderte alten Eichen, dick und knorrig. Manche abgestorbene Bäume muten wie ein Kunstwerk an. Ich atme tief durch und stelle meine Kamera um auf den Schwarz-Weiß-Modus, da dadurch das Ganze auf dem Foto noch besser zum Ausdruck kommt. Die Natur ist selbst das größte Kunstwerk auf unserem Planeten. Das Totholz ist für viele Insekten der Lebensraum. Der „Circle of Life“ ist hier hautnah zu spüren. Der Wald gehörte ursprünglich zur Herrschaft der Wartenberger. Durch Heirat im 13. Jh. ging er an das Fürstenhaus in Donaueschingen. Der „Unterhölzer“ ist auch bekannt für seinen Wildreichtum, insbesondere an Damwild. Sogar Kaiser Wilhelm weilte öfter in Donau eschingen, um im Unterhölzer Wald der viel geliebten Jagd nachzugehen. Ich folge dem Hauptweg, bis eine Markierung den Abzweig nach links vorgibt. Jetzt geht es über einen langen Waldweg direkt auf das Jagdhaus der Fürsten zu. Einige Meter vor ihm biege ich nach links auf die „Pfohrener Allee“ ab. Es geht am Jägerhaus vorbei auf den Waldweg, der schnurstracks am alten Pförtnerhaus endet. Von Weitem sehe ich ein Fahrzeug, das auf dem Weg steht. Ich halte an und sehe, wie ein junger Mann aus dem Gehölz kommt. Es ist Jörg Fünfgeld. Im Gespräch erfahre ich von ihm, dass er Forstwirtschaft in Rottenburg studiert hat und nun für das Naturschutzgroßprojekt Baar aktiv ist. Auch der Unterhölzer Wald wird in dieser Maßnahme bearbeitet. Ziel des Projektes, das von Bund, Land und den beiden Landkreisen Schwarzwald-Baar-Kreis und Tuttlingen getragen wird, ist, die Wald-, Trockenund Feuchtlebensräume für den Artenund Biotopschutz und den Biotopverbund zu sichern. Jörg Fünfgeld ist dabei, junge Bäume gegen Wildverbiss zu schützen. Ich verlasse den Wald und das Rad läuft leicht bergab. 118 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Frühherbstliche Idylle im Unterhölzer Wald. Foto: Erich Marek Rechts: Der Forstwirt Jörg Fünfgeld ist für das Naturschutzgroßprojekt Baar auch im Unterhölzer Wald aktiv. Über die weite Hochebene der Baar Die Beschilderung auf der ganzen Tour ist vorbildlich. Nach 2,5 Kilometern geht es nach rechts in Richtung Immenhöfe. Auf gleicher Höhe stehen links ein Wegkreuz und eine Bank. Nun geht es stetig bergauf. Das Schilf am WeiherDer jungen Donau entlang 119

 

 

 

Wer auf der Baar radelt, trifft auf ein weitläufiges, überwiegend gut ausgebautes Wegenetz. Im Gegensatz zum Schwarzwald bietet die Baar weite Blicke, beispielsweise von Aasen aus hinüber zum Fürstenberg (oben). Bei Aasen stößt man auf den „einsamen Baum“, der zwischen dem Feldermeer wie ein Leuchtturm aufragt. graben wird vom Wind, der über die Baar weht, hin und her geschaukelt. Ich schalte in einen kleinen Gang und trete gleichmäßig die vor mir liegenden 2.600 Meter auf die Immenhöfe zu. Durch meinen Kopf schießen die Bilder vom „Fest der Pferde“. Das Reitturnier ist das Highlight des Jahres für alle, die Pferdesport lieben. Oben an der Landstraße geht es rechts ab in Richtung Bad Dürrheim, schon nach ca. 300 Metern links nach Aasen. Über einen gut befahrbaren Sandweg rollt mein Rad an Pferdekoppeln vorbei. Prächtige Tiere stehen dort ein. Auf der rechten Seite hat man von hier aus einen hervorragenden Blick über ein Fünf-Sterne-Superlativ, den Öschberghof. Das Hotel mit Golfclub wurde 1976 von Unternehmer Karl Albrecht erbaut und über die Jahre hinweg permanent vergrößert. Der vor mir liegende Platz ist ein echtes Superlativ: 45 Loch auf drei Golfplätzen ist weit und breit einmalig. Ich fahre leicht bergab und in der Talsohle geht es rechts ab mit Ziel Aasen. Der Weg führt direkt durch den Golfplatz, deswegen heißt es hier besonders aufmerksam zu sein. Das gepflegte Green, die Sandbunker und die wehenden Fahnen an den Löchern: Alles wirkt auf mich wie aus der Image-Broschüre, so perfekt sieht das Areal aus. Es geht wieder hinauf. Die knapp drei Kilometer ziehen sich. Von Weitem sehe ich einen Baum am Wegrand stehen. Ganz für sich. Der Wind bläst mir ins Gesicht. Gut, dass ich eine Radbrille trage. „Der einsame Baum“ trägt seinen Namen am Stamm. Ich trete ein paar Schritte zurück, um ein Foto aufzunehmen. Manchmal tut ein wenig „Einsamkeit“ auch gut, denke ich und mache mich wieder auf den Weg. Die Aussicht von hier ist sehr gut. Ich sehe die Ausläufer der Schwäbischen Alb auf der einen Seite, hinter mir den Wartenberg und im Westen den Schwarzwald. Um mich herum erstreckt sich die Baar. Ich folge den Schildern und es geht hinab durch den Ort Aasen. Er wurde 973 erstmals erwähnt. An der Einmündung zur Ostbaarstraße steht ein Brunnen. Ich biege ab in Richtung Donaueschingen und lasse Aasen hinter mir. Der neue Öschberghof mit seinen dunklen, klaren Gebäudestrukturen liegt nach wie vor in Sichtweite. Eine schöne Baumallee begleitet mich entlang des Weges in Richtung Ziel. Ich sehe die 120 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Silhouette von Donaueschingen, und fahre ein letztes Mal gegen den Wind über die B 27, vorbei am goldenen „M“ eines US-amerikanischen Fastfood-Restaurants. Auf gleicher Höhe steht eine Bank mit einem Wegkreuz, das an die Flurbereinigung 1985 erinnert. Darauf eine Tafel mit der Inschrift: „Herr, gib unseren Fluren Deinen Segen. Gib uns Sonnenschein und Regen.“ Wie wahr – wie wahr. Ein Plakat an der Einfahrt zur Donaueschinger Stadtmitte motiviert mich dann doch noch zu einem weiteren Abstecher: „Vollgas – Full Speed“ und ein goldener 911er sprechen mich an. Das Museum Art.Plus der Familie Biedermann zeigt zeitgenössische Kunst von internationalen Künstlern. Meine Radtour endet wie geplant am Diana-Brunnen vor der Fürstenberg-Brauerei. Der Brunnen erinnert an die 14 Besuche des deutschen Kaisers in der Stadt. Ich werde sicher wieder kommen und zu Fuß das Museum, die Fürstenberg-Sammlung und vieles mehr erkunden. Der jungen Donau entlang 121

 

 

 

Eine Radtour der vielen Möglichkeiten: VON VILLINGEN ZUM NIKOLAUSKIRCHLE 122

 

 

 

Ob sportlich oder genüsslich – ein Radausflug mit Familie, Freunden oder auch alleine ist nicht nur ein Naturerlebnis, sondern auch eine gesunde Sache: Das Herz-Kreislaufsystem wird gestärkt, der Kopf frei und man kann die Umgebung erkunden, fast ohne Schadstoffe zu produzieren. Der Schwarzwald mit seinem viele Tausend Kilometer langen, gut ausgeschilderten Radwegenetz bietet dafür unzählige Möglichkeiten. Ein Beispiel ist die hier beschriebene gut 30 Kilometer lange Tour: Sie führt über Obereschach, Neuhausen und Erdmannsweiler durch das Untere Glasbachtal bis zur Ruine Waldau und über einen Abstecher nach Buchenberg bis nach Königsfeld. Schließlich über Mönchweiler und Sommertshausen zurück zum Startpunkt. Egal, ob man mit dem E-Bike oder ausschließlich per Muskelkraft unterwegs ist: Durch die zahlreichen Sehenswürdigkeiten und mannigfaltigen Einkehrmöglichkeiten kann der Ausflug auf ausschließlich befestigten Wegen nahezu tagesfüllend ausfallen, ist für Eiligere aber auch in gut drei Stunden zu schaffen. Ebenso sind Teil-Etappen möglich. von Birgit Heinig Wir steigen am Rande des Villinger Wohngebietes Haslach auf dem Radweg aus dem Stadtzentrum und den Steinkreuzwiesen kommend ein und sind einmal mit und einmal ohne Motor unterwegs. Die ersten Meter radeln wir neben der Obereschacher Straße her. Wenn das Waldstück nach einer lang gezogenen Rechtskurve den herrlichen Blick freigibt auf Obereschach und die dahinterliegende Schwäbische Alb, kann man sich auf eine genussvolle Abfahrt freuen, die mitten in den Ortsteil von Villingen-Schwenningen mit seinen rund 1.700 Einwohnern führt. Nach dem Marbacher Kreisverkehr in der Talsohle lohnt sich ein kurzer Rechtsschwenk zum „Bruckburehof“ direkt gegenüber des Restaurants Schweizerhof. Der dortige Lehnsbauernhof der Villinger Johanniter wurde vermutlich 1705 gebaut. Der gewölbte Hochkeller gibt Hinweise auf eine Existenz seit 1651. Das Kulturdenkmal ist heute im Privatbesitz, wie man auf einer Infotafel nachlesen kann. Ein steiler, aber kurzer Anstieg auf der gegenüberliegenden Hangseite muss sein, wenn man sich auch gleich die St. Ulrich Kirche genauer ansehen möchte. 1821 errichtet, 1907 und 1981 renoviert, gilt sie als eine der schönsten Dorfkirchen der Umgebung und ist Teil der katholischen Seelsorgeeinheit „An der Eschach“. Von Neuhausen bis Erdmannsweiler Zurück im Sattel schwenken wir auf die Neuhauser Straße ein, teilen uns die Fahrbahn für ein kurzes Stück mit dem Autoverkehr, bevor wir linksseitig auf einen Radweg abbiegen, der uns direkt nach Neuhausen führt. Die wohl älteste Ansiedlung in der Gesamtgemeinde Königsfeld ist erstmals 1094 in der Gründungsschrift des Klosters St. Georgen erwähnt. Ganz in der Nähe – aber dafür müsste man in Richtung Königsfeld eine Anhöhe überwinden – sind sogar Reste alemannischer Gräber zu besichtigen. Wer den gut halbstündigen Umweg nicht scheut, erkundigt sich über den versteckt liegenden Ort am besten bei Einheimischen. Die Kirche St. Martin ist mit ihren alten Heiligenfiguren, dem Rippengewölbe im Chor von 1515/1520 und der historischen Orgel des französischen Orgelbauers Charles Mutin aber ebenso spannend. 1275 wurde St. Martin erstmals als eigenständige Pfarrei genannt. Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar 123

 

 

 

Weiter geht es durch den Ort bei wenig Verkehr und bald wieder auf einem Radweg – einfach den Beschilderungen mit dem grünen Fahrrad folgen – in Richtung Erdmannsweiler. Bei guter Sicht ist auf der Höhe der Rottweiler Testturm für Aufzüge sichtbar. Auch die Ortsgeschichte von Erdmannsweiler ist eng mit dem einstigen Kloster St. Georgen verbunden. Der ursprüngliche Name „Ortinswilere“ geht auf den Namen Ortwin und dessen „vilare“ (Gehöft) zurück. Wer das war, dazu schweigen die Geschichtsbücher allerdings. Wir durchqueren den Ort entlang liebevoll angelegter Gärten und radeln zwischen goldenen Getreidefeldern weiter in Richtung Burgberg. Geschichtsträchtiges Burgberg Vor über 900 Jahren ließen sich hier die Herren von Burgberg nieder. Die Ruine „Weiberzahn“ KURZBESCHREIBUNG BUCHENBERG Strecke: 30 km Dauer reine Fahrzeit: 3 Stunden Dauer mit Pausen und Besichtigungen: ein Tag Höchster Punkt: 830 Meter über NN Tiefster Punkt: 690 Meter über NN Anforderung: leicht Fahrrad: E-Bike / Trecking-Fahrrad Radtour mit vielen Sehenswürdigkeiten und etlichen Möglichkeiten zum Einkehren. 124 BURGBERG ERDMANNSWEILER NEUHAUSEN KÖNIGSFELD MÖNCHWEILER OBERESCHACH SOMMERTSHAUSEN START/ENDE: VILLINGEN/ HASLACH VILLINGEN Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

auf der Bergnase zwischen Hörnlebach und Glasbachtal wäre einen weiteren Abstecher wert. Ebenso die Reste eines Wasserschlosses hinter dem nach langem Dornröschenschlaf gerade wieder in Betrieb genommenen Gasthof Kranz in der Ortsmitte. Der Kranz wurde 1486 als Haltestelle für Pferdefuhrwerke erbaut. Bis 1906 braute man hier Bier, eine Brennerei ist bis heute in Betrieb. Seit 1956 ist das Gasthaus in Besitz der Familie Schittenhelm. Wir lassen es rechts liegen, Auf der Höhe von Erdmannsweiler blickt man weit in die Schwäbische Alb hinein – Urlaub für die Augen. Der Blick zurück auf das einstige Wasserschloss von Burgberg lohnt. xyz 125

 

 

 

Die Burgruine Waldau. Der Bergfried ist fast völlig erhalten, es finden sich außerdem Reste der Ringmauer und des Ringgrabens. 126 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Blick über das Untere Glasbachtal. strampeln eine kleine Anhöhe hinauf und biegen rechts in das Untere Glasbachtal ab. Ein paar Pedal umdrehungen braucht es, bevor sich der Blick zurück auf den viereckigen Turm des zwischen 1200 und 1250 erbauten Wasserschlosses lohnt. Der war einst höher und mit einem Ziegeldach über einer Wohnstube ausgestattet. Die untere Etage beherbergte ein Gefängnis. Entlang des Hörnlebaches entstanden zu Zeiten der Burgherren viele Mühlen. Eine davon ist die 200 Jahre alte Nonnenmühle, die man auf der lichten und bei Sonnenschein angenehm schattigen Waldstraße bald erreicht. Bis vor 80 Jahren war sie noch in Betrieb. Ihr Name stammt nicht etwa von Ordensfrauen, die hier lebten, sondern, so vermuten die Historiker, entweder von dem Wort „Wunne“, wie damals eine hochgelegene Weide genannt wurde oder von hier weidenden, unfruchtbaren weiblichen Nutztieren, den „Nonnen“. Von der Burgruine Waldau bis nach Buchenberg Sobald wir den Wald verlassen und die L 177 überquert haben, sind die Burgruine Waldau und die Waldauschänke nicht zu übersehen. Im einstigen Beck-Hof, der um etwa 1822 vor die Ruine gebaut wurde und Ende der 1970er-Jahre in die Liste der Kulturdenkmale aufgenommen wurde, erhält der Radler nicht nur Getränke und eine Stärkung, auch der Akku des E-Bikes darf hier offiziell einen Schluck Strom nehmen, wie ein freundlich-gelbes Hinweisschild verspricht. Nur wenige Stufen sind es bis zur Ruine hinauf. 40 Cent in die Kasse werfen und schon fühlt man sich in die Zeit des Grafen von Urach zurückversetzt, einem Vorfahr der Fürstenberger, der die Burg zwischen 1218 und 1236 gründete. 1591 gehörten zu deren herrschaftlichem Besitz 27 Höfe der Vogteien Waldau-Buchenberg und Peterzell. Seit 1885 ist die Ruine im Besitz des Staates, der sie erhält. In jedem Sommer – außer im Coronajahr 2020 – werden in ihrem Hof Theater abende veranstaltet. Jetzt geht es kräftig den Berg hinauf – glücklich, wer hier auf seinem E-Bike eine Stufe höher schalten kann. Wir erreichen Martinsweiler, verschnaufen kurz und treten auf dem grünen Planweg weiter kräftig in die Pedale. Ein Blick Von Villingen zum Nikolauskirchle 127

 

 

 

Die stattliche Buchenberger Friedhofslinde – ein geschütztes Naturdenkmal. Links unten: Beliebter Treffpunkt für Hochzeitsund Taufgesellschaften ist die Nikolauskirche in Buchenberg. zurück auf die Burgruine und eine weithin sichtbare, herrlich geschwungene Landschaft lohnt sich, bevor wir in den Wald und auf der Höhe des Sportplatzes von Buchenberg wieder aus ihm herausfahren. Jetzt muss ein Abstecher sein: Es geht rechts hinab nach Buchenberg mit Einkehrmöglichkeit ins Café Rapp, links ein Blick auf die evangelische Dorfkirche. Sie wurde 1902 erbaut, als das St. Nikolaus-Kirchle, das wir jetzt ansteuern, zu klein geworden war. Hinter der ehemaligen Schule geht es den Berg hinab. Wer die kleine Kirche von innen sehen will, sollte sich zuvor im Rathausflur am Schlüsselbrett links über der Heizung die Zugangsmöglichkeit dazu verschaffen. Das Erstellungsjahr des vermutlich aus einer frühchristlichen Zelle entstandenen Kirchleins liegt im Dunklen, sie dürfte aber bereits über 800 Jahre alt sein, erfährt man durch eine Infotafel. Dass hier bis heute Trachtengottesdienste und sehr gerne auch Hochzeiten, Taufen und Konzerte stattfinden, kann man beim Anblick des idyllisch gelegenen historischen Gemäuers gut nachvollziehen. Erholungsparadies Königsfeld Jetzt müssen wir zurück zum Sportplatz von Buchenberg, um auf dem Radweg neben der Straße, am Landgasthof Schappelstube vorbei, im genussvollen Abfahrtsmodus und bei bester Weitsicht Königsfeld zu erreichen. Der anerkannt heilklimatische Kurort ist ein staatlich ausgezeichnetes Erholungsparadies – und mit seinen abwechslungsreichen Freizeitangeboten eigentlich eine eigene Reise wert. Mit dem Fahrrad machen wir heute lediglich den Schlenker zum Albert-Schweitzer-Museum. Das Museum befindet sich im früheren Wohnhaus von Schweitzer, das der berühmte Urwalddoktor und Organist 1923 für sich, seine Frau Helene und Tochter Rhena erbauen ließ. 128 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Oben: Die wertvollen Fresken im St. Nikolaus-Kirchle stammen aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts. Unten: Überall an der Strecke sind die hinreißend schönen Bauernhäuser zu bewundern, wie hier in Buchenberg mit der Dorfkirche im Hintergrund. xyz 129

 

 

 

Der Zinzendorfplatz in Königsfeld wurde nach historischem Vorbild in den Jahren 2018 und 2019 neu gestaltet. Hinten der Betsaal der Kirchengemeine. Dem legendären Haus schließt sich der Doniswald an, einst Bauernwald des Donishofes und vor 160 Jahren der erste Kurpark Königsfelds. Rücksichtsvoll schieben wir unsere Draht esel über die schattigen Fußwege, auf denen sich gerne Eichhörnchen anlocken lassen. Es geht an zahlreichen Ruhebänken und einer Kneippanlage vorbei und wir studieren die Tafeln, auf denen die hiesige Tierund Pflanzenwelt erläutert wird. Wir verlassen Königsfeld in südlicher Richtung und radeln auf einem asphaltierten Radweg parallel zur L 181 in Richtung Mönchweiler. Der Weg führt uns zu den Tannenhöfen und daran vorbei zum Wolfsteich. Hier lohnt eine letzte Rast auf den Bänken rund um den von Enten und Vögeln reich bevölkerten Fischweiher, bevor es bergan geht bis zur Straße, die Obereschach mit Mönchweiler verbindet. Wir überqueren sie und radeln entlang des Krebsgrabens und an Mönchweiler mit seinen 3.000 Einwohnern vorbei. Wir halten uns links und müssen noch einmal kräftig in die Pedale treten oder eine E-Bike-Stufe höher schalten. Ganz oben 130 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Die Ausstellung im ehemaligen Wohnhaus der Familie Schweitzer zeigt anschaulich das Leben und Werk von Albert Schweitzer. grüßt ein letzter Blick auf die Schwäbische Alb, denn wir nähern uns Sommertshausen, einem kleinen Weiler oberhalb von Obereschach. Unsere Rundtour beginnt sich zu schließen. Pferdeliebhaber schauen beim Schützenhof vorbei, einem Bauernhof, auf dem Kutschfahrten mit Schwarzwälder Rössern, Ponyreiten und Reitwanderungen angeboten werden. Dann erreichen wir wieder das Radwegenetz von Villingen-Schwenningen. Wenige Hundert Meter trennen uns von den Villinger Wohngebieten Haslach und Wöschhalde. Wir haben viel gesehen und gelernt, haben uns ausgiebig bewegt und mit Schwarzwälder Genüssen verwöhnt. Das nächste Mal fahren wir in Richtung Süden zu den Fürstenbergern rund um Donaueschingen. Unsere Heimat ist noch voller Überraschungen. Links: Das 3.000-Einwohner zählende Mönchweiler. Rechts: Blick auf Obereschach. xyz 131

 

 

 

DEN NECKAR ENTLANG INS NECKARTÄLE von Michael Kienzler 132 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Am Rande des Schwarzwald-Baar-Kreises, auf den Gemarkungen von Dauchingen und dem schwäbischen Deißlingen, liegt das Neckar täle. Dabei handelt es sich um ein landschaftliches Kleinod, das zum Wandern, Radfahren und einfach nur Ausruhen sowie die Natur genießen förmlich einlädt. Zugleich begegnet einem hier der in VS-Schwenningen entspringende Neckar erstmals als imposanter Fluss. Das Neckartäle ist von vielen Orten aus erreichbar und eines haben die Touren gemeinsam: Sie sind gespickt mit wunderbaren Aussichtspunkten und führen durch eindrucksvolle Landschaften. Die hier beschriebene Radtour führt von Brigachtal aus zur Quelle des Neckars, schließlich ins Neckartäle und zurück. „Kennst du das Neckartäle“, fragt mein Bruder am Telefon. „Eigentlich kenne ich mich im Schwarzwald-Baar-Kreis gut aus, aber im Neckar täle war ich noch nie“, entgegne ich – und der Entschluss zu einer Erkundungstour steht fest. Obwohl wir beide gerne wandern, wollen wir die Tour mit dem Rad machen. Ich mit dem E-Bike, mein Bruder mit einem „normalen“ Rad. Wir checken die Tour mit einer bedienerfreundlichen „App“, die Planung ist heutzutage kein Problem mehr. Unsere Tour führt über 46 Kilometer, wir fahren Teilstücke auf dem Neckartal-Radweg und werden am Ende 450 Höhenmeter knacken. Aber das sollte mit dem E-Bike kein Problem sein. Start auf dem Brigachtaler Dorfplatz Startpunkt ist der Dorfplatz in Brigachtal. Die Sonne „knallt“ an diesem Augusttag förmlich vom Himmel, da kommt eine Voraberfrischung am schmucken Brunnen auf dem schönen Platz gerade recht. Brigachtal blickt auf eine über 1.200-jährige Geschichte und liegt günstig zwischen Villingen, Donaueschingen und Bad Dürrheim. Die Gemeinde besteht seit der Gemeindereform 1974 aus den ehemals selbstständigen Gemeinden Kirchdorf, Klengen und Überauchen Im Neckartäle bei Dauchingen begegnet einem der junge Neckar erstmals als Fluss. und gehört zum Naturpark Südschwarzwald. Sehenswert ist die mittelalterliche Pfarrkirche St. Martin und das sehenswerte Heimatmuseum im Ortsteil Überauchen. Beim großen Brand von Klengen 1893 wurden dort 122 Gebäude ganz oder teilweise zerstört. Der Name der Gemeinde ist an die Brigach angelehnt, die durch die Talaue fließt. Wer Strom an seinem E-Bike sparen will, kann bequem mit dem Ringzug anreisen, dieser hält sowohl in Kirchdorf als auch in Klengen. Ein letzter Check der Räder, die Akkus sind voll, der Helm sitzt und motiviert sind wir auch. Zwischen Rathaus und der St. Martinskirche geht es links raus auf die St. Gallus-Straße. Nach wenigen Metern queren wir die Essy-les-NancyStraße, es geht vorbei am Lebensmittelgeschäft, gegenüber glitzert ein Berg von Aluminium, er ragt aus einem Recyclingwerk auf. Über die Herrenstraße und den Rupertsweg kommen wir zur Hauptstraße. Wir fahren rechts runter, nach wenigen Metern biegen wir bei der auf einer kleinen Anhöhe liegenden Klengener Blasiuskirche – die 1388 erstmals urkundlich erwähnt wurde – links auf die Ringstraße ab. Bei einer Bäckerei könnte man sich nochmals verpflegen, aber wir haben alles an Bord. Vor einem Fahrradgeschäft tummeln sich Kunden und schauen sich Räder an. Noch einmal rechts um die Ecke, dann zeigt sich erstmals, wie es um unsere Kondition bestellt ist. Es geht von etwa 700 Metern steil durch ein Wohngebiet die Hochstraße auf 920 Höhenmeter hinauf. Die Straße ist ein Teilstück der Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar 133

 

 

 

Links: Beim „Käppele Kirchdorf“. Unten: Morgenstunden auf der Baar. Ich schalte an meinem E-Bike schnell auf den Sportmodus, nach 100 Metern werden die Tritte trotzdem schwerer, der Turbogang muss her. Problemlos hänge ich jetzt meinen Mitfahrer mit seinem stromlosen Mountainbike ab. Blick über die Baar Etwas großspurig warte ich oben auf 920 Höhenmetern beim „Käppele Kirchdorf“ auf seine Ankunft. Es bleibt etwas Zeit, die zwischen zwei Bäumen liegende Kapelle anzuschauen. Ursprünglich aus einem von Schweizer Fuhrleuten gestifteten Bildstock entstanden, bauten Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg die Kapelle zu einer Gedenkstätte aus. Drei Wege führen von hier weiter, wir nehmen die goldene früheren Handelsstraße von Frankfurt über die Schweiz nach Italien. Das finde ich schon sehr interessant. Aber für Nostalgie bleibt nicht viel Zeit. Der Berg ruft und kennt keine Gnade.

 

 

 

Mitte und radeln gut 500 Meter den asphaltierten Weg entlang. Auf halber Strecke muss ich anhalten, zu schön ist von hier der Blick über die Baar in Richtung Bad Dürrheim und Donaueschingen. Ein Foto lohnt sich allemal. An der nächsten Kreuzung biegen wir links auf die Siedlerstraße ab. Schon von Weitem fällt die hübsche St. Josefs kapelle ins Auge. Kurz danach biegen wir rechts ab, auf der abschüssigen Straße können wir erneut den Blick über die schöne Baar-Landschaft genießen. Etwa bei der Hälfte der Abfahrt entschließen wir uns dazu, an einer Bank eine Trinkpause einzulegen. Nanu, was für wunderfitzige Geschöpfe schauen da wenige Meter entfernt aus einem grünen Zelt? Es sind Alpakas, die sich vor der glühenden Mittagssonne in das schattige Zelt zurückgezogen haben. Irgendwie sind das lustige Tierchen. Wieder aufgesessen, schalte ich den Elektroantrieb aus und rolle gemütlich weiter, bis wir auf die Römerstraße stoßen. Links abgebogen, schaffe ich die nächsten drei Kilometer locker im Eco-Modus. Es geht vorbei an Sonnenblumen und Getreidefeldern. Immer wieder kreisen Bussarde oder Falken rütteln stehend in der Luft, um nach Nahrung Ausschau zu halten. Abstecher ins Naturschutzgebiet Schwenninger Moos Die Ruhe wird durch entfernt fahrende Autos unterbrochen. Wir gelangen an die Schaffhauser Straße, die Verbindungsstraße von der B 33 nach Marbach. Augen auf bei der Überquerung heißt es hier, aber wir müssen zum Glück nicht absteigen und können die Fahrt zügig fortsetzen. Nach wenigen Hundert Metern und einem leichten Anstieg sehen wir Zollhaus vor uns liegen. 1736 entstand zwischen Villingen und Schwenningen die erste Zollstation des Königreichs Württemberg und des Großherzogtums Baden, die dem Ort auch den Namen Zollhaus gab. Wer schon einen ersten kleinen Hunger verspürt oder Lust auf ein Stück Kuchen hat, kann hier im Café Hildebrand einkehren. Wir KURZBESCHREIBUNG Strecke: ca. 46 km Dauer: ca. 3,5 Stunden reine Fahrzeit Pausen: Zollhaus: Café, Schwenningen: Neckarquelle, Neckartäle, Brigachtal Höchster Punkt: 790 Meter über NN Tiefster Punkt: 629 Meter über NN Anforderung: mittel Fahrrad: E-Bike / Mountain-Bike Aussichtsreiche Rundtour mit vielen Sehenswürdigkeiten und einigen Möglichkeiten zum Einkehren. WEILERSBACH DAUCHINGEN VILLINGEN SCHWENNINGEN MARBACH ZOLLHAUS START/ENDE: BRIGACHTAL/KLENGEN xyz 135

 

 

 

Links: Eine buddhistische Stúpa, auch Friedenspagode genannt, findet sich in Zollhaus. erholen kann und erhalten bleibt. Im Schwenninger Moos entspringt mit dem Neckar eine Lebensader von Baden-Württemberg. Die historische Neckarquelle kann man wenige Hundert Meter weiter im Stadtpark Möglingshöhe besichtigen. An der Neckarquelle Einige Jogger drehen gerade ihre Runden, genauso wie eine Handvoll Enten auf dem Wasser. „Einfach herrlich hier“, sagt mein Bruder zurecht. Nach einigen Minuten entschließen wir uns zur Weiterfahrt. Auf einem gut gekennzeichneten Radweg passieren wir den Eishockeytempel der Wild Wings. Vor dem Gebäude absolviert eine Jugendmannschaft einige Trockenübungen. Nach etwa 300 Metern und einem leichten Schlenker nach links geht es unter der Straße durch auf das ehemalige Landesgartenschaugelände. Auf einem geraden Stück gelangen wir zur schön gestalteten Neckar quelle. Gleich daneben besteht die Möglichkeit zur Einkehr, die wir sehr gerne nutzen. Unter dem Motto „Die Natur verbindet“ fand in Villingen-Schwenningen im Jahr 2010 die Landesgartenschau statt. 1,1 Millionen Besucher sahen die Schau. Neue Grünflächen wurden im Bereich des Schwenninger Bahnhofsgeländes geschaffen; bestehende Anlagen wie die Möglingshöhe in Schwenningen sowie das Hubenloch, die Ringanlagen und das Brigachufer in Villingen wurden aufgewertet. Diese Flächen dienen auch über das Jahr 2010 hinaus der Naherholung und ebenso der Vermarktung für Hochschulund Wohnbaunutzung. Ich erinnere mich noch gut an das Brachland davor. Bei der Weiterfahrt entlang von Wohnanlagen und herrlichen Blumenbeeten begegnen uns viele Menschen, die spazieren gehen oder Sport treiben. Vor uns tauchen zwei Türme fahren jedoch rechts weg, um dann nach wenigen Metern auf den Radweg einzubiegen, der nach Schwenningen führt. Die Strecke ist schön flach, rechter Hand können wir einen Blick auf das Industriegebiet Bad Dürrheim werfen. In einiger Entfernung ist auch ein Solarpark zu erkennen, dann wird es „schlagartig finster“: Die offene Landschaft weicht einem dichten Wald. Ein Stück entlang der Ringzugstrecke gelangen wir auf einem schönen Weg zum Schwenninger Moos. Wir haben bereits etwa zehn Kilometer der Gesamtstrecke absolviert. „Lass uns das Moos kurz ansehen“, schlage ich vor. Gesagt, getan. Die Räder müssen allerdings am Zugang zum Moos gut gesichert auf uns warten. Das 1939 gegründete Naturschutzgebiet Schwenninger Moos, ein nacheiszeitliches Moor, blickt auf eine etwa 4.000-jährige Geschichte zurück. Etwa 200 Jahre wurde hier Torf abgebaut und das Moor dazu entwässert. Doch ohne Wasser kann ein Moor nicht leben, über 50 Sperren wurden in den letzten Jahrzehnten errichtet, um das Wasser wieder länger im Moor zu halten, sodass es sich 136 Den Neckar entlang ins Neckartäle

 

 

 

Die historische Neckarquelle im Stadtpark Möglingshöhe. xyz 137

 

 

 

Zwei Wahrzeichen von Schwenningen: Im Vordergrund der restaurierte Bürk-Uhrenturm und hinten der Neckar tower, das aktuell höchste Wohnhaus im Schwarzwald-Baar-Kreis. auf, beide sind sie auf ihre Art zu Wahrzeichen von Schwenningen geworden. Vorne ist es der restaurierte Uhrenturm der Firma Jäckle und weiter hinten der Neckartower. Modern trifft auf Geschichte – eine perfekte Mischung denke ich, während wir gemütlich den Uhrenturm passieren. Am Neckartal-Radweg entlang Am Ende des Weges sehen wir das ehemalige Stellwerk, dort biegen wir scharf rechts ab, radeln über die Brücke und fahren gleich wieder links. Erst dann können wir den Anblick der im März 2019 eröffneten neuen Neckarhalle genießen. Vorbei am Neckartower geht es dem Rad-Hinweisschild folgend nach einer Unterführung über den dortigen Zebrastreifen. Wer möchte, kann jetzt noch einen Abstecher auf ein Eis in die Schwenninger Innenstadt machen. Wir fahren jedoch weiter entlang der Neckaroffenlegung. Wohnhäuser prägen links das Bild, schöne Natur liegt rechts des Weges. Bänke laden zum Verweilen ein. Der Weg ist nicht allzu breit, deshalb müssen wir aufpassen, immer wieder begegnen uns Fußgänger und Radfahrer. Nach einigen Hundert Metern halten wir an einem Hinweisschild. „Na also, Neckartäle geradeaus“, sage ich zufrieden zu meinem Bruder. Sechs Kilometer werden angezeigt. Weiter auf dem schmalen Weg gelangen wir auf eine Straße, die nahe beim Industriegebiet Ost liegt. Wir folgen dem Radwegschild nach rechts „In Rammelswiesen“. Dadurch vermeiden wir die Fahrt 138 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

entlang der viel befahrenen Rottweiler Straße. Der Weg führt zum Schwenninger Flugplatz. Wir halten an der Weggabelung mit den vielen Hinweisschildern und checken erst mal, wo die Wege überall hinführen. Nach jetzt gefahrenen knapp 17 Kilometern ist es auch an der Zeit, wieder einen Schluck Wasser zu nehmen. Unter der Unterführung durch geht ein schöner breiter Weg entlang des Flugplatzes. Hinter der Landebahn ist das Internationale Luftfahrt-Museum zu sehen, davor grasen in aller Ruhe einige Schafe auf einer Wiese. „Guck mal da“, ruft mir mein Bruder zu. Ein kleines Flugzeug befindet sich im Landeanflug auf Schwenningen. Es schaukelt etwas hin und her, aber setzt dann sicher auf. Auf meinem E-Bike ist mittlerweile einer von fünf Balken erloschen. Damit kann ich leben, zumal es jetzt noch ein Stück flach bleibt. Die offene Landschaft wechselt. Links Wälder, rechts die Ringzug-Strecke. Und wir bekommen noch eine kostenlose Dusche, als wir an einem bewässerten Holzpolter vorbei müssen. Weil es so schön war, fahren wir noch mal zurück und genießen die Erfrischung an diesem warmen Tag. Einige Meter weiter baden Kinder im angrenzenden Neckar. Die Strecke führt entlang der Kreisgrenzen Schwarzwald-Baar und Rottweil. Plötzlich entdecken wir ein Hinweisschild „Neckartäle“, das links in den Wald zeigt. Eigentlich zeigt unsere Rad-App geradeaus. Oder ist das Schild ein bissel zu schräg angebracht? Aber wir sind ja auch Entdecker, also testen wir den Weg, der zunächst durch dichten Wald führt. Es wird heller und vor uns taucht die Verbandskläranlage des Abwasserzweckverbandes Oberer Neckar auf. Schopfelen heißt das Gebiet. Die Kläranlage wird seit 1978 als mechanisch-biologische Kläranlage betrieben und reinigt das Abwasser der Stadtbezirke Schwenningen, Mühlhausen und Weigheim, der Gemeinde Dauchingen sowie der Bereiche Trossingen-West und Deißlingen-Mittelhardt. Es geht über den etwas schwerer befahrbaren Wiesenweg etwas bergauf. Der Sportgang muss her. Nach einem Maisfeld biegen wir rechts ab und gelangen nach kurzer Zeit wieder Der naturnah gestaltete Neckar in Schwenningen. Der Schwenninger Flugplatz mit Luftfahrt-Museum. Den Neckar entlang ins Neckartäle 139

 

 

 

Fotos auf dieser Doppelseite: Impressionen aus dem Neckartäle, links das Tor, das den Eingang zur Talmühle freigibt. Im Neckartäle grenzt auch Baden an Württemberg, was ein Grenzstein bezeugt. Wildromantisches Neckartäle Weiter geht’s. Da der Weg hier wieder breiter wird, können wir auch mit den Rädern gut fahren. Es geht in den Wald und nach wenigen Metern rechts den Berg abwärts. Hier heißt es aufpassen, auf dem Weg liegen Steine und Äste. Unser nächster Stopp ist an einer Weggabelung. Hier kann man nach links, am Sportplatz vorbei, nach Dauchingen. Aber wir wollen natürlich in das Neckartäle. Nur noch wenige Hundert Meter trennen uns von unserem Ziel. Aber noch halten wir die Konzentration hoch, denn es geht einen abschüssigen Weg hinunter, bevor wir in der Talaue und am Festplatz ankommen. Rechts ist eine große ebene Fläche zu erkennen, wir entdecken in kurzer Entfernung hinter Baumreihen eine offene Landschaft, das Neckartäle. Geschafft! Der Weg führt in Richtung einer kleinen Brücke. Es ist ein erhebender Anblick, wenn man aus dem dunklen Wald in dieses wild-romantische Gebiet fährt. Ruhig fließt hier der Neckar, Insekten schwirren um die Blumen entlang des Flusslaufes. Herrlich! Zeit für Rast und Genuss. Der etwa 367 km lange Neckar wird als viertgrößter Nebenfluss des Rheins im Dauchinger Neckartäle badisch. Sieben Kilometer des 444 km langen Neckarweges, der 618 Höhenmeter vom württembergischen Neckarursprung im Schwenninger Moos (705 m/NN) bis zur Mündung bei Mannheim (ca. 87 m/NN) abgibt, verlaufen auf Dauchinger Gemarkung. Das besonders im oberen Teil sehr ursprünglich wirkende Neckartäle bietet dem Wanderer ursprüngliche, wild-romantische Natur pur. Der Neckar fließt hier am Fuß von steilen Felswänden entlang. Wir genießen ein zünftiges Vesper. Ich schlage vor, dass wir noch ein Stück durch das Neckartäle in Richtung Deißlingen fahren und uns auf dem Weg dorthin den Steinbruch anschauen. Über eine Brücke führt ein Pfad weiter, der ist aber für Räder nicht geeignet. Deshalb fahren wir ein paar Meter zurück Richtung Wald auf einen besseren Weg, der uns geradewegs an die Deißlinger Straße führt. Wir überqueren die Verbindungsstraße von Dauchingen nach Deißlingen und fahren nach links, nur wenige Meter, bevor wir ein Hinweisschild „Talmühle“ sehen, das nach rechts zeigt. Gerne folgen wir der Aufforderung. Es dauert nur Sekunden, bis sich auf dem leicht abschüssigen und geteerten Weg der Blick in ein schönes Tal bietet. Am Wanderparkplatz mit dem Wander-Hinweisschild halten wir. Es geht weiter leicht bergab, der Schatten tut uns gut an dem Tag. Dann gelangen wir an ein großes Tor, das zur Talmühle gehört. Aufgrund eines Disputs über den Wegeverlauf des Neckarwanderweges zwischen den Gemeinden Dauchingen und Deißlingen ist hier leider Endstation für Wanderer und Radfahrer. Wir stärken uns noch mal mit Flüssigkeit und machen einige Fotos. Dann entscheiden wir uns, unsere Räder zu schieben. Bei der dortigen schmucken Hütte geht es entlang einer Pferdekoppel steil bergauf, fahren ist schier unmöglich. Aber es sind nur etwa 200 Meter. Oben angelangt wird die Anstrengung mit einem schönen Blick über das Tal belohnt. Wir setzen uns auf die dortige Bank und atmen durch. Etwa 22 Kilometer haben wir jetzt hinter uns. 140 Den Neckar entlang ins Neckartäle

 

 

 

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Der Steinbruch im Neckartäle bei Deißlingen. und biegen rechts ab. „Im Neckartäle“ steht auf einem Holzschild in roter Schrift. Nach einer Schranke führt der Weg leicht abschüssig entlang des Neckars, der sich rechts tief im Tal schlängelt. Es dauert auch nicht lange, bis linker Hand der Steinbruch auftaucht. Der kurze Abstecher auf Deißlinger Gemarkung hat sich gelohnt! Schnell noch ein Foto, dann kehren wir wieder um und folgen nach einer kleinen Brücke dem Hinweisschild in Richtung Niedereschach und Schwenningen. Nach einem Anstieg, bei dem ich wieder den Sportmodus an meinem E-Bike einschalte, geht es rechts über einen relativ ebenen Weg entspannt durch eine abwechslungsreiche Waldpassage mit lichten Stellen. Jetzt teilt sich der Weg noch einmal, dabei entscheiden wir uns für die linke Variante. Nach kurzer Zeit ist der Wald passé und wir radeln in Richtung Nieder eschacher Straße, danach halten wir uns rechts. Nach dem Haslenhof überqueren wir die Straße nach links und setzen unsere Tour über einen schönen ebenen Waldweg fort. Plötzlich hält mein Mitfahrer an und deutet in die Wiese. Dort äsen zwei Rehe am helllichten Tag. Sie haben uns schon bemerkt und schauen neugierig in unsere Richtung. Nach einigen Sekunden wird es den beiden Tieren zu bunt und sie zischen blitzschnell ab ins Gebüsch. Abstecher zu den Bertholdshöfen Der Weg teilt sich nach einigen Hundert Metern, wir halten uns rechts und genießen die kühle Waldluft. Auf einer Anhöhe zeigt uns der Wegweiser mehrere Möglichkeiten an. Niedereschach oder die Ruine Wildenstein? Die wären in sechs Kilometern Entfernung. Ich schlage aber vor, dass wir über Weilersbach Richtung Brigachtal fahren. Zumal ich den leisen Verdacht habe, dass mein Akku einen größeren Umweg nicht mitmacht. Ein weiterer Balken ist aufgebraucht. Bei der Weiterfahrt empfängt uns eine herrlich offene Landschaft mit einzelnen Laubbäumen oder Maisfeldern. Nach knapp über zwei Kilometern kommen wir in Weilersbach an und biegen auf den Reschenhardweg ein für etwa 142 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

 

Windrad bei Weilersbach. Unten rechts: Gleich mehrfach führt die Tour durch angenehm schattige Wälder. 200 Meter. Dann geht es scharf links auf ein kurzes Stück der Grundstraße. Einem einzeln stehenden Laubbaum kann ich nicht widerstehen und halte für ein Foto. Wir entscheiden uns rechts weiterzufahren, linker Hand sehen wir noch mal Dauchingen, bevor wir eine zünftige Abfahrt genießen können. Nach einem kleinen Anstieg folgen wir nach einem Bauernhof dem asphaltierten Sträßchen. In der Ferne sieht man schon das markante Windrad, das uns zeigt, dass wir noch in der Nähe von Weilersbach sind und uns dem Industriegebiet Herdenen nähern. Wir überqueren die Weilenbühlstraße Richtung Windrad. Auf einem Bänkchen gibt es nochmals einen Schluck Wasser, bevor es am Industriegebiet Herdenen vorbei auf einem asphaltierten Radweg abwärts geht. Bei einer Firma machen Mitarbeiter Pause und winken uns freundlich zu. Nach kurzer Zeit erreichen wir den Schwenninger Nordring. Mein Mitfahrer hat die Idee, das Sonnenblumenfeld des Gartenbaubetriebes Wildi anzuschauen. Wir machen uns auf den Weg, zumal es nicht weit von uns entfernt liegt. Über den Den Neckar entlang ins Neckartäle 143

 

 

 

Das viel besuchte Sonnenblumenfeld des Gartenbaubetriebes Wildi kurz vor VS-Villingen, hinten das Schwarzwald-Baar Klinikum. Radweg vorbei am Schwarzwald-Baar Klinikum und dem Kreisverkehr gelangen wir erneut auf einen Radweg, der uns zu den Bertholdshöfen führt. Der Abstecher lohnt sich, Tausende Sonnenblumen so weit das Auge reicht. Es ist viel los an diesem Nachmittag. Jeder will ein Foto mit den knallgelben Blumen machen oder einfach nur die Liegegelegenheiten nutzen und entspannen. Weiter geht es über die Bertholdshöfe Richtung Villingen. Am Zollhäusleweg passieren wir die Überführung der B 33 und sehen rechter Hand schon das schöne Villingen und davor liegend die markante Gaskugel. Alle zehn Jahre wird der kugelförmige Erdgasspeicher der Stadtwerke Villingen-Schwenningen für technische Überprüfungen geleert. Mehrere Musiker nutzten im Juni 2003 die Gelegenheit, um im Inneren der 25 Meter hohen Stahlkugel mit Geräuschen, Musik und Sprache zu improvisieren. Auch hier mache ich natürlich noch mal ein Foto, bevor wir links hoch und gleich rechts in Richtung Straßburger Straße radeln. Nach einer holprigen Abfahrt überqueren wir diese Straße, dann geht es nach wenigen Metern rechts runter auf einen Radweg direkt nach Marbach. In Marbach ist nochmal Zeit für ein Bild vom schönen Rathaus. Der Ort mit seinen etwa 2.000 Einwohnern ist seit der Gemeindereform 1974 ein Stadtteil von Villingen-Schwenningen und wurde erstmals 144

 

 

 

Links: Hölzerner Wegweiser bei Marbach. Rechts der frühere Marbacher Bahnhof. Unten: Bei der Gaskugel kurz vor VS-Villingen. um 1200 erwähnt. Marbach liegt südlich von Villingen am Ostufer der Brigach und zu beiden Seiten des Talbaches. Heimkehr nach 46 Kilometern Der Blick auf meine Akkuanzeige verheißt nichts Gutes. Über die Kirchdorfer Straße und Steinwiesenstraße gelangen wir auf dem Radweg nach links in Richtung Brigachtal. Es geht schön flach weiter, zwei Anstiege am Ende der Bahnhofstraße und der Mühlenstraße ziehen den letzten Strom aus meinem Akku, und so muss ich die letzten Meter ohne elektrische Unterstützung zurücklegen. Aber das schaffe ich auch noch… Nach 3,5 Stunden und 46 Kilometern erreichen wir wieder den Ausgangspunkt. In Brigachtal gibt es mehrere Einkehrmöglichkeiten. Wir entscheiden uns für das Café im Dorf. Bei einem zünftigen Essen und kalten Getränken lassen wir unsere Eindrücke noch einmal Revue passieren. Unser Fazit: Das Neckartäle ist ein wunderschöner Ort im Schwarzwald-Baar-Kreis, den man unbedingt gesehen haben sollte. Ein richtiges Kleinod, das mit dem E-Bike gut zu erreichen ist. Und das Beispiel meines Bruders zeigt, dass das auch ganz ohne elektrischen Antrieb möglich ist. Vorausgesetzt, die eigene Fitness passt. 145

 

 

 

Der neu angelegte Kurpark — lebendige, vielgestaltige Mitte des Skidorfs Schonach 146 4. Kapitel – Städte und Gemeinden

 

 

 

Schonachs neuer Kurpark 147 147

 

 

 

von Claudius Eberl Das Gewann Langmatte war früher Grünland, das landwirtschaftlich genutzt wurde. Anfang der 1970er-Jahre fasste die Gemeinde den Entschluss, den bereits länger bestehenden Kurpark bei der Schule größer zu dimensionieren und in die Langmatte zu verlegen. Im selben Zug wurde das Haus des Gastes erbaut. Mit den Jahren nagte allerdings mehr und mehr der Zahn der Zeit an der Anlage: 2012 beschloss die Gemeinde eine Generalsanierung. Die Maßnahme sollte ebenso die Fortführung der Umgestaltung der Ortsmitte werden. 2010 hatte die Gemeinde ihr neues Rathaus eingeweiht, das Areal in der Schulstraße wurde samt Schulhof saniert und neugestaltet. Bürgermeister Frey bat die Hochschule für Wirtschaft und Umwelt aus Nürtingen darum, dass deren Studenten diverse Vorschläge zur Umgestaltung ausarbeiten sollen. Diese präsentierten dem Gemeinderat insgesamt zwölf Konzepte. Die Gesamtplanungen übertrugen die Verantwortlichen dem Schonacher Architekten-Duo Thomas Spath und Christian Kuner, ihnen zur Seite stand das Planungsbüro Planwerk Gehle aus Lahr. Die Bevölkerung war von den Plänen begeistert. Im Oktober 2016 startete der Umbau der Kuranlage. Knapp drei Jahre Bauzeit Am 13. Juli 2019 konnte der neue Kurpark nach knapp drei Jahren Bauzeit in seiner Ganzheit eröffnet werden. Rund 5.433 Quadratmeter Pflastersteine wurden verlegt, 25.560 Kubikmeter Erde bewegt. Aus dem Kurpark ist ein Treffpunkt für Jung und Alt, ein Ort für Spiel und Spaß geworden. Es gibt mehrere Zugänge, doch der Haupteingang führt direkt am Minigolfplatz vorbei. Diese Anlage stand bei der Neuplanung nie infrage, denn sie wird auch heute noch rege genutzt. Hinter dem Minigolfplatz gelegen findet man das Kneippbad, vor allem an heißen Sommertagen ein Geheimtipp! Hier fließt herrlich kaltes Wasser direkt aus dem Turntalbach ein und verschafft eine willkommene Erfrischung. Von hier aus hat man auch einen Highlight ist der Turm mit zwei Rutschen. Dieser ist in Form eines Strohhutes ausgeführt, wie er zur Schonacher Tracht gehört. Er kann bis in die Spitze hinein beklettert werden. guten Blick auf die Fassade der ehemaligen Strohhutfabrik Sauter. Einst wurde die ganze Welt von hier aus mit Strohhüten und -schuhen beliefert. Anfänglich war geplant, den Industriebau abzureißen und einen direkten Durchgang zum Kurpark vom Rathaus her zu schaffen. Die wertvollen und einmaligen Gerätschaften der Strohhutfabrik sollten in einem Neubau präsentiert werden. Der Durchgang sollte dann mitten durch den Neubau führen. Allerdings machte anfänglich die Denkmalpflege einen Strich durch die Rechnung, später auch die immensen Kosten. Neuer Kinderspielplatz mit 660 Quadratmeter Spielfläche und unterschiedlichen Highlights Gegenüber der Minigolf-Anlage entstand ein neuer Kinderspielplatz, dessen Rand große und schön geschnitzte Tannenzapfen schmücken. Wasser, der Schwarzwald und tolle Spielgeräte sind hier ein großes Thema. Rund 660 Quadratmeter Spielfläche stehen den Kindern zur Verfügung. Highlight ist der Turm mit zwei Rutschen. Dieser ist in Form eines Strohhutes ausgeführt, wie er zur Schonacher Tracht gehört. Er kann bis in die Spitze hinein beklettert werden. Vom nebenan liegenden Turntalbach fließt Wasser über einen Zulauf und Holzrinnen auf den Spielplatz. Es treibt dort Wasserräder an oder kann gestaut werden. Und am Kurparkweiher gibt es ein Holzfloß, das mithilfe eines Seils über den See gezogen werden kann. Insgesamt ein klasse Spielplatz für Wasserratten und Sandflöhe. Allerdings: Kinder und Gewässer, das birgt immer ein Gefahrenpotenzial. Das wollte man seitens der Planer möglichst minimieren. Aus diesem Grund hatte man die Zone, in der das Holzfloß fährt, zum restlichen See weitläufig 148 Städte und Gemeinden

 

 

 

Barfuss durchs Wasser oder mit dem Floß ans andere Ufer gleiten – der neue Schonacher Kurpark bietet Kindern eine Vielzahl an Spielmöglichkeiten und wird auch deshalb besonders stark frequentiert. Schonachs neuer Kurpark 149

 

 

 

mit Steinquadern abgegrenzt. Nun fährt das Floß durch eine 40 Zentimeter tiefe Flachwasserzone, wer hier ins Wasser fällt, dem droht keine große Gefahr. Die Flachwasserzone ist übrigens mit Kiesel-Steinen befüllt, sodass sie auch barfusstauglich ist. Ein Angebot, das nicht nur von Kindern gerne angenommen wird. Direkt anschließend an den Kinderspielplatz ist eine große Seeterrasse aus Holz und Metall entstanden. Lange Sitzbänke wurden zum Kinderspielplatz hin ausgerichtet, hier können Eltern gemütlich sitzend ihre Kinder im Auge behalten. Auch zum See hin gibt es Sitzmöglichkeiten. Die ganze Anlage wurde mit Rankgittern versehen, in einigen Jahren werden hier Pflanzen für ein schattiges Plätzchen sorgen. Weiterführend am See entlang hat man große Sitzund Liegebänke aus Holz installiert, die zum einen tolle Entspannungsmöglichkeiten bieten, vor allem aber sollen sie auch eine Sperre bilden. Denn auf dem großen gepflasterten Areal unterhalb des Haus des Gastes spielen viele Kinder. Hier stehen Laufräder zur Verfügung. Bistro im Kurpark wird zu beliebtem Treffpunkt für Jung und Alt Es bot sich an, den Park auch mit einer Gastronomie zu versehen. Im Anfangsstadium der Planungen sah man dafür einen kleinen Kiosk vor, Der angedachte Kiosk hat sich in Birgit‘s Bistro, eine vollwertige gastronomische Einrichtung, verwandelt. der seinen Platz im ehemaligen Kassenhaus der Minigolfanlage finden sollte. Doch irgendwie passte das nicht zu den großen Plänen, es musste etwas anderes her. So wurde aus dem Kiosk eine vollwertige gastronomische Einrichtung. Birgit‘s Bistro, benannt nach der Pächterin Birgit Duffner, wurde in Absprache mit der Pächterin als tageslichtdurchfluteter Raum gestaltet. An zwei Seiten komplett mit Glas verkleidet, bietet es Blicke in den Park und auf den Kurparksee. Hell und freundlich ist die Innenausstattung ausgeführt. Ein weiteres Highlight stellt die an der Rückwand angebrachte Silhouette des Westweges von Pforzheim nach Basel dar. Im Innenraum bietet die Gastronomie 45 Sitzplätze, im Außenbereich 24. Die Wirtin und ihr Team servieren hier den Gästen kleine Speisen, Cocktails, Eis und vor allem hausgemachten Kuchen. Schon heute ist das Bistro zu einem beliebten Treffpunkt für Jung und Alt geworden und wird auch gerne für festliche Anlässe genutzt. Die Sitzbänke im neuen Kurpark werden links und rechts jeweils durch Granitblöcke gestützt. Gestaltet wurden sie von Carina und Lukas Spath, sprich der Schonacher Firma Holzdesign Spath. Eine gelungene Anknüpfung an die Heimat Schwarzwald stellen ebenso die großen hölzernen Tannenzapfen dar. 150 Städte und Gemeinden

 

 

 

Überhaupt, die Ecke unterhalb des Kurparks ist die belebteste Zone. Natürlich beeinflusst vom Bistro und dem Kinderspielplatz, aber ebenso vom Beachvolleyballfeld. Dieses hat sich mittlerweile zum Treffpunkt der jüngeren Generation entwickelt. Es gibt kaum einen Abend bei schönem Wetter, an dem nicht gepritscht, gebloggt und geschmettert wird. Lichtbögen sorgen für schönes Ambiente Die beiden Gewässer des Parks kann man auf einer Art Steg überqueren. Der Übergang zwischen den beiden Gewässern ist mit Holzbohlen belegt, der restliche Weg ist gepflastert. Das ist aber nicht die Besonderheit, die liegt vielmehr zum einen in der langen Sitzbank, die sich über den gesamten Steg zieht und in den Lichtbögen. Sechs dieser Lichtbögen spannen sich über den Steg und sorgen nachts für ein zauberhaftes Ambiente. Zwischen den Lichtbögen hat man Rank-Gerüste angebracht, die bepflanzt wurden und so später einmal eine Art Laubengang bilden sollen. Unterhalb des Dammes hält sich sehr gerne der Fischbesatz des Mühlenweihers auf. Der Angelverein Schwarzwaldquelle e. V. hat beide Gewässer mit Bachund Regenbogenforellen besetzt. Viel genutzt ist das neue Beachvolleyballfeld, ein Treffpunkt der jungen Schonacher vor allem. Bankdesign mit heimischem Granit Wer verweilen will, dem bieten sich zahlreiche Sitzgelegenheiten. So sitzt man auf Bänken, die links und rechts mit heimischen Granitblöcken eingefasst sind. Gestaltet wurden diese von den heimischen Handwerksdesignern Carina und Lukas Spath. Einer der Ausgänge wird flankiert von zwei Blumenwiesen. Im Rahmen des Projektes Blühender Naturpark des Naturparks Südschwarzwald stellte die Gemeinde rund 1.500 Quadratmeter Fläche zu Verfügung, um hier mit überwiegend mehrjährigen Kräuterarten und heimischen Gräsern eine vielfältige, dauerhafte Blumenwiese entstehen zu lassen. Und die Wiesen sind nicht mehr wie einst heiliger Rasen, sondern sollen als Erholungsfläche mit genutzt werden. Attraktiver Ort für Bürger und Gäste Die Umgestaltung des Kurparkes war für die Gemeinde ein Kraftakt, sowohl finanziell wie auch planerisch. Vier Jahre vergingen von den ersten Planungen bis zur Umsetzung. Die ersten Planungen des Parks hatten Investitionen in Höhe von rund 2,7 Millionen Euro vorgesehen. Nach diSchonachs neuer Kurpark 151

 

 

 

Gemütliche Plätze laden überall zum Verweilen ein, hier am Ufer des kleinen Sees. versen Kürzungen und Veränderungen kam man dann auf Kosten von rund 1,9 Millionen Euro. Diese stiegen aber nochmals an, vor allem, weil man das Bistro als vollwertige Gastronomie ausführen wollte und nicht nur als Kiosk. Zudem schlug der nachträgliche Einbau einer behindertengerechten Toilette mit rund 80.000 Euro zu Buche. So rechnete man den neuen Park am Ende mit 2,5 Millionen Euro ab. Immerhin 920.000 Euro bekam die Schwarzwaldgemeinde aus Fördertöpfen, der Rest wurde aus dem Gemeindehaushalt und mit Krediten finanziert. Aber es hat sich gelohnt. Der Kurpark ist wieder das, was er einst war: Ein zentraler Ort in der Mitte der Gemeinde, Treffpunkt für Jung und Alt, für Einheimische und Gäste. Auf 35.000 Quadratmetern Fläche, davon entfallen rund 4.000 Quadratmeter auf den Kurparkweiher rund 2.200 Quadratmeter auf den Mühlenweiher, bietet der Park viel Platz für Erholung, Sport, Spiel und Zusammentreffen. Bei schönem Wetter tummeln sich so viele Besucher im Park wie nie zuvor. Und dennoch, überlaufen ist er nicht, weil er eben so weitläufig ist und somit auch etliche stille Winkel bietet. Im Winter gebahnte Wege und eine Loipe Auch im Winter bietet der Park attraktive Seiten. Eine kleine Rundloipe – sofern es die Auf 35.000 Quadratmetern Fläche, davon entfallen rund 4.000 Quadratmeter auf den Kurparkweiher rund 2.200 Quadratmeter auf den Mühlenweiher, bietet der Park viel Platz für Erholung, Sport, Spiel und Zusammentreffen. Schneeverhältnisse zulassen – lädt vor allem Anfänger zu ersten Versuchen auf Langlaufskiern ein. Die Lichtbögen auf dem Steg zwischen den beiden Seen bieten abends einen bezaubernden Anblick und Wege im Park werden bei Schneefall geräumt, sodass man hier auch im Winter attraktive Spazierwege antreffen kann. Überhaupt der Steg zwischen den beiden Seen: Er dürfte gleich neben der wohl längsten Sitzbank im weiten Umfeld auch mit dem wohl weithin einzigartigen Beleuchtungskonzept ein Novum darstellen. Mittlerweile hat sich die Attraktivität des Kurparks herumgesprochen. So finden auch Besucher aus den umliegenden Gemeinden den Weg nach Schonach, um dort einen schönen Tag zu verbringen. Und natürlich feiern die Schonacher nach wie vor gerne zusammen im Kurpark: 152 Städte und Gemeinden

 

 

 

Auch abends ist der neue Schonacher Kurpark einen Spaziergang wert. Der hölzerne Steg ist von einem Lichtbogen überspannt (unten). Open-Air-Kino und Konzerte stehen auf dem Programm, es gab Modenschauen und eigentlich waren für den Sommer 2020 an mehreren Tagen Feierabend-Hocks geplant. Hier allerdings machte die Corona-Krise einen Strich durch die Rechnung. Bürgermeister Jörg Frey zeigt sich sehr glücklich über die Entscheidung, diese immense Investition anzugehen. „Wir haben in Schonach zusammen etwas Tolles geschaffen, etwas, das allen Bürgern und natürlich unseren Gästen zugutekommt.“ Dass die große Fläche im Herzen der Gemeinde allerdings überhaupt als Park genutzt werden kann, sieht der Bürgermeister als riesiges Glück. Es sei den Vorfahren gar nicht hoch genug anzurechnen, dass man dieses Filetstück, das sich auch wunderbar als Baugebiet hätte verwenden lassen, freigehalten hat. Schonachs neuer Kurpark 153

 

 

 

154 154 5. Kapitel – Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Das Haus Eschle in Schönwald Über 200 Jahre alter Kaufladen, Kulturstätte, Begegnungsort und Wohnraum von Marc Eich

 

 

 

156 Constantin Eschle mit seiner zweiten, jungen Frau Elisabeth und den vier Töchtern. Er übernahm das Haus 1873, hatte in der Region den Handel mit Strohgeflecht zu höchster Blüte gebracht und den Kaufladen aufgebaut. Nach seinem Tod 1898 führte Tochter Magdalena das Ladengeschäft fort. Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Seit über 200 Jahren ist das Haus Eschle fester Bestandteil von Schönwald. Von hier aus wurden zunächst Uhren, dann Strohflechtereien in alle Welt versandt und teils auch gefertigt. Nach dem Niedergang der Strohflechterei öffnete in den 1890er-Jahren im Haus Eschle zudem ein Kaufladen seine Pforten. Ab sofort kamen die Schönwälder im mitten im Ortskern liegenden „Eschle“ zum Einkaufen zusammen: Im Kaufladen von Constantin Eschle gab es alles, was zum täglichen Leben erforderlich war – bis hin zu Kurzund Aussteuerwaren. Und als das Automobil den Schwarzwald eroberte, konnte man beim „Eschle“ auch tanken. Heute ist das traditionsreiche Gebäude mit dem Charme längst vergangener Zeiten dank Besitzerin Andrea Pfrengle ein Begegnungsort, Wohnraum und gleichzeitig Kulturstätte. Eine Kombination, die es in dieser Form im Schwarzwald-Baar-Kreis kein zweites Mal geben dürfte. Geradezu unscheinbar reiht sich das Haus im Schatten der St. Antonius Pfarrkirche in die Hauptstraße ein. Während sich die Schönwälder um die Bedeutung „ihres Eschles“ bewusst sind, dürften nur die wenigsten Auswärtigen erahnen, was sich in den alten Gemäuern verbirgt. Denn wer eintritt, begibt sich auf eine Zeitreise, die im Jahr 1817 beginnt: Uhrenhändler Elias Eschle aus Schwarzenbach erwirbt einen Bauplatz neben dem Adlerwirtshaus und erstellt ein großes Wohnhaus mit Laden. Verheiratet mit einer Adlerwirtstochter, betreibt er bedeutende Handelsgeschäfte, heißt es in der Schönwälder Chronik. Tochter Ottilie erbt 1841 das Haus. Kinderlos verheiratet mit Leopold Martin, Uhrenmacher und -händler aus Furtwangen, verkauft sie das Anwesen dann 1873 an Constantin Eschle, den „Geflechtkunster“ oder „Straßwaldkunster“. Zusammen mit Lorenz Im einstigen Warenlager von Eschles Kaufhaus in Schönwald sind unzählige Relikte zu finden – bis hin zur Schönwälder Tracht. Unten das Firmenschild von Enkelsohn Rudolf Duffner, der das Lebenswerk des Großvaters fortführte. Duffner hatte er in der Region Schönwald/Furtwangen den Handel mit Strohgeflecht zu höchster Blüte gebracht. Um die Strohhalme nicht wie Das Haus Eschle in Schönwald 157

 

 

 

bisher in Furtwangen färben lassen zu müssen, errichtet er 1884 neben seinem Haus zudem eine kleine Färberei. Heute befindet sich darin die Bildhauerwerkstatt von Andrea Pfrengle, wovon noch die Rede sein wird. Rudolf Duffner: „Bei uns gibt es alles, bis zum kleinschte Atom…“ Die Einfuhr ausländischer Fabrikate, die im Preis niederer waren, brachte die Strohflechterei im Schwarzwald ins Stocken. Doch das Haus Eschle bleibt über die Strohflechterei hinaus eine Institution in Schönwald. Das liegt an Tochter Magdalena, die nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1898 das Haus und das Ladengeschäft übernimmt. Spätestens jetzt ist das Haus Eschle nicht mehr aus dem Ort wegzudenken. Von Magdalena Eschle ist übermittelt, dass sie als „unendlich gütige Frau und Wohltäterin des ganzen Dorfes“ wirkte. Gemeinsam mit Ehemann Adelbert Duffner führte sie das Geschäft, das 1936 auf Sohn Rudolf überging. Als Firma „Constantin Eschles Nachfolger“ ist der Laden, als führendes Warengeschäft am Ort, einer der Treffpunkte vor allem beim täglichen Einkauf. Und in jener Zeit erhält Eschles Kaufladen auch seinen Spitznamen „Atomladen“, der den Schönwäldern bis heute ein Begriff ist. So soll Rudolf Duffner den damals zahlreichen Kurgästen, die von der Warenvielfalt des Ladens überrascht waren, gesagt haben: „Eins müsse si sich merke; bei uns gibt‘s alles – bis zum kleinschte Atom.“ Der gewitzte Ausspruch verbreitet sich in Windeseile und bleibt in den Köpfen der Schönwälder hängen. Unterstützt wird Rudolf Duffner all die Jahre von seiner Schwester Johanna, die den Laden nach seinem Tod weiterführt. Hiltrud und Ewald Pfrengle finden im Eschle in Schönwald eine neue Heimat Es ist aber ebenso die Zeit, zu der die Pfrengles Teil dieses geschichtsträchtigen Hauses werden. Denn Ewald Pfrengle und seine Schwester Hiltrud wurden im Krieg im Haus Eschle aufgenommen und wuchsen hier auf. Und genau Die Schaufenster des Kaufhauses waren von eher bescheidener Größe: Blick in ein Weihnachtsfenster der 1930er-Jahre mit prächtiger Nikolausfigur. Die Geschwister Duffner mit Hiltrud Pfrengle (links vorne), Angestellten und Besuch vor der Ladentür. 158 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Die Familie Duffner. Von Wohltäterin Magdalena Eschle, Tochter von Constantin Eschle, und ihrem Ehemann Adelbert Duffner ging das Geschäft 1936 auf Sohn Rudolf (rechts) über. Tochter Johanna (links) blieb zeitlebens im Haus und unterstützte ihren Bruder – übernahm nach dessen Tod den Laden. Sohn Franz wurde 1930 zum Priester geweiht (Mitte). Seinen Lebensabend verbrachte er im Elternhaus in Schönwald. Schönwald im Winter. Vorne rechts das Kaufhaus der Familie Eschle. Dort konnte ab den 1930er/1940er-Jahren auch getankt werden, wie das Foto rechts zeigt. Das Haus Eschle in Schönwald 159

 

 

 

Eschle’s Kaufladen in Schönwald ist ein Ort, an dem das 19. Jahrhundert lebendig wird. Andrea Pfrengle hat das 200 Jahre alte Anwesen zusammen mit Lebensgefährte Christoph Wegner und Vater Ewald Pfrengle liebevoll saniert. an dieser Stelle springt der Zeitstrahl in die Gegenwart und die noch erlebbare Zeitreise im Eschle beginnt. Denn der heute 87-jährige Ewald Pfrengle, der in Schönwald und der Umgebung hinlänglich auch als singender Uhrenträger bekannt ist, erinnert sich gut an damals, als er in jungen Jahren im Laden geholfen hatte. „Das hier ist für mich Heimat – obwohl ich aus Neuenburg komme“, erzählt er mit einem Glänzen in den Augen. Und er kennt den Laden natürlich wie seine Westentasche. Immer mit einem sympathischen Lächeln auf den Lippen erklärt er gemeinsam mit seiner Tochter Andrea die vielen Details, die aus der Zeit des ursprünglichen Kaufladens noch erhalten geblieben sind. „Hier“, sagt Ewald Pfrengle und deutet auf einen Stiegenkasten, „da ging früher eine Treppe hoch“. Immer, wenn die Kasse im Geschäft schon einiges an Bargeld aufwies, sei Duffner hoch in die Wohnung gegangen, um die Scheine zu verstauen. Überhaupt erinnert alles im Erdgeschoss an die Ursprünge des Ladens. „Die Ladeneinrichtung hätte ich schon oft verkaufen können“, erzählt er. Doch weggegeben hat die Familie kaum etwas. Im Gegenteil. Mit viel Liebe hat man es geschafft, die Einrichtung für die Nachwelt zu erhalten. Wie in einem Museum lebt die Vergangenheit hier wieder auf. Über die ausgetretenen Dielen geht es zu den Schränken, in denen früher die Produkte verstaut wurden. An den Schubladen kleben teilweise sogar noch die alten Preise. Über der Tür zum Nebenraum hängt seit Jahrzehnten unberührt das Schild „Comptoir“ – ein zur damaligen Zeit verwendeter Begriff für Geschäftsraum oder Büro. „Früher sind die Leute hier nach der Kirche zum Einkaufen gekommen – und haben dann noch hinten das Plumpsklo benutzt“, erinnert sich Ewald Pfrengle. Anekdoten aus längst vergangenen 160 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Andrea Pfrengle mit ihrem Lebensgefährten Christoph Wegner und Vater Ewald Pfrengle. Tagen – die hier im Eschle aber plötzlich wieder ganz lebendig werden. Dass dies heute noch so ist, ist insbesondere einer Entscheidung des 87-Jährigen zu verdanken: Nach dem Tod von Rudolf Duffner übernahm Ewald Pfrengle das Haus, während seine Frau Erna mithilfe seiner Schwester Hiltrud bis 1995 den Laden führte. Ewald Pfrengle ließ derweil den Familienschatz unberührt und bewahrte das Vermächtnis der Vorfahren. Das Credo dabei: Die Geschichte soll erhalten bleiben, nichts an diesem Haus wird kaputt renoviert. Da war er sich mit seiner Tochter Andrea einig. Im Eschle Keller kann in stilvoll-uriger Atmosphäre gefeiert werden Diese Prämisse wird besonders deutlich, wenn es in den unteren Teil des Hauses geht. Unter dem freigelegten Gebälk führt der Gang zunächst vorbei an alten Postkarten, die an die damaligen Kurgäste verkauft worden waren und heute einen Ausflug in die Geschichte Schönwalds ermöglichen. Hier hängt auch noch das alte Schild des Kaufladens. Und dann geht es in den Eschle Keller. Der Blick bleibt zunächst an der doppelten hölzernen Flügeltüre hängen. Über ihr thronen zwei Wappen: Neuenburg am Rhein und Schönwald im Schwarzwald – das eine für den Geburtsort und das andere für den zur Heimat gewordenen einstigen Zufluchtsort von Ewald Pfrengle. Er war es, der den Gewölbekeller einer neuen Nutzung zuführte – und gleichzeitig den Charme der alten Gemäuer herausarbeitete. Denn, wo sich früher der Lagerraum für den Kaufladen befand, werden heute im stilvollen Ambiente des Gewölbekellers Feste gefeiert. „Der Kuhstall ist jetzt Lagerraum, der Schweinestall die Küche, erläutert Tochter Andrea Pfrengle. Nicht ohne Hürden oder gar Verletzungen ging die Renovierung des Lagerraums vonstatDas Haus Eschle in Schönwald 161

 

 

 

ten, in dem seinerzeit aufgrund von regelmäßigem Wassereinbruch „mit halben Fässern Schiffchen gefahren werden konnte“. Mit dem Vorschlaghammer habe er einen Durchbruch von der Theke zur Küche schaffen wollen und sich dabei den Fuß gebrochen, wie Ewald Pfrengle erzählt. Der Naturboden musste Fliesen weichen, außerdem galt es, das Wasser draußen zu halten. Nicht ohne Stolz sagt der 87-Jährige: „Damals mussten wir in jedem Frühjahr den Keller auspumpen lassen, jetzt kommt hier kein Tropfen mehr rein.“ So kann seit 1985 im Eschle Keller gefeiert werden. Während die Familie jahrelang die Bewirtung der Gäste im Keller übernahm, beschränkt sie sich nun auf die reine Vermietung der schmucken Räume. Und auch im Kaufladen änderten sich nach und nach die Zeiten. Nachdem Erna Pfrengle, die 2015 verstarb, den Laden aufgegeben hatte, mietete sich 1995 Manfred Hiepler in die Räume ein und betrieb dort bis 2017 den „Baumarkt“ des Dorfes mit ca. 10.000 Artikeln. Zu dieser Zeit hatte bereits Andrea Pfrengle das Haus übernommen. Sehr zur Freude ihres Vaters: „Ich bin froh, dass es meine Tochter weiter macht.“ Mit „Weitermachen“ meint er ebenDer singende Uhrenträger Ewald Pfrengle bei einem seiner Auftritte im „Eschle“. so die mustergültige und liebevolle Sanierung des 200 Jahre alten Gebäudes. Die 55-Jährige bezog 2007 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Christoph Wegner (54), den Töchtern Delia (27) und Ambra (24) das 220 Quadratmeter große erste Obergeschoss. „Das Haus, das mir anvertraut wurde, ist Lust und Last zugleich. Die Instandhaltung und Pflege bindet unglaublich viel Energie und doch sehe ich den Erhalt von Tradition und Geschichte als meine Aufgabe an“, so Andrea Pfrengle über ihren Entschluss. Zweieinhalb Jahre wurden investiert, um die Wohnung neu zu gestalten und gleichzeitig die historische Bausubstanz erlebbar zu machen. So funktionierte man das Schlafzimmer der Großtante zur Küche um, während im Zimmer der Tochter früher das „Ladenmädle“ geschlafen hat. Viele historische Möbelstücke wie ein alter Apothekerschrank und ein alter Postschrank sind wieder ins Haus integriert worden. Und selbst die Plumpsklos sind noch erhalten geblieben – wenn auch natürlich nicht mehr in Betrieb. Auf dem überbauten Balkon hängt die Ahnengalerie mit Erinnerungstafeln an die beiden Trauungen von Constantin Eschle sowie weiteren Bildern der einstigen Hausbesitzer und der Familie Pfrengle. „Sozialer und kultureller Treffpunkt Schönwald e. V.“ findet eine neue Heimat Dann wäre da noch das unerwartete Schmuckkästchen des Hauses – das Dachgeschoss. Denn unter dem Dachstuhl schlummern kaum bezifferbare Schätze. „Hier sind vor allem viele Utensilien aus dem früheren Laden verstaut – es ist quasi die Geschichte des Kaufladens, die sich auf dem Speicher ausbreitet“, kommentiert Andrea Pfrengle. In dem Paradies für Sammlerfreunde befinden sich Schaukästen, Werbetafeln und unzählige Fotografien. Nicht fehlen darf in den Schränken die Schönwälder Tracht. Ebenso gibt es eine Wand voller Kruzifixe zu bestaunen. „Magdalena Eschle und ihre Kinder waren sehr gläubig – das ist ein katholisch geprägtes Haus“, so die heutige Besitzerin. Der Tochter von Constantin Eschle hätte es deshalb sicherlich gefallen, dass in dem Laden162 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Das Haus Eschle in Schönwald ist die lebendige Mitte des Ortes. Der frühere Kaufladen ist die Heimat des Vereins „Sozialer und kultureller Treffpunkt Schönwald e. V.“, oben rechts die Eröffnung im Jahr 2017. Stilvoll feiern lässt es sich im Gewölbekeller, den Ewald Pfrengle mühevoll sanierte. geschäft nach Schließung des Bauladens und der Wiederherstellung der Räume wie zu Zeiten des früheren Kaufladens, der Verein „Sozialer und kultureller Treffpunkt Schönwald“ mit der Vorsitzenden Monika Maaß seine Arbeit aufnahm. Er wurde eigens gegründet, um den Kaufladen mit Leben zu erfüllen und Schönwald einen Ort der Begegnung für Einheimische und Gäste zu ermöglichen. Ehrenamtliche Helfer bewirten hier regelmäßig mit Kaffee und Kuchen, monatlich gibt es ein gemütliches Frühstück. Doch nicht nur das: Angeboten werden ebenso ein Englisch-Konversationskurs, EDV-Kurse und Strickabende. Weiter trifft sich im „Eschle“ ein Leseclub. Verschiedenste Ausstellungen, Konzerte sowie Vorträge runden das vielfältige Angebot mitten im Dorf ab. Auch Ewald Pfrengle konnte zum Programm im Eschle beitragen. Mit alten Schönwälder Aufnahmen, die aus dem Besitz seiner Tante stammen, der einstmals in Schönwald wirkenden Ordensschwester Irmgard, veranstaltete er einen Dia-Abend. „Den konnte ich sogar zwei Mal machen, weil er so beliebt war“, erinnert sich der 87-Jährige lachend, der so die Erinnerung an das alte Schönwald am Leben erhält. Und auch wenn sie und ihre Familie dieses Haus besitzen, es restauriert und damit für die Nachwelt erhalten haben, sind sich Vater und Tochter einig: „Das Haus ist ein liebgewonnenes Stück Schönwald – und wir dürfen es hüten.“ Das Haus Eschle in Schönwald 163

 

 

 

In Stein meißeln, Geschichten erzählen Die Bildhauerarbeiten von Andrea Pfrengle stehen in enger Zwie sprache mit dem Material und Dingen aus dem „Eschle“-Fundus. von Marc Eich 164 164 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

 

 

 

„Geschichten erzählen – sie in Stein meißeln. Und möglichst ein natür liches Stück des Steins leben lassen, es einbinden“, beschreibt Andrea Pfrengle ihren gestalterischen Ansatz bei der Bildhauerei. Schon immer war die 55-jährige Vorstands assistentin der EGT in Triberg kreativ. Andrea Pfrengle hat lange Zeit gemalt und gezeichnet – dann brachte sie eine Freundin zur Bildhauerei, schildert sie ihren Werdegang. Mittlerweile sind acht Jahre vergangen und es ist ein vielgestaltiges Werk entstanden, das bei Ausstellungen hohe Wertschätzung erfährt. Wie im vorangehenden Beitrag beschrieben, lebt Andrea Pfrengle im Haus Eschle in Schönwald. Dort nebenan befindet sich in einer früheren Strohfärberei ihre Werkstatt und im Eschle selbst ihre mit eigenen Arbeiten bestückte Galerie. Die besondere Atmosphäre im Eschle prägt ihre Bildhauerkunst entscheidend mit. Am Raum zum Gestalten mangelte es in dem 200 Jahre alten Schwarzwaldhaus mitten in Schönwald nie. Zunächst bearbeitete Andrea Pfrengle die Steine auf dem riesigen Speicher: zwischen Holzbalken, Brettern, Türen und Bilderrahmen. Dann zog sie mit ihrer Bildhauerwerkstatt in die frühere Strohfärberei, die Constantin Eschle vor 140 Jahren neben dem Kaufladen erbaut hatte. Die ehemalige Färberei hat sie stilvoll eingerichtet, sie ist ein Kunstwerk für sich. Im Rücken der alten Werkbank des Urgroßvaters beginnt Andrea Pfrengle kraftvoll ein Stück Marmor zu bearbeiten. Sie formt am liebsten von Hand mit Hammer und Meißel, Raspel und Feile. Vorzugsweise bearbeitet sie Marmor, Alabaster, Speckstein und Co. Im Werk von Andrea Pfrengle sind ihre Kunst und der Geist des Hauses immer miteinander verbunden. Dafür steht auch die Büste des Erbauers Constantin Eschle. Andrea Pfrengle hat sein Portrait geschaffen, „weil es der Mann ist, der unserem Haus den prägenden Charakter gegeben hat“, so die Künstlerin. Entstanden ist die Büste aus Michelangelo-Marmor. „Ich gehe ran mit einer bestimmten Idee – doch sie entwickelt sich beim Arbeiten weiter und am Ende entsteht nicht selten ein ganz anderes Kunstwerk als zunächst gedacht, weil der Stein seine eigene Vorstellung hat“, schildert Andrea Pfrengle weiter. Um den Ausdruck des Werkes durch die natürlichen Strukturen des Steins zu verstärken, lässt sie Teile des Materials unbearbeitet. Ihr geht es nicht allein darum, ein „Bild zu hauen“, sondern sie will emotionsreiche Geschichten erzählen. Die Titel ihrer Skulpturen „Constantin“, Michelangelos Carrara-Marmor, alter Holzbalken, 2016. Die Werkstatt von Andrea Pfrengle befindet sich in der früheren Strohfärberei von Constantin Eschle. 166 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

 

 

 

sprechen für sich: Enthüllt, Zweisam, Blender, Wächter, Stadtgespräch, Trophäe, Mensch 4.0, Erwachen… Größtes Lob und Bestätigung sind für sie Rückmeldungen wie: „Deine Arbeit berührt mich!“ Der Weg zur Bildhauerei Kreativ war Andrea Pfrengle schon seit sie denken kann, hat vor allem gezeichnet und gemalt. Der größte Erfolg und Ansporn in ihrer Jugend war der erste Preis bei einem Malwettbewerb des Schwarzwaldgymnasiums Triberg anlässlich der Städtepartnerschaft Triberg-Fréjus. Später hat sie Workshops und Seminare zu Tongestalten, Aktzeichnen und Acrylmalerei besucht. Bei Studienaufenthalten im Ausland konnte sie ihre Technik und ihr Auge verfeinern. Sie war im Tessin, in der Türkei, in einer Kunstakademie am Bodensee und mehrmals im italienischen Carrara, dem „Mekka“ der Bildhauer. „Steingeschichten“ erzählen vom Schaffen Wie die Bildhauerin Andrea Pfrengle arbeitet, schildert sie ausdrucksstark in ihren Steingeschichten. Das sind Notizen zu ihren Werken, mit denen sie selbstreflektierend deren Entstehung beschreibt. Hier ein Auszug: „Ich hatte im Bruchstück des Specksteins bereits ein Gesicht entdeckt und ging eifrig daran, es ‚heraus zuschälen’. Dieses ‚Herausschälen’ hatte viel mit meinen Erfahrungen aus der Malerei zu tun. Ich malte mit Feilen und Raspeln und war erstaunt, was da passierte… Je tiefer ich kam, umso lebendiger wurde der Stein. Farben und Muster traten zutage, die vorher nicht zu sehen waren. Die eine Wange zierte ein Maori-Tattoo … unter dem Auge saß eine Träne … als wollte das Gesicht mir etwas erzählen. Ich ging daran, aus dem Reststück des abgebrochenen Steins zwei weitere Scheiben abzutrennen … sie sollten die ‚Mitspieler’ werden. Der erste sanfte Gefährte zeigte bei seiner Bearbeitung ebenfalls Tränenspuren unter dem Auge. Eine tränenreiche Zeit auch in unserer Familie. Mein Bruder, erst 51 Jahre alt, kam tragisch ums Leben. So wurde die dritte Figur im ‚Spiel’ alles andere als sanft… Trau„Blender“, Peccia-Marmor, Blattgold, Messing, alter Holzbalken, 2015. „Erwachen“, italienischer Alabaster, 2020. 168 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

er und Entsetzen sprechen aus ihr. Meine erste Steingeschichte ‚Emotionen’. Traurig und in sich gekehrt sollte auch die zweite Speckstein-Skulptur werden. Noch ein Stein, den ich seit Langem aufbewahrt hatte… Ein gebeugter Rücken, das Gesicht vergraben – und unter der Oberfläche? Auf der einen Seite zeigte sich rosafarbene Haut, auf der anderen kamen grüne Einschlüsse hervor, die an Algen erinnern. Der Sockel – wie ein Fels in der Brandung. Mein Impuls und die logische Ergänzung: ein Fischschwanz. Wieder eine Geschichte. Eine Meerjungfrau. ‚Zwischen den Welten’ hab ich sie genannt. Der Virus war gesetzt. Geschichten erzählen. In Stein meißeln. Und möglichst ein natürliches Stück des Steins leben lassen, einbinden… „Sie hat einen ungeheuren Schaffensdrang“ Andrea Pfrengle liebt den unmittelbaren Kontakt zum Material, erfühlt gerne, was sie erschafft. Sie arbeitet mit den verschiedensten Arten von Stein – Marmor ist ihr Lieblingsstein. Dabei verwendet sie selten Blöcke. Viel lieber wählt sie Bruchsteine und natürlich geformte Steine, die schon erahnen lassen, wie ihre endgültige Form aussehen könnte. Sie verwendet auch Materialien wie Holz, Draht, Metall und Gold, um den Werken Leben einzuhauchen. Seit einiger Zeit arbeitet sie zudem mit Ton und hat sich dem Zementguss verschrieben. Bei einer Ausstellung im Haus Eschle hält Freundin Margarete Retzbach die Laudatio und betont: „Sie hat einen ungeheuren Schaffensdrang, den sie vor allem an Marmor auslässt. Er ist weiß mit einer kristallinen Struktur – und wenn sie nach einer Sprengung ein Stück aus einem Fluss heraus holen kann, ist sie glücklich – auch wenn das eigentlich verboten ist“, erzählt sie schmunzelnd. Sie habe durch ihr lustvolles Arbeiten auch den Beinamen „unersättliche Steinefresserin“. In ihre Werke fließen oft eigene Lebenserfahrungen mit ein: Ein Marmorstein mit aufgefächertem und breitem Flügel, wird zu Mamas „Rosa Blüten“, asiatischer Talcus, Diabas, Edelstahl, 2020. Andrea Pfrengle 169

 

 

 

Engel. Dann gibt es den „Wächter“. Andrea Pfrengle: „Ich schuf ihn aus Carrara-Steinen und wieder einem alten Holzbalken aus unserem Haus. Ein Steinsockel als Grundfeste, ein Balken die Stütze, ein unverrückbarer und gradliniger Beschützer einer entspannten, fast entrückten Gestalt. Ein Bollwerk gegen jegliche Angriffe.“ Inspiration durch Materialien Beim Erschaffen ihrer Kunstwerke kombiniert sie gerne verschiedene Materialien – auch aus dem Haus Eschle mit seinem riesigen Fundus. „Es muss immer noch etwas dazu, um die Aussage zu unterstreichen“, erzählt sie. Ihre Kunst und die Dinge aus dem Haus bilden eine Symbiose. Das kommt nicht von ungefähr. Andrea Pfrengle: „Ohne die Inspiration durch die Materialien, von denen ich Tag für Tag umgeben bin, wäre ich mit meiner Bildhauerei niemals so weit gekommen.“ Etliche Werke sind auf alten Holztüren und Rahmen aus dem Fundus des einstigen Ladens montiert. Ein Auszug aus den „Steingeschichten“ erzählt mehr dazu: „Inspiriert von alten Schranktüren, die ich – natürlich – auf unserem Dachboden gefunden habe, kam ich auf die Idee, meine Geschichten in Zukunft nicht „aufzuspießen“ oder auf einen Sockel zu stellen, sondern ihnen einen Rahmen zu geben. „Rahmenerzählung“ heißt auch mein erstes Werk. Drei Gesichter, installiert und eingerahmt, die für jeden Betrachter eine ganz eigene Geschichte erzählen. Der Beginn einer ganzen Reihe von Rahmenerzählungen, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Ein Stein mit Familiengeschichte ist der Grabstein meiner Großeltern. Ein Granit aus dem Schwarzwald. Er bedeutet Heimat, Plattform und Ausgangspunkt für meinen Lebensweg. Der Stein geteilt und die einzelnen Stücke aufeinandergesetzt, alle drehbar, wurde der Granit zu meinem ganz persönlichen Stein-Mobile. Familie, Wärme, „Lauscher“, Michelangelos Carrara-Marmor, antiker Goldrahmen, Samt, 2016. „Emotionen“, brasilianischer Talcus, antike Schranktür, 2015. 170 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Liebe, Kraft, Mut… die Worte sind in die Steine gemeißelt und bemalt. Alle Steine verbindend und golden leuchtend: Mutter.“ Nach vielfachen Ausstellungen u. a. im Atelier von Karin Engler-Rapp in Mühlhausen, im Rahmen der Jahresausstellung der Künst ler gilde in Donaueschingen, bei art black forest, Villingen, der Galerie im Kino, Triberg, oder im „Forum Am Bahnhof“ in St. Georgen zeigt sich: Die ausdrucksstarken Arbeiten von Andrea Pfrengle berühren. Zumal sie stets auch eine enge Verbindung zu ihr selbst und zur Heimat „Schwarzwald“ haben. Die „Steingeschichten“ und dieses Portrait von Andrea Pfrengle schließen mit ihren Gedanken zum Corona-Lockdown: „Eingeschlossen. Abgesperrt. Blockiert. Auch meine Kreativität. Eine geplante Ausstellung erstickt im Keime. Erst langsam, mit den Lockerungen, auch eine Öffnung in mir. Es spiegelt sich in den Werken wieder, die jetzt entstehen: Blüten, Blumen, bunt. Für neues Erstarken und Gedeihen, neue Lebensfreude. Und eine Frauenbüste aus Alabaster. Frisch, zart, durchleuchtet, der Blick aufwärts gerichtet. ‚Erwachen‛ hab ich sie genannt.“ „Menschen 4.0“, Zement, Stahl, 2019. „Dora“, Zement, Draht, 2019. Andrea Pfrengle 171

 

 

 

Zappel-Philipp – das Kinderfachgeschäft mitten in der historischen Villinger Altstadt Am Villinger Riettor werden für klein und groß vielfache Kinderträume wahr von Birgit Heinig Der Herr im Rentenalter steht selig lächelnd an der Kasse. Vor ihm steht ein Schaukelpferd, das er gerade als Geschenk für seinen Enkel ausgesucht hat. „So eins hatte ich auch mal“, sagt er versonnen. Das sind die Momente, die Iris Mauch besonders liebt. Die Geschäftsfrau aus Villingen hat selbst zwei Enkelinnen. Sie wisse daher aus erster Hand, dass Kinder nicht zwingend auf Plastik, Computer und „bling-bling“ stehen. Iris Mauch führt in der Villinger Innenstadt seit 2008 das Spielwarengeschäft Zappel-Philipp. Von der Geschäftsidee bis zur Eröffnung ihres ersten eigenen Ladens vergingen damals gerade drei Monate. „Wenn ich etwas will, zögere ich nicht lange“, sagt sie und lacht. Die angenehmen Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit an einstige Villinger Institutionen wie Spielwaren Bauer, Halls und Margots Kindermoden gaben ihr die Richtung vor. Ihr Ding sei es von Anfang an gewesen, in den Kinderzimmern nicht bergeweise billiges Wegwerfspielzeug zu wissen, sondern sinnvolle und hochwertige Produkte, durch die der Nachwuchs im Spiel selbst aktiv werde. Wie richtig sie damit lag, erwies sich schon gleich nach der Eröffnung des Zappel-Philipp 2008. Es kamen jede Menge Kunden, teilweise auch von weit her und viele extra wegen ihr. Die Nachfrage riss nicht ab und setzte sich auch nach dem Umzug des Zappel-Philipp in den Durchgang des Riettores im Juli 2018 fort. Iris Mauch mit ihrer Tochter Anne Wilde. 172 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

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Elterliche Wirtschaft das zweite Zuhause Als Iris Meier erblickte sie 1954 im Romäusring das Licht der Welt – eine Hausgeburt. Ihre Eltern Liesel und Franz führten ab 1958 das Gasthaus Schützen in der Färberstraße. Sie besuchte die Mädchenschule, die heutige Klosterringschule, anschließend die Wirtschaftsschule und legte 1977 am kaufmännischen Gymnasium ihr Abitur ab. Seit sie denken kann, war während der Schulzeit die elterliche Wirtschaft ihr zweites Zuhause. Ab dem Teenageralter halfen sie und ihre Schwester Esther jeden Mittag nach der Schule ihrer Mutter an der Theke oder ihrem Vater in der Küche. Dabei lernte sie das Kochen – bis heute eine ihrer Leidenschaften. 1971 übernahm ihre Mutter, von ihren Gästen liebevoll die „Schützenliesel“ genannt, den „Kronprinz“ in der Niederen Straße und führte ihn mithilfe ihrer Töchter bis 1978. Dort lernte Iris Meier ihren späteren Ehemann Egon Mauch kennen und lieben. 1980 wurde geheiratet, kurz davor kam Töchterchen Anne zur Welt, zwei Jahre später ihr Sohn Philipp. Die Frage nach einer Berufsausbildung war durch Hochzeit und Geburten zunächst auf die lange Bank geschoben worden, freilich aber nicht vergessen. Aus einer stundenweisen Anstellung in der Buchhaltung der ortsansässigen Fensterbau-Firma Hässler wurde schließlich eine Ausbildung zur Bürokauffrau und eine Übernahme in die Festanstellung. 20 Jahre lang war sie bei der Hässler GmbH tätig. Aufregende Zeit des Aufbruchs Das Schicksal ist manchmal grausam. 2000 starb ihr Sohn Philipp mit 19 Jahren an einem Herzfehler. Iris, Egon und Anne Mauch waren sich danach gegenseitige Stützen und fanden trotz des immensen Verlustes in ein lebenswertes Leben zurück. Kraft holte sich Iris Mauch in dieser Zeit besonders gerne bei ihrer Freundin in Buxtehude bei Hamburg. Die wiederum arbeitete in einem Kinderladen, dessen Sortiment Iris Mauch sofort total begeisterte. „So etwas will ich auch machen“ – der Plan nahm schnell Gestalt an. „Eine kaufmännische Vorbildung hatte ich, ein Ladengeschäft war auch überraschend schnell gefunden und ein Gewerbe angemeldet“, erinnert sie sich an die aufregende Zeit des 174 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Wir wollten unseren Philipp mit dabei haben. Auch er hätte seine Freude an diesem Laden gehabt. Aufbruchs vor 12 Jahren. Selbst die seinerzeit herrschende Wirtschaftskrise schreckte sie nicht ab. Ihr zupackendes, selbstbewusstes und pragmatisches Wesen und die tatkräftige Unterstützung durch ihren Mann ließen keinerlei Bedenken zu. Sie wurden kurz zuvor zum ersten Mal Großeltern und somit war das Thema Baby und Kleinkind wieder aktuell. „Ich habe nur ein paar Marken gekannt“, gibt sie rückblickend zu und staunt heute selbst über ihren Mut damals. An ihren ersten Besuch auf der Spielwarenmesse in Nürnberg und an die Vertreterbesuche erinnert sie sich leicht schaudernd. „Ich hatte keine Ahnung, was und wie viel ich an Ware brauchte“. Nachdem alle selbst gebauten Regale einigermaßen voll waren mit hochwertigen Produkten aus Herstellerhäusern wie sigikid, Käthe Kruse, Haba und Spiegelburg – Marken, die sie aus ihrer eigenen Kinderzeit noch in Erinnerung hatte – eröffnete Iris Mauch am 31. Januar 2008 ihren Zappel-Philipp. Der Name lehnt sich nicht nur an Wilhelm Buschs umtriebige Figur an, sondern erinnert freilich auch an ihren verstorbenen Sohn. „Wir wollten unseren Philipp mit dabei haben. Auch er hätte seine Freude an diesem Laden gehabt“, sagt Iris Mauch. Von Anfang an wurde das Angebot gut angenommen – so sehr, dass selbst die stets optimistisch denkende Existenzgründerin überrascht war. Als ihr Gatte Egon Mauch 2017 das TorstübleAreal baulich neu konzipierte, entstand aus einem Blumenund einem Modegeschäft ein großes, neues Ladenlokal, fast doppelt so groß wie der bisherige Zappel-Philipp, dazu in bester Lage. Die Idee umzuziehen brauchte aber Zeit zu reifen. Sollten sie erneut ein Risiko eingehen, expandieren, viel Geld in die Hand nehmen und mit ihrem Geschäft neu anfangen? Die Mauchs Das neue, große Ladenlokal ist fast doppelt so groß wie der bisherige Zappel-Philipp. Zappel-Philipp 175 175

 

 

 

verließen sich schließlich einmal mehr auf ihren unternehmerischen Spürsinn und machten ein zweites Mal alles richtig. Schlaflose Nächte habe sie seither kaum gehabt, sagt sie, sieht man einmal von der bislang zum Glück überstandenen Corona-Krise in der ersten Jahreshälfte ab. Wenn sie daran zurückdenkt, wird ihr noch immer warm ums Herz. „Unsere Kunden haben trotz geschlossener Ladentür zu uns gehalten.“ Das Angebot ist sich selbst und den Vorstellungen der Gründerin treu geblieben Generell sei es „immer wieder spannend, ob das, was wir ausgesucht und eingekauft haben, auch ankommt“. Die 66-jährige Iris Mauch spricht inzwischen in der Mehrzahl. Denn die Übergabe des Zappel-Philipp an Tochter Anne Wilde ist bereits vollzogen. Heute kümmert sich ein Team von sechs in Sachen Spielzeug kompetenten Frauen um das Geschäft mit schönem und pädagogisch Da muss man nach Villingen kommen um so einen schönen Laden zu finden. Oben: Seit 2017 ist der Zappel-Philipp in bester Lage am Riettor in VS-Villingen zu finden. Rechts: Schönes und pädagogisch wertvolles Spielzeug zeichnet den Zappel-Philipp aus. wertvollem Zeitvertreib. „Dabei wird dann auch gemeinsam über Neuanschaffungen beraten. Brummkreisel und Puppenstuben, Holzfahrzeuge und Steckspiele, Babyund Handpuppen, Geschenkle zur Geburt und zum Kindergeburtstag“ – das Angebot ist sich in 12 Jahren selbst und den einstigen Vorstellungen der Gründerin treu geblieben. Batteriebetriebene oder ferngesteuerte Spielzeugautos findet man hier nur als ausgesuchte Exemplare und Computerspiele gar nicht. Aber auch Familie Mauch hat wie viele ihrer analog arbeitenden Kollegen mit der Konkurrenz im Netz zu kämpfen. Gegen das zumeist billigere Online-Shopping setzt sie auf freundliche und sachkundige Beratung, Kundendienst und Einkaufserlebnisse, bei denen Anfassen und Ausprobieren erlaubt sind. Daher freut es die Familie Mauch besonders, wenn sie, wie neulich, eine Kundin aus München sagen hört: „Da muss man nach Villingen kommen um so einen schönen Laden zu finden“. 176 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

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Simone Puchinger International erfolgreiche Profi-Tänzerin aus Furtwangen von Gerhard Dilger Simone Puchinger ist erfolgreich unterwegs. Die professionelle Tänzerin und Tanzpädagogin aus Furtwangen-Schönenbach darf sich seit 2010 u.a. „World Dance Master“ nennen. Dazu gesellen sich zahlreiche weitere internationale Erfolge. Doch der 31-jährigen Tanzkünstlerin ergeht es in Corona-Zeiten wie vielen Künstlern: Engagements als Tänzerin zu bekommen, ist derzeit unmöglich. So arbeitet Simone Puchinger zur Überbrückung in ihrem angestammten Beruf als Pharmazeutischtechnische Assistentin. Die Tänzerin lebt in Furtwangen im Schwarzwald, wo in den Reihen des Turnvereins 1872 ihre Karriere auch begonnen hat. 178 178 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

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Mitte August in Furtwangen, die Coronapandemie hat die Furtwanger und vor allem auch die Kultur in ihren vielen Facetten im Griff. Als Künstlerin, die sich noch dazu mit ihrem Metier selbstständig gemacht hat, ist auch die junge Furtwangerin Simone Puchinger direkt von den Auswirkungen betroffen. Keine Auftrittsmöglichkeiten, kein Unterricht mit Schülern und vor allem keine Aussicht auf rasche Besserung. Doch der Reihe nach: Was bewegt eine junge Frau aus dem Oberen Bregtal, ihre Leidenschaft, das Tanzen, zum Beruf zu machen? Und vor allem: Wie hat sie es geschafft, in diesem Nischenbereich erfolgreich zu werden und dies auch über Jahre zu bleiben? Im Gespräch bei einem Kaffee berichtet sie von ihren Anfängen. Start der Karriere beim Furtwanger Turnverein „Meine Mutter hat mich zusammen mit einer Freundin beim Furtwanger Turnverein angemeldet, da war ich sechs Jahre alt“ berichtet sie. Jazztanz, das war der erste Berührungspunkt, und die kleine Simone war auch über Jahre mit viel Spaß dabei, wenn auch damals niemand ahnen konnte, welche Rolle das Tanzen in ihrem Leben noch spielen würde. Irgendwann im Teenie-Alter kam ein gewisser Knick in die Begeisterung, die Motivation hing nach ihren eigenen Worten „ziemlich durch“. Viele andere Interessen wurden plötzlich wichtig, das Tanzen geriet ein wenig in den Hintergrund. Mit 16 Jahren machte sie ihren Realschulabschluss. Im Hinterkopf hatte Simone Puchinger zwar auch damals schon eine vage Vorstellung, auch „etwas mit Tanzen“ beruflich machen zu können, doch nicht zuletzt ihre Eltern drängten darauf, erst mal etwas „Bodenständiges“ zu ergreifen. So absolvierte sie eine Ausbildung als Pharmazeutisch-technische Assistentin, eine Entscheidung, die ihr in ihrem späteren Leben noch sehr zugutekommen sollte. Doch dann war der Punkt erreicht, an dem die Furtwangerin Impressionen aus der noch jungen Karriere von Simone Puchinger als Tänzerin. 180 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen hatte, Beruf und Arbeit in einer Apotheke oder die Verwirklichung ihres Kindheitstraums, das Tanzen als Lebensmittelpunkt? Zwischenzeitlich hatte sie schon zwei Jahre in ihrem erlernten Beruf gearbeitet und sich ein gewisses finanzielles Polster geschaffen. Und so stellte die junge Frau die Weichen in Richtung Tanz: Sie bewarb sich bei mehreren renommierten Tanzschulen, schließlich gab es die ersehnte Zusage von der New York City Dance School, die trotz des Namens ihren Sitz in Stuttgart hat. „Dort habe ich das Rüstzeug für eine erfolgreiche Karriere bekommen“, da ist sich Simone Puchinger sicher. Und neben den Fächern Jazz, Ballett, Stepptanz, Modern und Hip-Hop spielte auch die Unterweisung in Tanzpädagogik eine wichtige Rolle. Diese sollte sich später zu ihrem zweiten Standbein entwickeln. Was ich im Laufe meiner Karriere lernen musste, ist die Erkenntnis, dass man auch damit klarkommen muss, dass nicht permanent alles völlig perfekt sein kann. Ein Höhepunkt unmittelbar am Ende ihrer Ausbildung war ein Aufenthalt in New York mit einer weiterführenden Fortbildung am Broad way Dance Center. Überhaupt legt sie Wert darauf, dass in ihrem Metier die Verbesserung, auch nach der eigentlichen Ausbildung, ständiger Begleiter sein muss. So runden bis heute Workshops ihre Tätigkeit ab. Trainings in Hamburg oder Berlin stehen da nur stellvertretend für eine ganze Reihe von Orten, an denen sie ständig auf der Suche nach Perfektion ist. „Ja, ich bin schon eine Perfektionistin“, stellt sie fest. „Was ich im Laufe meiner Karriere lernen musste, ist die Erkenntnis, dass man auch damit klarkommen muss, dass nicht permanent alles völlig perfekt sein kann.“ Nach der Ausbildung ging es zunächst einmal darum, „einen Fuß in die Tür zu bekommen“. Erleichtert wurde die Suche dadurch, dass Simone Puchinger

 

 

 

Simone Puchinger sich zunächst einmal mithilfe ihres erlernten Berufes einen gewissen Spielraum verschaffen konnte, sie arbeitete zwischen 2011 und 2013 wieder in einer Apotheke. Parallel absolvierte sie weiter Tanztrainings im Ausland, wie zum Beispiel am Amsterdam Dance Center oder im Millenium Dance Complex in Los Angeles, um nur einige zu nennen. In diesem Beruf geht fast alles über persönliche Beziehungen und auch Empfehlungen. Aus den Kontakten, die sie in dieser Zeit knüpfen konnte, entstanden dann auch ihre ersten Engagements. „In diesem Beruf geht fast alles über persönliche Beziehungen und auch Empfehlungen“ macht sie deutlich. So sind auch zwei Verbindungen entstanden, die bis heute Bestand haben: Seit dem Ende ihrer Ausbildung ist sie Mitglied des Showtanzteams „Eurodancers“ in Zürich, dort lernte sie auch ihre Freundin Elena Auerbach kennen, die neben den Aktivitäten in Zürich in Waldkirch eine eigene Tanztruppe unter dem Namen „Provocation“ führt. Bei der sechsköpfigen Formation ist Simone Puchinger regelmäßig dabei. Der Ehemann von Elena Auerbach wiederum ist ein renommierter Zauberkünstler, der unter dem Namen „Magic Man“ seine Zaubershows anbietet. Simone ist mit ihren Kolleginnen auch dort mit von der Partie, ergänzt die Shows mit Tanzeinlagen und fungiert auch als Assistentin. Was ist es nun, was eine junge Frau aus dem Oberen Bregtal motiviert, sich als Tänzerin selbstständig zu machen? „Die Liebe zur Musik ist natürlich eine ganz wichtige Basis, schon als Kind habe ich Klavierspielen gelernt. Und entscheidend ist auch der Drang, mich zu bewegen, das treibt mich schon immer an“, meint Simone Puchinger. Im Tanz könne man Bewegungen ständig neu erfinden. „Man ist buchstäblich nie fertig, es gibt ein Leben lang unendlich viele Möglichkeiten, immer wieder Neues zu entdecken.“ Die Fähigkeit, sich choreografische Abläufe sehr schnell einzuprägen und diese auch dauerhaft abzuspeichern kommt ihr da sehr entgegen. 182 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Eine Fülle von Engagements Stellt sich die Frage, wie Tänzerinnen wie Simone Puchinger zu ihren Engagements kommen? „Oft sind es Sportveranstaltungen, Firmenpräsentationen oder Betriebsfeste, für die wir gebucht werden“, erläutert sie nur einige Schwerpunkte ihrer Auftritte. Seit einigen Jahren ist sie auch bei der „Tina Turner Tribute Show“ engagiert, darüber hinaus hatte sie zum Beispiel auch ein Engagement für eine Silvestershow in einem renommierten Fünf-Sterne-Hotel in Delhi in Indien oder bei den Swatch Beachvolley Major Series in Stavanger in Nor wegen. Doch es finden sich auch Events mit direktem Bezug zu ihrer Heimat Furtwangen: So war sie schon mehrfach als Backgroundtänzerin für die Furtwanger Musical-Sängerin Sabrina Weckerlin auf der Bühne und beim Furtwanger Musical „Heidenschlössle“ hat sie die komplette Choreografie geleitet und auch selbst mitgetanzt. 2017 stellte sie ein

 

 

 

eigenes Bühnenprogramm mit Schülern und Gästen: „Großes Kino – eine Reise durch die Welt der Filmgeschichte“ auf die Beine, welches zwei Mal vor begeistertem Publikum in der ausverkauften Festhalle Furtwangen aufgeführt wurde. Weiteres Standbein als Tanzlehrerin In Furtwangen schließlich findet sich als Ergänzung ihrer internationalen Aktivitäten noch ein Teil ihres Berufslebens, der ihr auch sehr viel bedeutet. Als Trainerin im Turnverein unterrichtet sie zahlreiche Kinder, beginnend mit der tänzerischen Früherziehung, aber auch weiterführend in Ballett, Jazztanz und HipHop. Sie ist auch mit dem Tanzensemble des Turnvereins, den „Dance Devilz“ unterwegs, was ihr nach wie vor viel Spaß macht. Drei Wettbewerbsgruppen hat sie initiiert: Neben „One2Step“ sind das „Release“ und „jazzspiration“. Eine weitere Anstellung im Bereich der Tanzpädagogik hat sie beim Turnverein Schonach mit der Leistungs riege Ballett. „Es sind rund 120 Schüler innen und Schüler vom Kindesalter bis zu hin zu jungen Erwachsenen, die ich insgesamt in Furtwangen und Schonach unterrichte“, freut sich die Tanzlehrerin. Und auch bei der Volkshochschule Oberes Bregtal bietet sie Kurse an. Es sind rund 120 Schülerinnen und Schüler vom Kindesalter bis hin zu jungen Erwachsenen, die ich insgesamt in Furtwangen und Schonach unterrichte. Und wo haben Wettbewerbe wie Weltmeisterschaften ihren Platz? „Das sind Aktivitäten, die mir bis heute neben der Arbeit im Showtanz und in der Ausbildung am meisten bedeuten“, sagt Simone Puchinger. Seit 2010 hat sie an vielen Wettbewerben teilgenommen. Sie alle zu nennen würde den Rahmen dieses Berichts sprengen. Als wichtigste stehen hier stellvertretend die Teilnahme an mehreren Weltmeisterschaften in Florida und an Europameisterschaften in verschiedenen europäischen Ländern wie zum Beispiel Finnland, Österreich und Slowenien. Und als krönender Abschluss der Erfolg bei den „Dance Star World Finals“ in Porec in Kroatien, wo sie 2010 bei starker Konkurrenz den Titel „World Dance Master“ in der Kategorie „Jazz Group“ ertanzte. Kann man dabei auch finanziell profitieren? „Schön wäre es“, lacht Simone Puchinger. „Im Gegenteil, als Gruppe zahlt man Startgebühren, die schon einmal 600 Dollar betragen können – pro Teilnehmerin!“ Ohne Sponsoren und entsprechenden Ehrgeiz geht das nicht. Dass ein solcher Erfolg immens wichtig für die weitere Karriere ist, liegt auf der Hand. „So ein Titel macht sich natürlich gut im Lebenslauf, wenn man sich irgendwo bewirbt.“ Leben als Künstlerin während der Pandemie Hier schließt sich wieder der Kreis. Zum Zeitpunkt des Gesprächs waren praktisch alle Aktivitäten komplett zum Erliegen gekommen, die Corona-Pandemie hat Simone Puchinger fast von einem Tag auf den anderen alle Verdienstmöglichkeiten genommen. „Da sind wir Künstler in keiner guten Ausgangslage“, meint sie. Sie hat zwar eine Unterstützung vom Staat bekommen, aber sie wird diese wohl zurückzahlen müssen. „Betriebskosten, die als Zuschuss ersetzt werden, habe ich ja praktisch keine und Kosten für den Unterhalt werden nur als Darlehen gewährt.“ So nahm sie einmal mehr ihr Schicksal in die eigene Hand und hat als Überbrückung wieder in ihrem erlernten Beruf in einer Furtwanger Apotheke gearbeitet. Bleibt die Hoffnung, dass die sympathische junge Furtwangerin bald wieder davon leben kann, was ihr am meisten bedeutet: Vom Tanzen in all seinen Facetten. Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

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Bernhard Gail am Newton-Teleskop mit 12 Zoll-Öffnung und 1.200 Millimeter Brennweite. 186 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Bernhard Gail Ein Hobby zwischen Raum und Zeit von Tanja Bury 187 187

 

 

 

Die unendliche Weite hat einen Durchmesser von 2,20 Meter und eine Höhe von 2,60 Meter. So groß ist die Sternwarte, die sich Bernhard Gail vor mehr als 30 Jahren aufs Dach seines Hauses gebaut hat. Seither vergeht kaum ein Tag, an dem der 59-jährige Mundelfinger nicht in seine Kugel steigt, um in die Sterne zu gucken – und dabei im siebten Himmel zu schweben. Gails Leidenschaft für die Gestirne wurde geweckt, als er zwölf Jahre alt war. In der Tageszeitung hatte er gelesen, wie der Saturn am Nachthimmel zu entdecken ist. „Ich habe ihn mit dem Fernglas meines Vaters gesucht – und nicht gefunden.“ Das hat ihm keine Ruhe gelassen, sein Ehrgeiz war geweckt. Der Junge kaufte sich ein Buch, las sich ein, schaute wieder und wieder. „Und ich habe den Saturn tatsächlich entdeckt und sogar seinen Ring gesehen“, erinnert sich Bernhard Gail. Dabei leuchten seine Augen noch heute. Die kleine Entdeckung von damals sollte zu einem großen Hobby werden. Der Traum von der eigenen Sternwarte Mit dem ersten Lohn als Elektrikerlehrling schaffte sich Bernhard Gail ein großes, transportables Teleskop an. Da es allerdings sehr zeitaufwendig war, das Fernrohr bei jedem Aufstellen neu einzunorden, wurde einige Jahre später im Garten seines Elternhauses eine genau ausgerichtete Säule errichtet, auf welche sich das Fernrohr bequem aufstecken ließ. Doch auch diese Konstruktion erfüllte irgendwann nicht mehr Bernhard Gails Ansprüche daran, nach den Sternen greifen zu wollen. „Da kam mir die Idee: Warum baue ich mir nicht meine eigene Sternwarte?“ Gesagt, getan: Er beschaffte sich Konstruktionspläne und ein ortsansässiger Zimmereibetrieb fertigte den Holzunterbau. Die drehbare Kuppel baute er in Eigenleistung nach Plänen des Maschinenbauers und Astronomen Anton Staus. Das Ganze wurde wasserfest verleimt, mit einer fünf Millimeter starken Laminatschicht überzogen und anschließend rot angestrichen. „Wegen der Ziegel, dachte ich. Aber das konnte man nicht so lassen. War ziemlich knallig“, erzählt er lachend. Also wurde die Kuppel mit Hagelschutzfarbe in Silber gespritzt. Sie hält bis heute, noch nie musste Gail nachlackieren. Bewährt hat sich auch die Technik für den 60 Zentimeter breiten Kuppelspalt, der den Blick auf den Himmel freigibt. Die Metallkonstruktion mit Blechverkleidung besteht aus zwei Teilen und lässt sich über eine Winde mit Drahtseilführung öffnen. Gedreht wird die Kuppel über eine Kette und mit Muskelkraft. Stetige Investitionen in die Technik Während die Sternwarte von außen gleich geblieben ist, hat sich in ihrem Inneren jede Menge getan: Jahr für Jahr hat Bernhard Gail in die Technik investiert und dafür sehr viel Geld ausgegeben. Wie viele Teile seine Ausrüstung inzwischen umfasst – der Sternengucker kann es nicht sagen. „Ich habe sie nie gezählt. Aber es sind etliche.“ Herzstück der Sternwarte ist ein Newton-Teleskop, dazu die gekühlte CCD Astrokamera (siehe „Technische Ausrüstung“). Beides ist montiert auf einer Halterung, die bis zu 60 Kilo gramm tragen kann und dafür sorgt, dass 188 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

DIE TECHNISCHE AUSRÜSTUNG • Für die Deep-Sky-Beobachtung und Fotografie ist das Hauptinstrument ein NewtonTeleskop mit 12-Zoll-Öffnung und 1.200 Millimeter Brennweite. • Für Planeten und Galaxien wird das NewtonTeleskop gegen ein Schmid-Cassergrain-Teleskop mit 11-Zoll-Öffnung und 2.800 Millimeter Brennweite getauscht. • Zwei weitere Linsenteleskope (Refraktor) ED Apo mit 4 Zoll-Öffnung und 900 Millimeter Brennweite und ein weiterer ED Apo für Deep-Sky-Aufnahmen mit 90-Millimeter-Öffnung und 500 Millimeter Brennweite stehen zur Verfügung. • Alle Teleskope sind über ein LosmandyPrismenschienen-System schnell wechselbar. • Zur Sonnenbeobachtung und Fotografie benutzt Bernhard Gail ein Lunt-Refrakton LS60T HA. • Die mobile Ausrüstung (Outdoor-Beobachtung und Fotografie) besteht aus einer Celestron AVX Montierung mit einem GSO FotoNewton mit 8-Zoll-Öffnung und 800 Millimeter Brennweite oder ein 6-Zoll-Newton • Weitere Teleskope sind ein Refraktor mit • 100-Millimeter-Öffnung und 1.500 Milimeter Brennweite, ein Refraktor mit 150 Millimeter Öffnung und 1.200 Millimeter Brennweite, ein Refraktor mit 100 Millimeter Öffnung und 1000 Millimeter Brennweite • Fotografiert wird mit der mobilen Ausrüstung mit Spiegelreflex Kamera Canon EOS 350D; EOS 450D oder eine EOS 80D In der Sternwarte wird mit einer gekühlten Astro-Farbkamera von Astrolumina ALCCD 8l fotografiert; zur Nachführung (Auto guiding) kommt eine ungekühlte Astrokamera von Imaging Soucre DMK21 zum Einsatz; für Planeten und Mond hat Bernhard Gail eine ungekühlte Farbkamera von Imaging Source DFK72AU oder Schwarzweiß Kamera DMK21; ein Hyper-Star System von Celestron fürs C11 wird auch zum Fotografieren benutzt. Bernhard Gail 189

 

 

 

sich das kostbare Equipment problemlos bewegen lässt. Auf einer kleinen Ablage unterhalb der Teleskop-Montierung steht ein Laptop, auf dem die Astroprogramme aufgespielt sind. Durch sie lässt sich das Teleskop einfach und absolut präzise ausrichten. Beim Verkabeln und Anschließen dieser ganzen Technik kommt Bernhard Gail sein berufliches Wissen als Elektromeister zugute. Der 59-Jährige ist seit 25 Jahren bei der Energieversorgung Südbaar beschäftigt. „Man kauft immer etwas Neues“, sagt Gail und zeigt dabei auf die Regale und die vielen Taschen, Hüllen und Schachteln in dem Zimmer, welches zur Sternwarte führt. Gerne und oft besucht der Himmelsforscher aus Mundelfingen Astronomiemessen, auf denen die neueste Technik und spannende Entdeckungen präsentiert werden und dazu noch gefachsimpelt wird. Der Austausch über den Blick nach oben ist Bernhard Gail wichtig. Deshalb bedauert er es sehr, dass die Astronomie-Vereinigung Rottweil-Heuberg-Baar, bei der er Mitglied ist, als Verein aufgelöst wird. „Es finden sich keine Leute für den Vorstand mehr. Nachwuchs ist nicht in Sicht“, sagt Gail. Keine Freizeitbeschäftigung wie jede andere An ihrem regelmäßigen Astro-Stammtisch in Zimmern ob Rottweil wollen die Hobby-Astronomen aber auch ohne Vereinsstruktur festhalten. Fürs Sternegucken ließen sich nur noch wenige junge Leute begeistern, berichtet Gail. Auch an seine eigenen Kinder konnte er die Begeisterung für den Kosmos nicht weitergeben. Und in Mundelfingen und der näheren Umgebung ist Gail zwar für sein Hobby und seine Sternwarte bekannt, doch auch hier halte sich das Interesse in Grenzen. Interessierte Blicke und dann und wann mal eine Frage komme von den Gästen des Landgasthofs Hirschen. Von der Terrasse des benachbarten FeinschmeckerLokals aus ist Gails Sternwarte gut zu sehen. Die Hobby-Astronomie ist keine Freizeitbeschäftigung wie jede andere. Das mag an der Komplexität der Technik und den hohen Investitionen in die Ausrüstung liegen. Bernhard Gail gesteht mit einem Augenzwinkern, ein Süchtiger zu sein. Süchtig danach, Planeten, Galaxien, Nebel und Gestirne zu beobachten und süchtig danach, sie zu fotografieren. Denn auch das reine Schauen war Gail irgendwann zu wenig. In den vielen Büchern, die er besitzt, und im Internet könne er sich zwar Fotos in Hülle und Fülle anschauen, „aber mich hat mal wieder der Ehrgeiz gepackt. Ich wollte wissen, ob ich solche Aufnahmen auch hinbekomme“. Hat er, was fünf Festplatten voll mit beeindruckenden Motiven beweisen, davon zeigen allein einige Tausende Aufnahmen den Mond. „Andere gehen ins Bett, ich in die Kuppel“ Um auf diese stolzen Zahlen zu kommen, steigt der 59-Jährige bei sternenklarem Himmel in sein zweites Wohnzimmer hinauf, in die Sternwarte. Etwa wenn er Feierabend hat und das TV-Programm mal wieder nichts hergibt. Und wenn Fernsehen, dann gerne Science-Fiction. „Star Trek und Star Wars – davon bin ich absoluter Fan“, erzählt Gail mit einem Strahlen. Hinauf in die Sternwarte geht es aber auch, wenn der Trompeter spät abends nach der Musikprobe von der Musikkapelle 1850 Mundelfingen heimkommt. „Andere gehen ins Bett, ich in die Kuppel.“ Dass er ein Nachtmensch ist, kommt ihm dabei zugute. Sonntagvormittags liebt es Bernhard Gail, die Sonne zu beobachten und dabei Radio zu hören. Vom Blick nach oben kann ihn nichts abhalten, auch bitterkalte Baaremer Nächte nicht. Heißer Kaffee und Thermounterwäsche sorgen dafür, dass er es selbst bei minus zehn Grad Celsius in seiner Sternwarte aushält. Heizen ist nicht möglich, die Wärme würde die Technik beeinträchtigen und die Bilder flimmern lassen. Den Winter einfach auszulassen, ist keine Option. „Bei sowieso nur rund 20 guten Beobachtungsnächten pro Jahr hier bei uns, dürfen Befindlichkeiten keine Rolle spielen“, sagt Gail und lächelt. Zudem hat jede Jahreszeit ihre Besonderheit. In der zweiten Jahreshälfte lassen sich vor allem Nebel-Objekte gut beobachten. Dazu zählt auch der Orionnebel M42, der es Bernhard Gail wegen seiner großen Farbvielfalt besonders angetan hat. Im Frühjahr und Som190 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Oben links: Während einer Fotosession. Oben rechts: 12″ Zoll Newton mit Astro kamera bei geöffneter Kuppel. Unten: Laptop mit Astro-Software zur Tele skopsteuerung und -nachführung sowie Bildaufnahme. Unten rechts: Drehbare Sternkarte zur schnellen Himmelsübersicht. Bernhard Gail 191

 

 

 

Der Komet Neowise – aufgenommen im Sommer 2020. Rechts: Cassiopeia Perseus Andromeda und Pleaden. mer dagegen ist Galaxienzeit. Nebenher werden Planeten gesichtet – der Saturn gehört seit der Entdeckung im Kindesalter zu Gails Lieblingen – und astronomischen Besonderheiten, wie der SoFi (Sonnenfinsternis) 2015 und dem Kometen Neowise in diesem Sommer, nachgegangen. Zugute kommt dem Mundelfinger Hobby-Astronom, dass der Himmel über der Baar nicht allzu sehr von Lichtverschmutzung beeinträchtigt ist. Und ja: „Während der Neumondphasen lässt’s sich besonders gut zu beobachten und fotografieren“, schwärmt er. Technischer Sachverstand, Wissen, Geduld und gute Vorbereitung Um von all der Vielfalt am Himmel astronomische Aufnahmen zu machen, braucht es neben viel technischem Sachverstand und Wissen um die Himmelskörper, Geduld und gute Vorbereitung. Will Gail fotografieren, überlegt er sich zuvor genau, was er ablichten möchte. „Macht man spontan was, geht es meist in die Hose“, berichtet er von seinen Erfahrungen. Er schießt Bilderserien, von denen er die besten Aufnahmen auswählt und mit einer Bildbeobachtungs192 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Der Orionnebel M42 hat es Bernhard Gail wegen seiner Farbenvielfalt ganz besonders angetan. software übereinanderlegt. Daraus ergeben sich atemberaubende Fotos. Ins Gelände geht er mit seinen Teleskopen mittlerweile nur noch sehr selten – zu komfortabel ist es das Teleskop fertig montiert in der Sternwarte zu haben. „In 15 Minuten ist die ganze Technik startklar.“ Steigt Bernhard Gail dann die schmale Treppe in seine Kuppel hinauf, öffnet den Spalt, der den Sternenhimmel über ihm freigibt, stellt sich eine besondere Atmosphäre ein. Das ruhende Dorf unter und das leuchtende Firmament über ihm lösen immer noch Glücksgefühle aus. „Entspannung pur“, nennt Bernhard Gail das, was er in seiner Sternwarte erfährt. Die unendliche Weite – sie hat einen Durchmesser von 2,20 Meter und eine Höhe von 2,60 Meter. Infos zu Bernhard Gails Sternwarte unter www.sternwarte-mundelfingen.de Mundelfingen als „Alpendorf“. 193

 

 

 

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Melanie Reischl Tattoostudio Tintenfass von Marc Eich Als Melanie Reischl vor fünf Jahren ihr erstes Tattoo-Studio eröffnete, war sie eine der ersten Tätowiererinnen im Landkreis. Mittlerweile hat sich die 33-Jährige in Zusammenarbeit mit drei weiteren Tätowierern einen großen Stammkundenkreis aufgebaut – und das, obwohl sie ursprünglich eigentlich ganz andere berufliche Pläne hatte. 195 Humorvolle, an die Heimat Schwarzwald anknüpfende Tätowierungen.

 

 

 

Nostalgisch ausgestattet ist das Tätowierstudio von Melanie Reischl in der Villinger Prinz-Eugen-Straße. Rechte Seite, v. links: Das Team besteht aus Bianca Teperß, Yves René Weber, Tammo Fleischhauer und Melanie Reischl. Es hat etwas von „zu Oma gehen“, wenn die Dachgeschossräume in einem Hinterhof in der Prinz-Eugen-Straße in Villingen betreten werden. An der Wand hängen Geweihe neben nostalgisch anmutenden Aufnahmen, im Empfangsbereich stehen ein mit Blumenmuster gepolsterter Sessel und zwei Stühle im gleichen Stil – der Holztisch dazwischen ist mit einer gehäkelten Tischdecke bedeckt. Daneben findet sich auf einer antiquarischen Kommode Wir wollen, dass sich die Kunden so fühlen, als wenn sie sich im Wohnzimmer tätowieren lassen. ein verschnörkelter Kerzenständer. Unter den freigelegten dunklen Holzbalken geht es in den nächsten Raum, in dem die Mischung aus Omas gemütlichem Wohnzimmer und modernem Schwarzwaldcharme weiter konsequent umgesetzt wird. Nur die mit Folien abgedeckten Liegen und die danebenstehenden Nadeln sowie Farben machen deutlich: Hier ist man nicht bei Oma zu Besuch, sondern im Tattoostudio Tinten fass von Melanie Reischl. „Wir wollen, dass sich die Kunden so fühlen, als wenn sie sich im Wohnzimmer tätowieren lassen“, so die 33-jährige Studiobesitzerin. Dass die Hygiene gerade zu Coronazeiten dennoch an erster Stelle steht, ist selbstredend. Kaum vorstellbar ist hingegen, dass hier, im Obergeschoss eines eher schmucklosen zweigeschossigen Baus, zuvor ein kühler Schulungsraum des Technisches Hilfswerks untergebracht war. „Wir haben alles neu verputzt, Wände rausgerissen und neu eingezogen und Zierleisten angebracht“, erzählt sie von den Umbauarbei196 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

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ten in den 150 Quadratmetern – die für den passenden Charme und die perfekte Umgebung in dem Studio sorgen. „Damit habe ich mir meinen Lebenstraum erfüllt!“ Dass dieser Traum mal Wirklichkeit werden könnte, das hatte sich nicht von Anfang an herauskristallisiert. Bereits in den 2000er-Jahren habe sie sich gewünscht, ihre Zukunft in der Tattoo-Branche zu finden. „Das war damals aber nicht so einfach, weil es nur wenige Studios gab.“ Melanie Reischl absolvierte deshalb zunächst ein Studium zur Grafikdesignerin. Hier stellte sich jedoch recht schnell heraus, dass sie in diesem Beruf nicht tätig sein möchte. „Die Kunden haben immer eine bestimmte Vorstellung – und oft werden dann jene Entwürfe genommen, die einem persönlich am wenigsten gefallen“, sagt sie lachend. Und sie erklärt auch gleich danach den Unterschied zu einem TattooStudio: „Tätowierte suchen sich aus, zu wem sie gehen wollen, weil sie einen Stil toll finden. Sie wollen unsere und nicht eine andere Arbeit.“ 2012 wagte sie den Schritt in die Branche, fing bei einem Studio in Trossingen an. Ihre Ausbildung zur Grafikdesignerin half ihr zugleich dabei, Fuß zu fassen. „Das Studium war sehr hilfreich, um alle Grafikprogramme zu beherrschen“, erzählt sie. Auf dem iPad zeichnet sie bis heute die einzelnen Elemente, die später im Photoshop zum ganzheitlichen Tattoo zusammengesetzt werden. Erste Tätowierstube in Dauchingen Bei ihrer ersten Station wurde sie jedoch nicht richtig glücklich, strebte immer danach, ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen. Drei Jahre später wagte sie deshalb den Schritt und eröffnete eine eigene Tätowierstube in Dauchingen. „Ich wollte einfach alles anders machen – und das ist mir dann auch gelungen“, sagt sie zufrieden. Hier half ihr das vorherige Studium ebenfalls. Denn ihre Fähigkeiten sorgten dafür, dass sie mit dem Corporate Design ebenso außerhalb der Tattoos für Hingucker sorgt und so ein Alleinstellungsmerkmal schaffen konnte – und zwar angefangen von den Auftragsbüchern bis hin zu den Visitenkarten. Und überhaupt: Anlaufschwierigkeiten im eigenen Studio waren ihr fremd. Denn die 33-Jährige hatte das Glück, diesen Schritt genau in den Boom-Jahren gegangen zu sein. Damals gab es hier im Umkreis maximal zehn Studios – und ich war die einzige Frau. „Damals gab es hier im Umkreis maximal zehn Studios – und ich war die einzige Frau“, so Melanie Reischl. Ihren Stammkundenkreis aus dem vorherigen Studio konnte sie nach Dauchingen mitnehmen und erweitern. Die gebürtige Villingerin entschloss sich in diesem Zuge auch dazu, im Studio weitere Tätowierer aufzunehmen. In Dauchingen stießen zunächst Bianca (31) und Yves René (28) hinzu – und bildeten quasi das akademische Trio, wie Melanie Reischl lachend erzählt. „Yves René hat ebenso Grafikdesign studiert, Bianca Architektur.“ Das Trio vollzog schließlich im Jahr 2017 den Umzug in die neu gestalteten Räume in der Prinz-Eugen-Straße. Dort komplettierte Tammo (27) die Crew. Diese tätowiert zwar unter gleicher Flagge, aber jedes Mitglied arbeitet als Selbstständiger. Melanie Reischl: „Die Termine teilen 198 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar Beim Tätowieren – schmerzfrei ist die Sache nicht…

 

 

 

wir uns gegenseitig zu.“ Konkurrenzdenken ist dabei fehl am Platz – im Vordergrund stehe die Freundschaft, die für eine unverwechselbare Arbeitsatmosphäre sorge. Denn das Quartett arbeitet nicht nur zusammen, sondern genießt oft auch den Feierabend gemeinsam. „Dann werfen wir den Grill an und haben Spaß“, schwärmt sie. Nicht alles wird tätowiert Und auch was die „No-Gos“ betrifft, ist man sich einig. Denn für die Vier ist hierbei klar: „Wir machen nicht alles!“ So lautet das Credo bei Tintenfass, dass Clubsymbole von Motorradgruppierungen oder Logos von politisch motivierten und rechtsradikalen Bands definitiv nicht tätowiert werden. Mittlerweile betrage der Stammkundenanteil bis zu 85 Prozent. Melanie Reischl: „Ich tätowiere zum Teil ganze Freundeskreise.“ Und der gute Ruf zieht Kreise: Aus der gesamten Region Schwarzwald-Baar-Heuberg, aber auch aus Freiburg, Konstanz oder gar der Schweiz fahren die Kunden nach Villingen, um sich in den schmucken Räumen ihres Studios tätowieren zu lassen. „Manche kommen sogar ein Mal im Monat“, erzählt sie. Und wie sieht es bei ihr selbst aus? Abgesehen von einem Drittel der linken Beinrückseite, der rechten Oberschenkelrückseite sowie dem Rücken und dem Bauch ist sie tätowiert. Ihr Ziel ist dabei, irgendwann komplett tätowiert zu sein – „Ich finde das sehr schön“. Auch wenn sie, wie viele ihrer Kunden („Männer wollen das nur mir gegenüber nicht so zeigen“), wehleidig sei beim Stechen. „Ich bin ein richtiger Jammerlappen“, sagt sie grinsend. Aber genau deshalb weiß sie auch, welche Atmosphäre die richtige für ein Tattoostudio ist. Denn, wenn ihre Kunden das Gefühl haben, zu Oma ins Wohnzimmer zu stiefeln, ist die Nervosität augenblicklich verflogen. Und genau das hat Melanie Reischl gemeinsam mit ihren Kollegen hier bei Tintenfass geschafft. Rechts: Tätowierungen der Tintenfass-Crew von Melanie Reischl (Mitte). Melanie Reischl 199

 

 

 

200 200 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Bianca Purath Alles hat seine Zeit Die ehemalige Junioren-Weltmeisterin im Radzeitfahren lebt heute in Hubertshofen und arbeitet bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr von Silvia Binninger 201

 

 

 

Das Ehepaar Bianca und Jens Purath mit Sohn Dario vor ihrem Zuhause in Hubertshofen. waren, durften die beiden ihren Traum verwirklichen: Der Wunsch war, ein Haus zu bauen, das sich natürlich in die Umgebung einpasst. Das Weißtannenholz für die Konstruktion stammt aus dem Urachtal und wurde in einer günstigen Mondphase geschlagen. Zwei Jahre musste es lagern, bis es endlich verbaut werden durfte. Bianca Purath: „Es war uns sehr wichtig, auf heimische Materialien und regionale Handwerker zu setzen.“ Aber nur mit viel Eigenleistung, Herzblut und Hilfe der Familie konnte dieses Heim entstehen. Der Blick durch die bodentiefen Fenstern schweift über die Obstbäume hinweg zum fernen Fürstenberg. Die Augen der Puraths leuchten, als sie begeistert anmerken: „Bei günstigem Wetter kann man von hier aus bis zu den Alpen sehen!“ Die Alpen! Ein weiteres Stichwort – aber dazu später. Mit neun Jahren „Stadtmeisterin“ Bianca Purath, mit Mädchennamen Bianca Knöpfle, wuchs in Hubertshofen, einem kleinen Stadtteil von Donaueschingen, auf. Schon früh entdeckten ihre Eltern ihr Talent lange Radtouren durchzuhalten. Nach ein paar Trainingseinheiten nahm sie dann 1994 beim Bergzeitfahren des Skiclub 1900 Donaueschingen teil. Das Rennen startete in Wolterdingen, führte nach Hubertshofen und Mistelbrunn und dann über die Passhöhe nach Bubenbach. Bei diesem Rennen musste bei einer Streckenlänge von 9,5 Kilometern fast 300 Höhenmeter bewältigt werden. Zur Verwunderung aller wurde sie mit gerade einmal neun Jahren Donaueschinger Stadtmeisterin. Der Grundstein für ihre Profikarriere war gelegt. Ihre Schulzeit verbrachte sie zuerst in Donaueschingen am Fürstenberg-Gymnasium – dann wechselte sie auf das Sportinternat des Olympiastützpunkts nach Freiburg. Ihr Abitur absolvierte sie auf dem Staudinger Gymnasium im Jahr 2004. Es ist ein sonniger Spätsommertag, eine geschwungene Natursteintreppe führt zu Familie Puraths Holzhaus in Hubertshofen hinauf. Jens Purath und der kleine Dario öffnen die Tür: Die wohlige Atmosphäre, die das Haus auch im Inneren ausstrahlt, begeistert. Bianca Purath kommt und erzählt strahlend, wie das Ehepaar das gewaltige Projekt „Hausbau“ gemeistert hat. Das Grundstück gehörte Biancas Großeltern. Wo einst ein Stall, eine Scheune und ein Garten 202 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Ein unglaublicher Moment: Bianca Knöpfle gewinnt am 7. Oktober 2003 beim WM-Einzelzeitfahren der Juniorinnen im kanadischen Toronto die Goldmedaille. Der größte Erfolg – Goldmedaille beim WM-Einzelzeitfahren Ziemlich genau ein halbes Jahr zuvor erreichte Bianca Knöpfle den größten Erfolg ihrer Karriere: Am 7. Oktober 2003 startete sie im kanadischen Hamilton – rund 70 Kilometer südwestlich von Toronto am Westende des Ontariosees gelegen – beim WM-Einzelzeitfahren der Juniorinnen. Die Strecke von 15,4 Kilometer absolvierte Bianca Knöpfle in nur 22,1708 Minuten und holte sich die Goldmedaille. „Ein unglaublicher Moment war das, daran werde ich immer denken“, schwärmt sie noch heute. Damit war ihr sportlicher Aufstieg vorgezeichnet. Dank der Berufung in die Deutsche Nationalmannschaft kam sie gleich nach dem Abitur zur Sportfördergruppe der Bundeswehr, um dort die Grundausbildung zu durchlaufen. Weitere Lehrgänge und Qualifikationen folgten, wie die Ausbildung zum Unteroffizier oder der Trainerschein und der Lehrgang zum Feldwebel. Zehn Jahre blieb sie der deutschen Nationalmannschaft treu – mit vielen Erfolgen und Rückschlägen. Einer dieser Rückschläge ereilte sie bald nach ihrem WM-Titel: Im Frühjahr 2004 erkrankte die Bikerin am Pfeifferschen DrüsenDank der Berufung in die Deutsche Nationalmannschaft kam sie gleich nach dem Abitur zur Sportfördergruppe der Bundeswehr. Bianca Purath war Mitglied in der Nationalmannschaft von 2001 2011 und parallel dazu in folgenden Straßenradteams aktiv: • • • • • 2005-2007: Team Rothaus-Vita-Classica (Bundesligateam) 2008: Team Flexpoint (Niederländisches Profiteam) 2009-2010: Equipe Nürnberger (Deutsches Profiteam) 2011: Kuota Speed Queens (Österreichisches Profiteam) Von 2005-2012 parallel dazu immer wieder einige MTB-Rennen für das deutsche Rothaus Mountainbike Team Bianca Purath 203

 

 

 

kennen, der ebenfalls ein ambitionierter Sportler, Radfahrer und Bergsteiger ist. Ein gemeinsamer Freund hatte ihm erzählt: „Es gibt eine Frau, die schneller Rad fährt als du!“ Das Interesse war geweckt und er wollte diese Frau unbedingt kennenlernen. Sie verabredeten sich dennoch nicht zum Biken, sondern zum Wandern – die 2.700 m hohe Rote Wand im Lechquellgebiet war das Ziel. Wer diesen Berg kennt, der weiß, dass diese ausgesetzte Route im oberen Teil des Gipfels nicht die Leichteste ist. Bianca Knöpfle entdeckte das Bergsteigen als weitere Passion. Beide teilen die Liebe zur Bewegung in der Natur, vor allem in den Bergen. Weitere Touren folgten. „Nur durfte ich nicht klettern, wenn ich gerade im Wettkampftraining war, es werden hierbei ganz andere Muskelgruppen beansprucht“, lacht sie. Die Hochzeit der beiden ganz in Weiß folgte am 14. März 2009 in der Martinskapelle in Das Bergsteigen entdeckte Bianca Purath dank der Leidenschaft ihres Ehemanns Jens Purath. fieber. Zwei Wettkampfjahre lang hatte sie damit zu kämpfen, die Fortsetzung ihrer Karriere schien gefährdet. Doch im Jahr 2008 ging es wieder bergauf und Bianca Knöpfle wurde Vierte bei der Marathon-Mountainbike-EM. 2009 gewann sie die Bundesliga Gesamtwertung. „2009 war ein super Jahr, ich war total fit – doch dann: Bei den „Liberty-Classics“ 2010, dem größten Frauen-Radrennen der USA in Philadelphia, stürzte sie schwer – ein vierfacher Beckenbruch war die Folge. Sie wurde nach Koblenz geflogen, um im Bundeswehrkrankenhaus zu genesen. „Es gibt eine Frau, die schneller Rad fährt als du!“ Zwischen all den Wettkämpfen lernte Bianca Knöpfle im Jahr 2006 ihren Mann Jens Purath Furtwangen – es lag noch Schnee. Bianca und Jens Purath sind glücklich, dass sie an einem so besonderen Ort heiraten durften. Sportkarriere im Jahr 2011 beendet Im Jahr 2011, nach fast 200 Hotelübernachtungen pro Jahr und dem hieraus resultierenden Wunsch, mehr zu Hause zu sein, beendet die ehemalige Junioren-Weltmeisterin ihre sportliche Karriere. Seit 2012 ist Bianca Purath stellvertretende Leiterin der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Todtnau-Fahl. Mit einer Zusatzausbildung zum Personalfeldwebel konnte sie sich für diese Stelle qualifizieren. 54 Sportsoldaten mit Zugehörigkeit zu einem Bundeskader und einer Empfehlung vom Verband sind dieser Gruppe zugehörig. Insgesamt fördert die Bundeswehr an 15 Standorten 204 Daheim im Schwarzwald und auf der Baar

 

 

 

Im Jahr 2011, nach jährlich fast 200 Hotelübernachtungen und dem hieraus resultierenden Wunsch, mehr zu Hause zu sein, beendet die ehemalige JuniorenWeltmeisterin ihre sportliche Karriere. 840 Spitzensportler. Bianca Purath sieht sich als Bindeglied zwischen den Sportlern, den Leistungszentren und den Olympiastützpunkten. Sie kümmert sich um die Betreuung, Förderung und Weiterbildung der Bundeswehr-Sportler, überwacht deren sportliches Leistungstraining und bemüht sich um die Sicherstellung der Teilnahme an nationalen und internationalen Wettkämpfen. Die Planung und Vorbereitung der „International Military Sports Council-Wettkämpfe“ gehört ebenfalls zu ihrem Aufgabenspektrum. Die Sportler kommen aus den unterschiedlichsten Disziplinen und aus dem ganzen Bundesgebiet. Bundesweit gehören zuletzt ca. 50 % der Medaillengewinner bei Olympischen Spielen diesen Sportfördergruppen an. Noch immer mit dem Rad unterwegs Am 28. November 2018 bringt Bianca Purath einen kleinen Jungen zur Welt – Dario. Den Vornamen erhält er von dem bekannten Schweizer Skilangläufer Dario Cologna. Auch mit Kind ist das Paar immer noch mit dem Rad unterwegs. Dario darf aber gemütlich im Anhänger sitzen. Mit ihm waren sie schon dreimal auf dem 1909 m hohen Mont Ventoux. Ein Berg in Frankreich, der unter Radfahrern sehr populär ist. Er trägt den Beinamen „Gigant der Provence“. Begeistert erzählen die jungen Eltern von ihren letzten Urlauben mit ihrem Wohnmobil. „In diesem Jahr bot es sich besonders an, damit die Zeit in einsamer Natur zu genießen“, so Bianca Purath. Nach einem Jahr Elternzeit arbeitet Bianca Purath seit Dezember 2019 wieder Vollzeit Die täglichen Bike-Trainingseinheiten mit Sohn Dario im Anhänger und das Fitness-Studio sorgen dafür, dass Bianca Purath auch nach dem offiziellen Ende ihrer Karriere fit bleibt. bei der Bundeswehr in Todtnau-Fahl, davon zweimal die Woche im Homeoffice. „Es ist eine Heraus forderung, aber die Großeltern unterstützen uns bei der Betreuung von Dario, da Jens auch Vollzeit arbeitet“, erzählt sie. Ihre sportliche Fitness erhält sich die mehrfache MTB-Nachwuchsmeistern weiterhin durch Bewegung in der Natur. Mit ihrem Bike und Dario im Fahrradanhänger ist sie regelmäßig unterwegs. „Da staunt so mancher E-Biker, wenn ich mit dem Anhänger an ihm vorbeifahre“, lacht die ehemalige Profi-Sportlerin. Bianca Purath genießt das Leben mit ihrer kleinen Familie im schönen Heim. „Alles hat im Leben seine Zeit“, blickt sie zurück – „die Zeit der Wettkämpfe war schön, aber jetzt bin ich glücklich, ein ruhigeres Leben führen zu können.“ Bianca Purath 205

 

 

 

„Sicher. Sauber. ALPRO.“ Die ALPRO MEDICAL GMBH ist ein weltweit führender Spezialist bei der Reinigung, Desinfektion und Pflege zahnärztlicher Absauganlagen – 90 Mitarbeiter stellen in Peterzell über 100 Produkte für den Bereich der Infektionskontrolle her von Eric Zerm „Sicher. Sauber. ALPRO“. Mit diesem Slogan wirbt die vor mehr als 30 Jahren gegründete ALPRO MEDICAL GMBH für ihre innovativen Produkte im Bereich der Infektionskontrolle. Das Unternehmen mit Sitz in Peterzell zählt zu den weltweit führenden Spezialisten bei der Reinigung, Desinfektion und Pflege zahnärztlicher Absauganlagen. Alles begann mit fünf Mitarbeitern und zwei Produkten, erinnert sich der Geschäftsführende Gesellschafter und Vertriebsleiter Alfred Hogeback an die Start-Up-Zeiten in einer Schwenninger Garage, in der er das Unternehmen 1989 gemeinsam mit den Brüdern Johst und Hendrik Helmes begründete. Mit ihren Ideen für den zahnärztlichen Bereich revolutionierten die Gründer den Hygiene-Markt dieser Sparte. Heute ist die ALPRO MEDICAL 206 6. Kapitel – Wirtschaft

 

 

 

mit ihren Produkten überall dort zu Hause, wo es klinisch rein sein muss – primär in zahnmedizinischen und allgemeinmedizinischen Bereichen oder in Kliniken. „Wir bieten ein sehr breites Portfolio, das von der Handpflege bis zur komplexen Biofilmentfernung bei wasserführenden ärztlichen Geräten reicht“, so Alfred Hogeback und Markus Klumpp, der zweite Geschäftsführer des Unternehmens. Und das mit außergewöhnlichem Erfolg: ALPRO MEDICAL beschäftigt 90 Mitarbeiter, die über 100 Produkte herstellen und jährlich mehr als 14 Millionen Euro Umsatz erwirtschaften. 207

 

 

 

Dass Alfred Hogeback zu einem Pionier der 2-Phasen-Reinigungs-Technologie aufstieg, ist seiner beruflichen Tätigkeit im Dentalbereich und seiner Ausbildung in der Lebensmittelindustrie zu verdanken. Ein Zahnarzt beklagte Ende der 1980er-Jahre bei einem Praxisbesuch, die Absauganlage sei ständig verschmutzt und das Reinigungsmittel, das er einsetze, helfe nicht wirklich. Alfred Hogeback erinnerte sich an seine Erfahrungen in der Lebensmittelindustrie, dort hatte er das Thema pH-Verschiebung in Aufbereitungsprozessen kennengelernt. Der Firmengründer: „Ich dachte spontan an ein Reinigungsmittel, das mit einer alkalischen und einer sauren Phase arbeitet, an eine pH-Verschiebung. So etwas hält kein Keim der Welt aus.“ Und er behielt Recht: Damit war die Idee zur ALPROJet-Produktlinie geboren, zum ersten 2-Phasen-System für die Reinigung zahnärztlicher Absauganlagen auf dem Markt überhaupt. Die ersten Reinigungsund Desinfektionsmittel werden in einer Garage gemischt Sich mit dieser Neuheit selbstständig zu machen, davon überzeugte ihn Johst Helmes, der als Prokurist bei Alfred Hogebacks damaligem Arbeitgeber tätig war. Dritter im Bunde wurde Hendrik Helmes, der Bruder von Johst Helmes, der zu dem Zeitpunkt als Diplom-Handelslehrer eine Privatschule betrieb. Einer der Lehrer und Chemiker in der Privatschule war Werner Rösner, der bis heute Prokurist und Entwicklungsleiter bei ALPRO ist. Er setzte die Idee für AlproJet in anwendergerechte Konzentrate um. „Er mischte unsere ersten Reinigungsund Desinfektionsmittel in einer Garage in Schwenningen“, blickt der Geschäftsführende Gesellschafter auf die Pioniertage des Unternehmens zurück. Das Ergebnis: Die Jungunternehmer kamen mit einem Produkt auf den Markt, das es in dieser Form nirgendwo sonst gab und heute wie selbstverständlich weltweit eingesetzt wird. Es reinigt nicht nur ausgezeichnet, sondern ist zugleich umweltfreundlich“, freut sich Alfred Hogeback. Die drei Pioniere gründen „Astro Dental“: „Astro stand für astronomisch gut“, verrät Alfred Hogeback schmunzelnd. „Wir wollten einen Namen wählen, der nicht angreifbar ist.“ Wie sich bald herausstellte, war er das aber doch: Der Konzern „Astra Chemicals“ erhob Einspruch gegen diese Bezeichnung des Unternehmens aus dem Schwarzwald. So wurde aus „Astro Dental“ durch den Austausch von nur zwei Buchstaben „ALPRO Dental“. Und so entstand mit „ALPRO“ die Kurzform für „Alternative Produkte“. In einer Schwenninger Garage wurden die ersten Reinigungsund Desinfektionsmittel gemischt – vom ersten offiziellen Firmensitz in Villingen aus (links) wechselte ALRPO MEDICAL im Jahr 1995 nach Peterzell (rechts). 208 Wirtschaft

 

 

 

Firmengründer und Geschäftsführer Alfred Hogeback leitet das in Peterzell angesiedelte Unternehmen ALPRO MEDICAL zusammen mit Geschäftsführer Markus Klumpp. Das Unternehmen begründet in den 1990er-Jahren seine heute weltweite Spitzenstellung bei der Beseitigung des Biofilms in zahnärztlichen Be hand lungseinheiten und der Entkeimung des Behandlungswassers. Dank des innovativen Reinigungsund Desinfektionsmittels florieren die Geschäfte. Im Inland liefert Alfred Hogeback die ALPROProdukte zu Beginn noch persönlich aus, um das Marketing und den Export kümmert sich Johst Helmes mit Standort Cuxhaven. Die ersten Abnehmer außerhalb Deutschlands finden sich in den europäischen Nachbarländern. Um auf dem Weltmarkt Fuß zu fassen, schließen die Firmengründer Verträge mit Unternehmen vor Ort ab, die es ihnen gestatten, ALPRO-Produkte in Lizenz zu fertigen. Alfred Hogeback nennt beispielhaft Hersteller in Austra lien, Saudi Arabien oder dem Iran. Vertretungen unterhält das Unternehmen heute in mehr als 40 Ländern. Das Portfolio wächst kontinuierlich „Durch den beständigen Austausch mit den Herstellern entwickelten wir uns kontinuierlich weiter“, so der Geschäftsführende Gesellschafter. Das Unternehmen begründet in den 1990er-Jahren seine heute weltweite Spitzen stellung bei der Beseitigung des Biofilms in zahnärztlichen Behandlungseinheiten und der Entkeimung des Behandlungswassers. Das Portfolio wächst stetig bei höchsten Ansprüchen an das Produkt: ALPRO forscht, entwickelt, produziert Hygiene-, Reinigungsund Desinfektionsmittel – sowie adaptierbare Geräte für die Zahnmedizin, Allgemeinmedizin und Labore. Hinzu kommen Spezialprodukte für die Betriebsund Abwasserbehandlung zahnärztlicher Behandlungseinheiten. Aldehydfreie Produkte sind eine Selbstverständlichkeit. „Im Bereich Zahnmedizin haben wir in Deutschland den zweitgrößten Markt der ALPRO MEDICAL GMBH 209

 

 

 

Beim Prüfen der ALPRO-Produkte im eigenen Labor. Mitte: Für Reinigung und Desinfektion im medizinischen Bereich bietet ALRPO mittlerweile über 100 Produkte. Rechts: Abfüllen von Desinfektionsmitteln, wie sie aufgrund von Corona im Jahr 2020 in großen Mengen abgerufen werden. Im Bereich Zahnmedizin haben wir in Deutschland den zweitgrößten Markt der Welt vor uns. Zugleich ist dieser Markt sehr anspruchsvoll. Welt vor uns. Zugleich ist dieser Markt sehr anspruchsvoll“, unterstreicht Alfred Hogeback. „Nirgendwo sind so viele unterschiedliche Hygiene-Produkte im Einsatz“, ergänzt Markus Klumpp, der seit 1. August 2019 an der Seite der Firmengründer die Geschäfte bei ALPRO leitet. Markus Klumpp arbeitete nach dem Studium der Technischen Betriebswirtschaftslehre an der TU Stuttgart 10 Jahre als Unternehmensberater bei Arthur Andersen und später bei Deloitte Consulting. Hier war er in den Bereichen Finanzen, Controlling und Data Warehousing tätig, wechselte danach in die Ton-/Medienbranche und verantwortete bei Nuclear Blast die Bereiche Controlling, Mailorder und IT weltweit. Danach wechselte Markus Klumpp als CFO zur Hommel & Keller Firmengruppe. Er trat bei ALPRO MEDICAL die Nachfolge von Hendrik Helmes an, der sich nach 30 Jahren beispielhafter Aufbautätigkeit in den wohlverdienten Ruhestand begab und zu den Gründern des Unternehmens zählt. Die beiden Geschäftsführer verweisen darauf, dass die Entwicklung von Produkten für die Zahnmedizin eine große Herausforderung darstelle, da die Reinigungsund Desinfektionsmittel äußerst effektiv und weitaus materialverträglicher sein müssen als in der Allgemeinmedizin. Würde man in der Zahnmedizin dieselben Mittel benutzen, mit denen in Krankenhäusern Operationsbestecke aus Edelmetall oder Titan desinfiziert und aufbereitet werden, würden die Instrumente, die in der Zahnmedizin verwendet werden, zum Teil zerstört. 210 Wirtschaft

 

 

 

Umzug von Villingen-Schwenningen nach St. Georgen-Peterzell In kürzester Zeit entwickelte sich das Unternehmen von der „Garagengründung“ zu einem mittelständischen Arbeitgeber regionaler Bedeutung, der auf eine dringende räumliche Expansion angewiesen war. Im Jahr 1995 gab ALPRO MEDICAL den Standort in VillingenSchwenningen auf und bezog einen Neubau in Peterzell an der Mooswiesenstraße. Bereits im Jahr 2000 wurde das Betriebsgebäude um weitere Produktionsund Lagerhallen erweitert. Hintergrund war die kontinuierlich steigende Nachfrage nach ALPRO-Produkten aus der ärztlichen Praxis im Inund Ausland. Ende 2006 löste ALPRO das Exportund Marketingbüro in Cuxhaven auf, konzentrierte den kompletten Geschäftsbetrieb von nun an in Peterzell. Damals fiel auch die Entscheidung, das Unternehmen von ALPRO Dental in ALPRO MEDICAL GMBH umzubenennen, um der Erweiterung der Geschäftsfelder über den mit großem Erfolg aufgebauten Dentalbereich hinaus entsprechend Rechnung zu tragen. Seit 2007 wurden auch Export, Marketing und Vertrieb im Schwarzwald abgewickelt. Den Platz dafür schuf man mit dem Bau eines Vertriebszentrums. Der Neubau gliedert sich in vier Pavillons, darunter ein Showroom für Präsentationen. Bei diesem Neubau legte man bei ALPRO MEDICAL besonderen Wert auf eine ökologisch sinnvolle Bauweise. Die Fenster bekamen eine Dreifachverglasung, die Gebäude eine komplette Wärmedämmung, die Fußbodenheizung wird durch Erdwärme gespeist und auf dem Flachdach erzeugen Solarzellen den Strom für die Erdwärmepumpe. Corona bringt besondere Herausforderungen Wie für viele Unternehmen entwickelte sich auch für ALPRO MEDICAL das Jahr 2020 durch das Coronavirus zu einem Jahr der besonderen Herausforderungen. Durch den explodierenden Bedarf an Desinfektionsmitteln standen schlagartig Produkte im Fokus, mit denen ALPRO das Portfolio bislang abgerundet hatte. „Mittel zur Desinfektion der Hände hatten wir schon immer ALPRO MEDICAL GMBH 211

 

 

 

im Portfolio – und plötzlich katapultierte sie die Pandemie in die Liga der Kernprodukte“, so die Geschäftsführer Alfred Hogeback und Markus Klumpp. Auch die Nachfrage nach Mitteln zur Flächendesinfektion schnellte in die Höhe. Um den Bedarf decken zu können, rekrutierte man im Frühjahr 2020 etliche Aushilfskräfte und stellte fünf neue Mitarbeiter ein. Außerdem wurden Abfüllanlagen so umgebaut, dass sie auch für das Abfüllen von Handdesinfektionsmitteln geeignet waren. Darunter litt allerdings die Herstellung anderer Produkte. Geschäftsführer Markus Klumpp: „Das Ganze tat zwar dem Umsatz gut, aber durch die exorbitant gestiegenen Rohstoffpreise wurde die Gewinnmarge geringer.“ Bohrerund Instrumentendesinfektion ein weiterer Schwerpunkt ALPRO MEDICAL beschäftigt aktuell 90 Mitarbeiter, unter ihnen zwölf Angestellte im Außendienst allein in Deutschland. Das in der Forschung und Entwicklung von hochwertigen Einblick in die Produktion. Das Mischen und Abfüllen der Reinigungsund Desinfektionsmittel nimmt breiten Raum ein. Auch die Nachfrage nach Mitteln zur Flächendesinfektion schnellte in die Höhe. Um den Bedarf decken zu können, rekrutierte man im Frühjahr 2020 etliche Aushilfskräfte und stellte fünf neue Mitarbeiter ein. und umweltfreundlichen Produkten im Bereich der Infektionskontrolle weltweit führende Unternehmen verfügt über ein Portfolio mit Dutzenden von innovativen Lösungen. Ein Schwerpunkt ist ebenso die Instrumentenund Bohrerdesinfektion. ALPRO entwickelte ein System zur Außenund Innenreinigung sowie Desinfektion von Handund Winkelstücken inklusive der Kühlwasserwege und der mechanischen Getriebeteile, das mit großem Erfolg am Markt platziert werden konnte. Das ALPRO-Sortiment umfasst ingesamt die Bereiche Händereinigung, -desinfektion und -pflege, Oberflächenreinigung und -desinfektion, manuelle Instrumentenreinigung und -desinfektion sowie Produkte zur maschinellen Aufbereitung der Instrumente, Absauganlagenreinigung, Desinfektion, Abdruckdesinfektion, aber auch Produkte zur Betriebswasserentkeimung. 212 Wirtschaft

 

 

 

Beispiele für die Anwendung der ALPRO-Produkte. Oben: Produkt zur Betriebswasserent keimung. Unten: Maschinelle Aufbereitung von medizinischen Instrumenten. Betriebswasser im Fokus – Räumliche Erweiterungen geplant Die Aussichten für die weitere Entwicklung sind glänzend: Alfred Hogeback und Markus Klumpp streben einen Umsatz von 16 Millionen Euro an. Großes Potenzial sehen die Geschäftsführer von ALPRO MEDICAL für den Bereich der Betriebswasseraufbereitung medizinischer Geräte. „Nur zwei Prozent des Wassers auf der Erde sind Trinkwasser und das meiste davon befindet sich im Eis der Polkappen.“ Trinkwasser ist somit knapp und muss weltweit immer aufwändiger aufbereitet werden. Schon jetzt tragen die vom Peterzeller Unternehmen speziell entwickelten Produkte zur Wasserentkeimung in medizinischen Geräten weltweit dazu bei, dass (z.B. bei Zahnbehandlungen) dem Arzt immer einwandfreies Behandlungswasser bei der Arbeit am Patienten zur Verfügung steht. Durch ein 7.000 Quadratmeter großes Nachbargrundstück steht an der Mooswiesenstraße in Peterzell einer erneuten räumlichen Erweiterung nichts im Wege. In zwei bis drei Jahren soll gebaut werden. Aktuell steht die Baufreigabe zur Erweiterung des Verwaltungsgebäudes an. Hier wird Platz für ca. 30 weitere Mitarbeiter geschaffen. Sicher. Sauber. ALPRO – der in Peterzell angesiedelte Spezialist für Reinigungsund Desinfektionslösungen bleibt dank seiner Innovationsfreude und hohen Produktqualität auf weltweitem Expansionskurs. ALPRO MEDICAL GMBH 213

 

 

 

Mit einem Rübenernter fing alles an Der Maschinenring Schwarzwald-Baar hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einem Erfolgs modell entwickelt – Gründerväter mussten viel Überzeugungsarbeit leisten von Roland Sprich 214 214 Wirtschaft

 

 

 

Das Team des Maschinenrings Schwarzwald-Baar im Jubiläumsjahr. 215

 

 

 

In der modernen Landwirtschaft erleichtern heute eine Vielzahl hoch technischer Maschinen die schwere und anspruchsvolle Arbeit der Bauern im Stall und auf den Feldern. Doch viele Maschinen werden lediglich saisonal benötigt und sind somit nur wenige Tage im Jahr wirklich im Einsatz, so dass die Investition in einen kompletten Maschinenpark nicht für jeden Landwirt rentabel ist. Hier greift die Ursprungsidee des Maschinenrings Schwarzwald-Baar. diese über die Geschäftsstelle oder über ein Onlineportal direkt buchen. Der Maschinenring fungiert dabei als eine Art Makler, der darauf achtet, dass die Spielregeln zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer eingehalten werden. Ein Blick in die Chronik: An einem Freitag, den 13., nämlich am 13. Februar 1970, wurde der Maschinenring in Mönchweiler gegründet. Damals hieß er noch „Maschinenring Villingen & Umgebung.“ Als „Vater“ des Maschinenrings Villingen gilt Oberlandwirtschaftsrat Hans Rösch, damals stellvertretender Leiter des Landwirtschaftsamtes. Die Von der Ackerwalze bis zum Mähdrescher Vor genau 50 Jahren wurde der Zusammenschluss von Landwirten mit dem Gedanken gegründet, sich gegenseitig landwirtschaftliche Maschinen und Arbeitskapazitäten zur Verfügung zu stellen. Seither hat sich der Maschinenring zu einem modernen und breit aufgestellten Dienstleistungsunternehmen mit zahlreichen Geschäftszweigen rund um die Agrarwirtschaft entwickelt. Von der Ackerwalze übers Güllefass bis zum Leihtraktor und vom Pflug über Mulcher bis zum Mähdrescher. Insgesamt umfasst der Mietpark des Maschinenrings Dutzende von Fahrzeugen, Maschinen und Geräten. Im Internet oder per SmartphoneApp können die Mitglieder freie Kapazitäten der benötigten Maschinen einfach einsehen und Idee stieß – wie bei vielem, was neu ist – zunächst nicht auf offene Ohren. Rösch musste gemeinsam mit einigen wenigen Mitstreitern die Bauern von der Idee einer Selbsthilfeorganisation für die Landwirte in der Region erst überzeugen und anfangs „dicke Bretter bohren, um den Landwirten die Vorteile aufzuzeigen“, wie Rainer Hall sagt, Geschäftsführer im Jubiläumsjahr. Er muss es wissen, schließlich war sein Vater Klaus Hall, einer der ersten Mitglieder und von Anfang an Befürworter dieser Initiative. Doch dann erkannten die Landwirte die Vorteile und der Maschinenring wuchs schnell. Bereits im Gründungsjahr hatte der neue Verein 60 Mitglieder. Das erste überbetriebliche Engagement war der Einsatz eines Rübenvoll ernters, der bei zahlreichen Betrieben im Kreis eingesetzt wurde. Hans Rösch (links) gilt als Vater des Maschinenrings Schwarzwald-Baar. Rechts daneben der langjährige Geschäftsführer Klaus Hall. Foto rechts: Maisernte in den Anfangsjahren des Maschinenrings. 216 Wirtschaft

 

 

 

Die heutige Geschäftsstelle im Gewerbegebiet in Donaueschingen. Die erste Geschäftsstelle befand sich im Wohnzimmer von Geschäftsführer Klaus Hall. Einzugsgebiet von Schonach bis an die Schweizer Grenze Mit der Kreisreform 1972 wurde das Gebiet des Maschinenrings auf den gesamten Schwarzwald-Baar-Kreis ausgedehnt. 1986 wurde das Gebiet um den Bereich Titisee-Neustadt/Hochschwarzwald erweitert. Heute reicht das Einzugsgebiet von Schonach bis an die Schweizer Grenze und von Blumberg bis an den Feldberg. Rainer Hall ist seit 2006 Geschäftsführer der Maschinenring GmbH und seit 2009 auch Geschäftsführer des Maschinenrings e.V. Er ist quasi mit dem Maschinenring aufgewachsen. Sein Vater Klaus Hall wurde von Hans Rösch 1974 zum Geschäftsführer bestellt. Formuliertes Ziel war die Bildung einer Geschäftsstelle, um die Organisation und Koordination innerhalb des Maschinenrings zu optimieren. Die erste Geschäftsstelle war im Hall’schen Wohnzimmer in Donaueschingen-Aasen. Seit 1999 sind alle Maschinenringdienstleistungen in der GeDas Geschäftsgebiet des Maschinenrings Schwarzwald-Baar. Maschinenring Schwarzwald-Baar schäftsstelle in der Raiffeisenstraße im Donaueschinger Gewerbegebiet vereint. Wenngleich Rainer Hall sowohl der GmbH als auch dem Verein vorsteht, so betont er, dass der Maschinenring keineswegs eine Ein-Mann217

 

 

 

Der Maschinenring ist auch Produzent von Rapsöl, das als BaarGold vertrieben wird. Show ist. „Ohne das großartige Team an hauptund ehrenamtlichen Mitstreitern könnten wir unsere vielfältigen Aufgaben nicht leisten“, so Hall. Er nennt insbesondere Klaus Grieshaber, der seit 2006 Vorsitzender des Vereins ist. Ohne das großartige Team an hauptund ehrenamtlichen Mitstreitern könnten wir unsere vielfältigen Aufgaben nicht leisten. Entwicklung zum vielschichtigen Dienstleistungsunternehmen In den vergangenen 50 Jahren hat sich der Maschinenring zu einem vielschichtigen Dienstleistungsunternehmen entwickelt. Er betreibt in VS-Villingen und in Hüfingen zwei kreiseigene Kompostanlagen zur Herstellung und Vermarktung von zertifiziertem Schwarzwald-Baar-Kompost, betreut mit wenigen Ausnahmen die Wertstoffhöfe im Landkreis und produziert mit BaarGold eigenes Rapsöl. Darüber hinaus unterstützen die Mitarbeiter die Landwirte bei der Bewältigung des bürokratischen „Wuschtes“, der im Agrarbereich immer mehr wird. „Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal so viel Büroarbeit für die Landwirte machen“, sagt Rainer Hall. Und zählt auf, mit welchen bürokratischen Hürden die Landwirte zu kämpfen haben, die einen nicht unerheblichen Teil ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich der Produktion von Nahrungsmitteln, in Anspruch nehmen. „Düngeverordnung, Nährstoffvergleich, Stoffstrombilanz oder der unter der Bezeichnung FIONA zusammengefasste gemeinsame Flächeninformationsund Online-Antrag, um nur einige Stichpunkte zu nennen.“ Was Hall bedauert ist der Umstand, dass das Thema Überdüngung pauschal behandelt und nicht nach Regionen unterschieden wird. „Wir haben im Schwarzwald-Baar-Kreis keine Probleme mit Nitrat im Grundwasser.“ Man müsse im Gegenteil sogar aufpassen, dass bei einem weiteren Rückgang der Viehbetriebe sich keine Gülleunterversorgung einstellt. „Und ohne organischen Dünger funktioniert nun mal 218 Wirtschaft

 

 

 

Eines der vom Maschinenring beschafften Fahrzeuge, ein Güllefass mit Schleppschuh, zur bodennahen Gülleausbringung. keine Landwirtschaft.“ Deshalb vermittelt der Maschinenring auch Gülle zwischen Betrieben in der Region. Übernahme des MüllbehälterÄnderungsdienstes Eine weitere Säule des Geschäftsbetriebs kam 2019 mit der Übernahme des Müllbehälter-Änderungsdienstes im Schwarzwald-Baar-Kreis hinzu. Diese unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Geschäftsbereiche, zu denen sich beispielsweise noch Winterdienst, Lkw-Transporte und Tankstellenbetrieb gesellen, sichern die Finanzierung des Maschinenrings, zusammen mit den Mitgliedsbeiträgen, die mit 80 Euro pro Mitglied und Jahr recht fair ausfallen, Wer einmal eine der Dienstleistungen in Anspruch nimmt, für den hat sich der Jahresbeitrag bereits gelohnt. wie Hall sagt. „Wer einmal eine der Dienstleistungen in Anspruch nimmt, für den hat sich der Jahresbeitrag bereits gelohnt“, so Hall. Eine der stabilen und wichtigen Säulen, die der Maschinenring bereits 1974 ins Leben rief, ist der Betriebshilfsdienst. Hier sorgen erfahrene Helfer dafür, dass der Arbeitsalltag auf dem Hof weiterläuft, wenn der Landwirt als Hauptarbeitskraft aufgrund von Krankheit oder durch einen Unfall ausfällt. Kernaufgabe ist aber nach wie vor die überbetriebliche Vermittlung von Maschinen und Arbeitskapazitäten für die Landwirte. 2019 wurden knapp 1.100 solcher Buchungen getätigt. Ein Fünftel davon über das Onlineportal, der Rest über die Geschäftsstelle. Hall schätzt, „dass 95 Prozent aller Landwirte im Einzugsgebiet, die auch aktiv Landwirtschaft betreiben, Mitglied im Maschinenring sind und die Dienste mehr oder weniger intensiv in Anspruch nehmen.“ Ausrichter des Agrartags Seit 2017 richtet der Maschinenring gemeinsam mit dem örtlichen BLHV in den Donauhallen in Maschinenring Schwarzwald-Baar 219

 

 

 

nur 20 oder 30 Hektar, die durchaus gewünscht und für eine unterschiedliche Agrarbewirtschaftung notwendig sind, Zugriff auf neue Techniken durch Miete spezieller Maschinen oder der kompletten Dienstleistung haben, können diese auch weiterhin und ohne große Investitionen bestehen. Hall weiß, wovon er spricht, er betreibt selbst einen Betrieb mit 35 Hektar Grünland. Eigene Maschinen im Angebot Zwar vermittelt der Maschinenring in erster Linie Maschinen und Geräte zwischen Landwirten, doch mittlerweile hält der Verein auch eigene Maschinen vor. „Wir kaufen dann selber Geräte, wenn wir sehen, dass zwar ein gewisser Mietbedarf da ist, aber keiner der Landwirte diese Maschinen, beziehungsweise nicht in ausreichender Menge oder Größe anbieten kann.“ Dies ist aktuell im Bereich der bodennahen Gülleausbringung der Fall. „Ein Klassiker ist auch der Miststreuer. Den braucht ein Landwirt lediglich zwei bis drei Mal im Jahr, weshalb sich eine Anschaffung für die meisten Landwirte nicht lohnt.“ Nicht alles, was der Maschinenring in den vergangenen 50 Jahren anpackte, war von Erfolg gekrönt. Rainer Hall erinnert sich insbesondere an einen Flop. „Vor rund 30 Jahren haben einige Landwirte im Rahmen des Maschinenrings die ‚Agrarfrisch‘ gegründet, mit dem Ziel, regionale Produkte zu vertreiben.“ Dazu mieteten die Landwirte ein altes Schlachthaus in Oberbaldingen und fuhren Bestellungen mit einem kleinen Kühltransporter aus. Was heute als regionale Direktvermarktung ein Erfolgskonzept ist, funktionierte damals noch nicht. „Die Idee war megainnovativ, aber die Verbraucher waren damals noch nicht so weit.“ Maschinenring Schwarzwald-Baar ist für die Zukunft gut aufgestellt Mitglied im Maschinenring Schwarzwald-Baar zu werden, bedeutet für die Mitglieder auch, Teil einer großen Familie zu sein. „Bei uns geht es nicht anonym zu, sondern es gibt auch zahlSeit 2017 richtet der Maschinenring gemeinsam mit dem örtlichen BLHV in den Donauhallen in Donaueschingen jährlich einen Agrartag aus. Donaueschingen jährlich einen Agrartag aus, mit hochwertigen Fachvorträgen und einer Landwirtschafts-Messe. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens gratulierte in diesem Jahr auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der zur Situation und Zukunft der Landwirtschaft im Ländle sprach. Dass die Mitgliederzahl in den vergangenen Jahren sukzessive zurückging, vom absoluten Höchststand von 877 im Jahr 1995 auf 760 im Jahr 2020, liegt „schlicht daran, dass es immer weniger Landwirtschaftsbetriebe gibt“, wie Rainer Hall sagt, der einen weiteren Rückgang für die kommenden Jahre prognostiziert. „Innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre wird es nochmal gehörig rappeln, wenn die Zahl der Betriebe auch demografisch bedingt um bis zu 20 Prozent zurückgeht.“ Mit der Vermittlung freier Kapazitäten von landwirtschaftlichen Maschinen, sieht Rainer Hall auch einen aktiven Beitrag zur Verlangsamung des Strukturwandels. „Wenn der Landwirt Maschinen kauft, blockiert er Kapital, das ihm wiederum für die Weiterentwicklung seines Betriebes fehlt, beispielsweise um einen neuen Stall zu bauen oder eine Photovoltaikanlage aufs Dach zu setzen“, macht Rainer Hall deutlich. Dadurch, dass auch kleinere Betriebe mit 220 Wirtschaft

 

 

 

Die überbetriebliche Vermietung von Arbeitsmaschinen und Arbeitskraft ist nach wie vor die Kernaufgabe des Maschinenrings. Hier ein Mähdrescher bei der Kornernte. reiche persönliche Beziehungen.“ Dass auch von Seiten der Mitglieder die Wertschätzung da ist, spürten Vorstand, Geschäftsführung und Mitarbeiter, als im Januar das 50-jährige Bestehen des Maschinenrings mit einem großen Festakt in den Donauhallen in Donaueschingen groß gefeiert wurde. „Von den 450 Gästen waren sicherlich 350 Mitglieder anwesend. Das war schon ein Ritterschlag für uns“, so Rainer Hall. Der Maschinenring Schwarzwald-Baar ist einer von 30 Maschinenringen in Baden-Württemberg und einer der ältesten. Jeder davon hat seine eigenen Schwerpunkte und beispielsweise aufgrund von klimatischen oder topografischen Gegebenheiten andere Problemstellungen zu bewältigen. Für die Zukunft sieht sich der Maschinenring Schwarzwald-Baar gut aufgestellt. „Eines unVon den 450 Gästen waren sicherlich 350 Mitglieder anwesend. Das war schon ein Ritterschlag für uns. serer neuesten Produkte ist ein Biodünger aus Separationsmaterial.“ Verarbeitet hierzu wird ausschließlich Material der regionalen landwirtschaftlichen Betriebe. Dazu wird die Gülle ausgepresst, der Feststoff wird abgetütet und an Endkunden verkauft. Außerdem werden die chemiefreie Unkrautbekämpfung mit Heißwasserdampf und andere Kleinthemen den Maschinenring in den nächsten Jahren beschäftigen. Auch nach mehr als 50 Jahren ist er nach wie vor immer am Zeitgeist orientiert. Maschinenring Schwarzwald-Baar 221

 

 

 

Nastrovje Potsdam – Das Kultlabel aus dem Schwarzwald „Villingen meets Fashion“ – Nastrovje Potsdam ist das Kultlabel aus dem Schwarzwald schlechthin. Was aus Spontanität und der Liebe zur Musik heraus entstanden ist, wurde schnell zu einer Geschäftsidee, aus der sich in über 30 Jahren ein erfolgreiches Unternehmen entwickelt hat. Heute ist Nastrovje Potsdam ein Modeunternehmen, das sich über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht hat. von Simone Neß 222 222 Wirtschaft

 

 

 

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Im Jahr 1986 eröffneten Frank „Sutz“ Schilling und Joachim „Töni“ Schifer einen Plattenladen in der Sturmbühlstraße in Schwenningen. Etwas später schloss sich ihnen Volker „Fritz“ Wursthorn an. Die Spitznamen tragen die Gründer von Nastrovje Potsdam noch heute, auch wenn keiner von ihnen mehr so recht weiß, wie sie entstanden sind. Das Musikgeschäft trug schon damals den Namen „Nastrovje Potsdam“. Dabei ist Nastrovje („Na sdorówje!“) ein viel gebrauchter russischer Trinkspruch. Der Zusammenhang mit „Potsdam“ ist als Wortspiel auf dem Weg nach Berlin entstanden, erzählt Geschäftsführer Frank Schilling mit einem Lächeln, wenn er an die Gründerjahre zurückdenkt. In Schwenningen verkauften die drei jungen Männer Schallplatten, organisierten nebenbei Partys und Punk-Konzerte und standen dadurch mit zahlreichen Bands in engem Kontakt. Was den Bands meistens fehlte, waren T-Shirts mit einem persönlichen Aufdruck. „So sind wir zu den Textilien gekommen“, erklärt Schilling. Von Hand bedruckten sie T-Shirts für die Bands, deren Konzerte sie organisierten. „Auf den ganzen Schallplatten im Laden lagen T-Shirts über die Nacht zum Trocknen“, erinnert sich Frank Schilling zurück. Was damals in einem Hinterzimmer eines Schallplattenladens gestartet wurde, prägt heute ein Stück weit die Modewelt mit. Von der Textildruckerei zum Modeunternehmen Über die Jahre hinweg bedruckte das Trio unter anderem T-Shirts für Westernhagen, Die Ärzte oder gar Bad Religion. So wurde Nastrovje Potsdam immer vertrauter mit den textilen Produkten und knüpfte in der Branche Kontakte nach Berlin. Was mit einer Textildruckerei begann, wuchs stetig zu einem ModeunternehDer Plattenladen in der Sturmbühlstraße in Schwenningen. men heran. Im Jahr 1997 lancierte Nastrovje Potsdam die Marke Vive Maria, drei Jahre später folgte das Modelabel Pussy Deluxe. Gleichzeitig blieben sie ihrer ursprünglichen Geschäftsidee treu und verkauften weiterhin MerchandisingProdukte unter dem Namen „NP Fashion“. Doch was machen die Marken des Schwarzwälder Modeunternehmens aus? Vive Maria ist 1997 eher holprig gestartet, nahezu skandalös. Als die Modemarke auf den Markt kam, galt Vive Maria zunächst als reines Lingerie-Label, das sich häufig religiöser Motive bediente. Nicht selten waren Poesiebilder, jedoch auch Motive der Jungfrau Maria oder von Jesus auf der Unterwäsche abgebildet. Aufgrund des provokanten Auftretens war die Modemarke starker Kritik ausgesetzt. Die Meinungen über die Produkte gingen enorm auseinander. Frank Schilling ist sich im Rückblick auf diese Zeit sicher, dass die damalige Kritik für Nastrovje Potsdam gut war: Alle haben dank der Kontroversen über Vive Maria gesprochen, was das Modelabel hochpushte. Links: Katalog von Nastrovje Potsdam von 1997. Rechts: Die Gründer Joachim „Töni“ Schifer (von links), Volker „Fritz“ Wursthorn und Frank „Sutz“ Schilling im Bürogebäude in der Niederwiesenstraße in Villingen. 224 Wirtschaft

 

 

 

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Almost Innocent und Mis(s)behave… der unverwechselbar feminine Stil von Vive Maria wurde sogar in zwei Düften eingefangen. Nicht nur Mode steht bei Nastrovje Potsdam auf dem Programm. „Textilgewordene Delikatessen und erotische Köstlichkeiten“ Heute ist Vive Maria weniger plakativ. „Es ist ein Kunststück den richtigen Nerv zu treffen“, kommentiert Frank Schilling die Entwicklungen in der Modewelt. Über die Jahre hinweg hat sich Vive Maria eine treue Fangemeinde in jeglichen Altersklassen aufgebaut. Nastrovje Potsdam verkauft die Produkte als „Textilgewordene Delikatessen und erotische Köstlichkeiten“. Kopf hinter der ausgefallenen Wäsche und Kleidung ist die Berliner Designerin Simone Franze, die zusammen mit Nastrovje Potsdam die Modeträume „anspruchsvoller und stilsicherer Frauen“ erfüllen möchte. Ihre kreativen Ideen entstehen in einem Atelier in der Hauptstadt. Bei ihrer Arbeit greift sie auf unterschiedliche Stoffe von Modal über Viskose bis zu zarter Spitze zurück. Verspielte Rüschen und süße Schleifchen verleihen den Vive Maria-Kollektionen einen außergewöhnlichen Charme. 226 Es ist ein Kunststück den richtigen Nerv zu treffen. Das Modelabel Pussy Deluxe hingegen ist jünger, greller, bunter und deutlich lauter. Es präsentiert bunte Rockabilly-Styles und ist von den 1950erund 1960er-Jahren inspiriert. Die Schnitte sind frech, die Prints bunt. „Früher war es mal größer aufgestellt“, erklärt Frank Schilling. Da viele verbreitete Modeketten, die sich ebenfalls auf eine recht junge Zielgruppe fokussieren, ihre Produkte zu Preisen anbieten, bei denen Nastrovje Potsdam als eher mittelständisches Unternehmen schwer mithalten Aus der aktuellen Vive Maria Herbst & Winter Kollektion. Wirtschaft

 

 

 

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Um im harten Wettbewerb bestehen zu können, stellt sich Nastrovje Potsdam stets noch kultiger und nischiger auf, was u.a. die Titelbilder früherer Katalogproduktionen widerspiegeln. kann, geriet man ins Hintertreffen. Durch den enormen Preiskampf musste sich das Schwarzwälder Modeunternehmen noch spezieller und nischiger aufstellen. Kreativer Kopf des Modelabels Pussy Deluxe ist das eigene Designteam in VS-Villingen. Es herrscht eine unglaubliche Aufbruchstimmung. Nastrovje Potsdam hat mittlerweile auch Kindermode ins Sortiment aufgenommen. Den Wandel im Blick Mit „NP Fashion“ hat Nastrovje Potsdam in einer Modenische Fuß gefasst: Auch wenn Merchandise immer mehr zum heiß umkämpften Trend wurde, kann sich das Unternehmen aus dem Schwarzwald in diesem Segment weiterhin behaupten. Das Unternehmen verfügt über zahlreiche Lizenzen, darunter ein 16-jähriger Lizenzvertrag mit Walt Disney, wodurch das Schwarzwälder Modelabel über Motive von Star Wars und Marvel bis hin zur Mickey Mouse verfügt. Seinen Lauf nahm NP Fashion allerdings mit Klassikern wie Disney‘s Nightmare before Christmas oder The Muppets. Mittlerweile sind Lizenzen von zahlreichen Fernsehserien wie Breaking Bad, Vikings oder Outlander hinzugekommen. Eine spezielle Altersgruppe will Nastrovje Potsdam mit seiner Mode nicht ansprechen. Das Unternehmen versucht zeitgemäß zu bleiben und hat mittlerweile auch Kindermode in das Sortiment aufgenommen. „Es herrscht eine unglaubliche Aufbruchstimmung“, so Geschäftsführer Frank Schilling. Das Unternehmen habe den Wandel im Blick und zeigte sich offen für neue Sphären. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Firma stark verändert. Frank Schilling und Volker Wursthorn sind mittlerweile gemeinsam Geschäftsführer. Joachim Schifer zog es eine Zeit lang nach Berlin zurück, um dort in der Musikszene tätig zu sein. Mittlerweile ist er wieder Teil des Teams im Schwarzwald und bringt sich im Bereich Design ein. Aufwendig sind bei Nastrovje Potsdam die Shootings, denn die ausgefallene Kollektion muss entsprechend präsentiert werden. Rechts zwei Aufnahmen zur Pussy Deluxe Kollektion. 228 Wirtschaft

 

 

 

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Stark hat sich Nastrovje Potsdam in der Sparte Merchandising positioniert. Neben Star-Wars-Kleidung sorgt u.a. „The Nightmare before Christmas“ für geschäftlichen Erfolg. Vertrieb überwiegend im Onlinehandel Lange produzierte Nastrovje Potsdam die Kleidung in einer Textildruckerei in der Alleenstraße in Schwenningen. 2008 ist das Unternehmen in die Niederwiesenstraße in Villingen umgezogen und vermietet hier einen Teil der Räumlichkeiten im Gebäude auch an andere Unternehmen. Zu Bestzeiten waren in Schwenningen fast 100 Mitarbeiter angestellt, heute sind es etwa 20. Denn produziert wird mittlerweile überwiegend in der Türkei. Darüber hinaus wurde auch die Logistik ausgelagert. Das Team in Villingen kümmert sich um Design, Marketing und Vertrieb, koordiniert die Zusammenarbeit mit Online-Plattformen wie Zalando, Amazon und Otto und mit wichtigen Einzelhändlern wie Elbenwald und EMP. In Villingen entstehen auch zahlreiche Fotos, mit denen die Mode beworben wird, doch den wesentlichen Teil der Shootings übernimmt die Fotografin Edith Held in ihrem Studio in Berlin. Einen Wandel gab es aber auch im vertrieblichen Bereich. Der Outlet-Shop im Erdgeschoss des Bürogebäudes in der Niederwiesenstraße wurde im Mai 2020 geschlossen. Denn von dem Konzept eines festen Ladens ist Nastrovje Potsdam abgekommen. In Zukunft soll die Mode aus dem Schwarzwald überwiegend im Onlinehandel, sowohl im eigenen Shop als auch auf zahlreichen anderen Plattformen verkauft werden. Möglich seien aber ebenso Pop-Up-Stores oder gelegentliche Events, auf denen die Mode gekauft werden kann. Ohne Webshop ist Nastrovje Potsdam undenkbar. Vom Konzept eines festen Ladens ist das Modeunternehmen abgekommen. 230 Wirtschaft

 

 

 

Das Hauptquartier von Nastrovje Potsdam befindet sich in der Niederwiesenstraße in VS-Villingen. Großformatige Poster an den Außenwänden signalisieren, dass hier junge, kultige Mode beheimatet ist. Zukunftspläne und Visionen Und wie gelingt es einem solchen Modelabel am Standort Villingen-Schwenningen derartig erfolgreich zu sein? „Hier muss man mobil sein“, erklärt Schilling. Der Großstädter hat sich auf seinen Standort festgefahren, doch in Villingen-Schwenningen sei das nicht möglich. Man müsse immer in Verbindung bleiben. Und auch der Name habe die Firma zumindest ein Stück weit aus der Provinz herausgebracht. „Viele dachten, wir sitzen in Potsdam“, sagt Frank Schilling und lacht. Letztendlich setzt das Unternehmen allerdings auf den Onlineund nicht den Einzelhandel, der im Wesentlichen unabhängig vom Standort ist. Für die Zukunft hat das Schwarzwälder Modeunternehmen noch einiges geplant. „Wir wollen die Digitalisierung vorantreiben“, erklärt Schilling. Außerdem soll Nastrovje Potsdam auf mehr Plattformen vertreten sein und die Mode in weitere Länder geliefert werden. Das Unternehmen will sich weiterverbreiten und am Online-Shop arbeiten. Die Retouren sollen geringer gehalten und die Firma für eine jüngere Generation vorbereitet werden. Vielleicht werde man auch den Digitaldruck stärker einsetzen, der ein großes Potenzial besitzt. An Visionen mangelt es Frank Schilling und seinen Kollegen auf jeden Fall nicht. Auch die Aufnahme neuer Marken in das Sortiment möchte er nicht ausschließen. Man sei froh über Impulse von außen und neue Designer, die außergewöhnliche Ideen haben. Die entscheidende Frage, die das Unternehmen Tag für Tag begleite, sei: Was ist gerade in und was nicht? „Es wandelt sich so viel“, blickt Frank Schilling auf den Modemarkt. Genau das mache die Arbeit so spannend. Man müsse mit den Trends mitziehen und dennoch etwas Eigenes kreieren. Kritik und Rückschläge gehören zum Business nun mal dazu. Auch Nastrovje Potsdam musste sich damit auseinandersetzen. Doch heute ist das Kultlabel aus dem Schwarzwald in aller Munde, arbeitet mit Designern aus der Hauptstadt zusammen und verfügt über Lizenzen der größten Medienunternehmen der Welt. Nastrovje Potsdam hat sich einen Namen gemacht und ist von einem kleinen Plattenladen in der Sturmbühlstraße in Schwenningen zu einem Modeunternehmen mit einer enormen Reichweite herangewachsen. Nichtsdestotrotz hat die Firma dabei die familiäre Atmosphäre nicht aus den Augen verloren. Am Ende bleibt nur eins zu sagen: „Nastrovje!“ Nastrovje Potsdam 231

 

 

 

„Wasser des Lebens“ Die Brennerei Mack stellt im Kilpental edlen Whisky und feinherben Gin her Sebastian Mack prüft Farbe und Geschmack des eingelagerten Whiskys. 232 232 Wirtschaft

 

 

 

aus den Gütenbacher Highlands 233 Kilpen Gin und Kilpen Single Malt Whisky.

 

 

 

Wenn man an Whisky denkt, hat man augenblicklich Bilder der schottischen Highlands oder der „grünen Insel“ Irland im Kopf, wo eine raue Brise die salzige Luft vom Meer ins Land hinein trägt. Dabei entsteht das edle Destillat auch mitten im Schwarzwald. So beispielsweise im Kilpental, einem abgelegenen Seitental bei Gütenbach. Dort stellt die Brennerei Mack neben Obstbränden oder Gin auch ihren eigenen Schwarzwaldwhisky her, der sich durch besondere Qualität auszeichnet. Von Roland Sprich Bordeaux weinfässer abzufüllen, die ein befreundeter Winzer zur Verfügung stellte. „Dann hieß es warten“, schildert Sebastian Mack. Denn erst nach drei Jahren und einem Tag darf der so gelagerte Brand als Whisky bezeichnet werden. Wichtigste Zutat ist Geduld Heute bietet die Brennerei Mack zwei Whiskysorten an. „Wir machen einen fruchtigen Grain Whisky aus ungemälztem Getreide, der acht Jahre in gebrauchten Fässern lagert. Und einen Single Malt, der sein rauchiges Aroma von über Buchenholz getrocknetem, gemälztem Getreide erhält und zunächst sechs Jahre in neuen, unbenutzten Fässern heranreift, ehe er sein Finish im siebten Jahr in einem gebrauchten Whiskyfass aus Schottland erhält“, so Sebastian Mack. Anschließend wird der Whisky mit eigenem Quellwasser auf Trinkstärke gebracht. „Wir haben hier saures, praktisch kalkfreies Wasser, das sehr gut geeignet ist für die Herstellung“, verrät Sebastian Mack einen weiteren Mosaikstein bei der Herstellung übrigens aller Destillate aus dem Hause Mack. Eine weitere Spezialität aus dem Kilpental ist Gin, der mit Kräutern aus der Region hergestellt Oben: Der historische Kilpenhof, der im Jahr 2013 abgebrochen wurde. Unten: Hochprozentige Destillate der Brennerei Mack. Das Sortiment reicht von Obstbränden und Beerengeisten über Gin bis zum Whisky. Die Brennerei Mack auf dem Kilpen. „Wir brauchen Fässer!“ Mit dieser Erkenntnis kehrte Alexander Mack von einer Irlandreise im Jahr 2004 auf den Kilpenhof zurück, wo das Brennen von Obstbränden und -geisten eine mehr als 100-jährige Tradition hat. Bis dato konzentrierten sich die Macks darauf, das eigene Obst, vor allem Pflaumen, Kirschen und Himbeeren zu edlen Bränden und Geisten zu verarbeiten. Dass die Irlandreise von Alexander Mack das Sortiment eines Tages um Whisky ergänzen sollte, konnte damals niemand ahnen. Dabei haben die Macks bereits Mitte der 1980er-Jahre damit begonnen, neben Früchten auch Getreide, hauptsächlich Weizen, für einen Schwarzwälder Korn zu brennen. „Und von dort ist der Schritt zum Whisky eigentlich nicht mehr weit“, erklärt Sebastian Mack, der für die Brennerei zuständig ist. Und so begannen die Macks 2004, nach besagter Rückkehr von Alexander aus Irland, ihren Kornbrand in gebrauchte 234 Wirtschaft

 

 

 

Brennerei Mack 235

 

 

 

Dort, wo früher Schweine grunzten, ist heute die Destillerie untergebracht. Sebastian Mack verarbeitet auf dem Foto rechts unmittelbar neben dem Kilpenhof geerntete Vogelbeeren. wird. Im Gegensatz zu Whisky und Fruchtbränden, bei denen der Alkohol durch das Vergären der Maische entsteht, erhält beim Gin ein neutraler, aus Getreide gebrannter Alkohol sein Aroma durch zugesetzte Kräuter, so genannte Botanicals. Woraus genau diese bestehen, verrät Sebastian Mack nicht. „Es ist, neben Wacholderbeeren als Grundsubstanz, wilder Thymian dabei und Kerbel, der Rest ist ein Geheimnis“, gibt sich Mack verschlossen. Ein Kenner könne die einzelnen Zutaten aber durchaus heraus schmecken, ergänzt er augenzwinkernd. Der Gin wird in zwei Geschmacksrichtungen angesetzt. Einmal mit Zitronengras, was ihm eine exotische Note verleiht. Und ebenso mit Brombeeren, wodurch der Gin eine fruchtige Note erhält. Gesammelt werden die Kräuter übrigens auf den heimischen Wiesen. Davon gibt es im Kilpental mehr als genug. Zum Kilpenhof gehören 30 Hektar Grünland, die von den Macks extensiv bewirtschaftet werden. Von Frühjahr bis Herbst grast Pensionsvieh der benachbarten Landwirte auf den Weiden, auf denen auch die Obstbäume stehen. Eigene Tiere gibt es auf dem Kilpenhof nicht mehr. Früher hatte die Familie Mack Kühe und Schweine. Doch das ist lange her und war zuletzt kein rentables Geschäft, weshalb die Tierhaltung aufgegeben wurde. Destillerie im umgebauten Schweinestall Dort wo früher Schweine grunzten, ist heute die Destillerie untergebracht. Hier, in dem urig umgebauten Raum mit Mobiliar, das aus dem Holz des 2013 abgerissenen und anschließend neu aufgebauten Kilpenhof geschaffen wurde, lagern auch die Whiskyfässer – es liegt ein Hauch von „Angel Share“ in der Luft. Das ist der Duft des Alkohols, der sich im Laufe der Zeit aus den Fässern verflüchtigt und somit der „Anteil für die Engel“ wird. Und hier kommen die Kunden ihrem Whisky, Gin oder den anderen Bränden aus dem Hause Mack ganz nah. Denn hier können die Produkte auch probiert werden. „Eine Verkostung geht dem Verkauf eigentlich immer voraus“, beschreibt Sebastian Mack das Verkaufskonzept. Die Katze im Sack braucht hier niemand kaufen. Reine Schnapsproben mit 236 Wirtschaft

 

 

 

Sebastian Mack prüft während des Brennvorganges ein Destillat. „Wir brennen hauptsächlich unsere eigenen Früchte, beispielsweise Pflaumen, Kirschen, Äpfel und Birnen“, merkt er an. Eventcharakter gibt es allerdings nicht. Eine gewisse Ernsthaftigkeit sollte vorhanden sein. Wobei bereits die Anfahrt zum Kilpenhof durchaus ein Erlebnis ist, das man gratis zum Schnaps dazu bekommt. Denn das Kilpental und den gleichnamigen Hof findet man nicht zufällig. „Zu uns muss man schon wollen“, lacht Sebastian Mack. Ein guter Tipp: Wer die Brennerei mit dem Auto ansteuert, sollte sich in Abstinenz üben. Denn die schmale und kurvenreiche Strecke durch das Gütenbacher Hinterland hat durchaus ihre Tücken. Brennrecht dank Maria-Theresia Wie kommt die Familie Mack an das Privileg, hochprozentige Destillate herstellen zu dürfen? Das Schnapsbrennen unterliegt bekanntlich höchsten zollrechtlichen Bestimmungen. Dazu müssen wir das Rad der Zeit gut drei Jahrhunderte zurückdrehen, als das heutige südliche Baden-Württemberg zu Vorderösterreich gehörte. Maria-Theresia von Österreich, Fürstin aus dem Hause Habsburg (1717 bis 1780), Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen, erließ im 18. Jahrhundert eine Steuerreform zugunsten der „geschundenen Bauern“. Das „MariaTheresianische-Brennrecht“ erlaubte, dass „brave und rechtschaffene Bauern“ fortan jährlich drei Hektoliter reinen Alkohol erzeugen durften, um damit Schnaps herzustellen, durch dessen Verkauf sie ein zusätzliches Einkommen hatten. Dieses auch als „Drei-HektoliterBrennrecht“ bezeichnete Recht war an den jeweiligen Hof gebunden und gilt bis heute noch für zahlreiche Bauernhöfe, darunter auch für den Kilpenhof. Über die Edeldestillate Whisky und Gin sollen die gehaltvollen und regionaltypischen Obstbrände und Geiste nicht vergessen werden, die auf dem Kilpenhof seit mehr als hundert Jahren gebrannt werden. „Wir brennen hauptsächlich unsere eigenen Früchte, beispielsweise Pflaumen, Kirschen, Äpfel und Birnen.“ Dazu wurde der Baumbestand in den 1980er-Jahren ausgebaut. Auch Beerengeiste gehören ins Sortiment. „Am bekanntesten dürfte unser Brennerei Mack 237

 

 

 

Links: Die alte Destille der Brennerei Mack hat einen Ehrenplatz in den Verkaufsräumen. Oben: Whisky vom Kilpen Rechts: Sebastian Mack bei der Vogelbeerernte unmittelbar beim Kilpenhof. Wir wollen unserer Linie treu bleiben und setzen auf Qualität statt Quantität. wollen unserer Linie treu bleiben und setzen auf Qualität statt Quantität“, sagt Sebastian Mack. Da die Obsternte jedes Jahr unterschiedlich ausfällt, werden die Produkte in manchen Jahren zu echten Raritäten. Deswegen kann man die Brennerei Mack auch gerne als Manufaktur bezeichnen. 90 Prozent der Produktion werden direkt auf dem Hof verkauft. Der Rest wird auf ausgewählten Märkten in der Region offeriert. Derzeit feilen die Macks übrigens bereits an einer weiteren Spezialität. Ein Teil des produzierten Whiskys soll zunächst einige Jahre in gebrauchten Jack Daniels-Fässern heranreifen, „und anschließend noch weitere fünf Jahre in Panama-Rum-Fässern lagern“, verrät Sebastian Mack. Eine neue Idee, das „Wasser des Lebens“ aus dem Schwarzwald noch weiter zu verfeinern. Die Macks freuen sich schon heute darauf, das Ergebnis in einigen Jahren kosten zu dürfen. Waldhimbeergeist sein“, schätzt Sebastian Mack die Marktlage ein. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Brand und einem Geist? „Beim Brand wird im Gärvorgang aus der in der Maische vorhandene Zucker in Alkohol verwandelt und dann destilliert. Wenn Früchte wenig Zucker enthalten wie Himbeeren und Vogelbeeren, lohnt es sich nicht diese zu vermaischen. Dann werden die Früchte in 96-prozentigen Neutralalkohol eingelegt und dies wiederum destilliert. Dann spricht man von einem Geist“, erklärt der Fachmann. Bei der Herstellung der Destillate ist die gesamte Familie eingespannt. Wenn Erntezeit ist, helfen alle mit, um die Früchte von den Bäumen auf dem eigenen Gelände oder in den angrenzenden Wäldern zu ernten. Qualität geht vor Quantität Wenngleich sich die Familie Mack mit ihren Destillaten in den vergangenen Jahren einen guten Namen gemacht hat, so soll das Brennen ein Nebenerwerb bleiben und nicht über die 300 Liter Alkohol jährlich hinausgehen. „Wir 238 Brennerei Mack

 

 

 

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Stroh in der Hose und ein Brett auf dem Rücken ‒ bei der historischen Villinger Fastnacht sorgt die Wuescht-Gruppe seit langer Zeit für Furore. WUESCHTWUESCHTAm Schluss no kummet die Schönste…

 

 

 

241 WUESCHTWUESCHTAm Schluss no kummet die Schönste…

 

 

 

Es sind diese ganz besonderen ersten Momente: Aufstehen zu nachtschlafender Zeit, Häs anziehen, durch die fast menschenleere Innenstadt laufen, den Schopf betreten, die steilen Stufen nach oben und dann das vielstimmige „Wuescht”. Darauf habe ich mich ein ganzes Jahr lang gef reut. Die Fasnet geht los, endlich wieder. Zwei Tage, die anders sind als alle anderen. Zwei Tage, die mit schweren Beinen und müden Knochen unendlich lang sein können,die aber am Schluss immer zu kurz und zu schnell vorüber sind. von Dieter Wacker Was in diesen ersten Sätzen kryptisch klingt und bei dem geneigten Leser Fragezeichen produzieren dürfte, das ist letztendlich nichts anderes als eine kompakte Zustandsbeschreibung einer fastnachtlichen Leidenschaft: Wueschtlaufen in Villingen. Die Hauptrollen spielen dabei ein altes, abgewetztes, ausgebleichtes Narrenhäs mit vielen Nähund Flickstellen, eine angekratzte, mit Rissen durchzogene Scheme (Maske/Larve), ein schweres Holzbrett, ein Reisigbesen und jede Menge Stroh. Damit ist der Wuescht rein optisch schon mal ganz gut beschrieben. Eine Fastnachtsfigur, wie sie im schwäbisch-alemannischen Raum nur in der Narrenhochburg Villingen existiert und die ausschließlich zusammen mit Gleichgesinnten auftritt. Eine Figur, die für Außenstehende seltsam und zugleich lustig anmuten mag, die bei den vielen Liebhabern der historischen Villinger Fasnet aber absoluten Kultstatus genießt. „Wir sind die Elite der Villinger Fasnet“, sagt ein Wuescht auch gerne mal ganz uneitel und selbstbewusst über seine Gruppe. Kein Wunder, dichtete doch anno 1950 der damalige Zunftmeister der Oben: Wuescht-Vater Matthias Frey mit Bärenmaske. Rechts: Kleiner Wuescht mit Stroh-Grüßle. 242 7. Kapitel – Schwäbisch-Alemannische Fastnacht

 

 

 

Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste

 

 

 

Historischen Narrozunft, Franz Kornwachs, in seinem Villinger Schunkellied, das heute noch fast jedes Kind mitsingen kann: „Am Schluss no kummet die Schönste, hei dös isch e suberi Sach. De Wuescht mit sirä Grätze, jetzt guck au wie älles lacht.“ An Fastnachtsonntag geht es früh ins Bett, denn die Nacht wird kurz und die kommenden beiden Tage ganz schön hart. Gegen fünf Uhr am Montag – in Villingen „Fasnetmendig“ genannt, für viele Narren ein Tag, der ebenso wichtig wie der Heilige Abend ist – heißt es raus aus den Federn. Und sofort ist es da, dieses schier unbeschreibliche Kribbeln. Verliebte nennen so was wohl „Schmetterlinge im Bauch“. Ein richtiger Narr in Villingen kennt dieses Gefühl an „Fasnet mendig“, bevor es endlich wieder im Häs auf „die Gass“ geht. Draußen ist es noch stockfinster und ganz schön kalt. Auf dem Herd dampft schon die gebrannte Mehlsuppe, die bereits am Vortag aus Mehl, Fett, Fleischbrühe und Weißwein angerührt wurde. „Mehlsuppe muss sein”, hatten mir schon zu Beginn meines Wueschtlaufens vor Jahrzehnten die erfahrenen Hasen eingebläut. Denn: Sie sättigt, gibt Kraft und vor allem, ganz ganz wichtig: Sie stopft… Für einen Draußen ist es noch stockfinster und ganz schön kalt. Auf dem Herd dampft schon die gebrannte Mehlsuppe, die bereits am Vortag aus Mehl, Fett, Fleischbrühe und Weißwein angerührt wurde. Wuescht elementar, denn im Häs auf die Toilette zu müssen – eine Katastrophe. Also zum Frühstück ordentlich Mehlsuppe reinlöffeln und zur Einstimmung in den Tag: Eine leichte Weinschorle trinken. Die kann nie schaden. Das Gegenstück zum Narro Der Narro, eine imposante barocke Figur mit handbemaltem weißen Häs, handgeschnitzter glatter Scheme aus Lindenholz, Rollen (Glocken/ Schellen), die beim typischen Sprung lautstark erklingen, ist die unbestrittene Nummer eins unter den historischen Villinger Fasnetfiguren. Doch welch auffälliges Gegenstück zum Narro ist der Wuescht in seinem alten Häs! Die modischen Attribute des stolzen Narro, wie ein überdimensionierter gefalteter weißer Kragen, Foulard (Seidentuch) und Masche (bunte, geknotete Halsschleife aus Seide) sind dem Wuescht ab244

 

 

 

solut fremd. Seine Hose hat er prall ausgestopft mit Stroh, sodass er kaum mehr laufen kann und dadurch mit seinem ungewöhnlichen Gang bei den Zuschauern am Straßenrand für viel Trara und Gelächter sorgt. Richtig Stimmung kommt auf, wenn sich die ganze Truppe rennend in Bewegung setzt. Dann geht die Post ab, bei Akteuren und Zuschauern. Die ramponierte alte Narrooder Surhebelscheme (Surhebel ist eine individuell gestaltete Maske, manchmal etwas derber in der Ausprägung) nutzt der Wuescht nicht zur Vermummung, sondern hält sie lediglich seitlich vors Gesicht. Da die Gruppe beim Umzug der Historischen Narrozunft (der Verein hat fast 5.000 Mitglieder) am Montagmorgen traditionell das Schlusslicht bildet, rufen die Einheimischen voller Ironie oder Bewunderung, ganz im Geiste des bereits erwähnten Schunkelliedes: „Am Schluss no kummet diä Schönschte“. Auf den Rücken hat sich der Wuescht ein schweres, mit einer „Lumpendogge“ (zerlumpte Puppe) und allerlei anderem Krimskrams individuell geschmücktes Holzbrett, die „Krätze“, geschnallt. Auf das Brett werfen Kinder mit Schneebällen – oder mit heute eigens am Straßenrand bereit gestellten Tannenzapfen. Früher war es üblich, dass auch Steine flogen. Diesen derben Brauch gibt es aus Verletzungsgründen aber nicht mehr. Zugelassen ist das Bombardement auf die Bretter nur, solange der Wuescht seinen handgebundenen Reisigbesen, den er immer mit sich führt, nach oben hält. Einst durfte es auch ein flacher Kehrbesen sein. Wie der Wuescht sich kleidet… Es ist kurz nach 6 Uhr und Zeit das Häs anzuziehen. Ganz wichtig: Unter die Häshose kommt eine zweite stabile Hose (ich ziehe eine feste Jeans an), die mich vor spitzen und piksenden Strohhalmen schützen soll. Dass ich nach zwei Tagen Wueschtlaufen dennoch eine ganze Reihe von kleinen Wunden an den Beinen habe, das gehört einfach dazu. Die Häshose hat eine eigens eingenähte Innenhose, damit der eigentliche Hässtoff (aus Drill oder Leinen) nicht so schnell von den Strohhalmen durchstoßen wird. Obenrum sind es bei mir gleich mehrere Lagen luftund schweißdurchlässiger Kleidung. Drüber kommt noch ein „Stachihemd“, wie der blaue und bestickte Fuhrmannskittel in Villingen heißt. Die Hose wird mit einem kräftigen Bändel im Hüftbereich zugebunden und zusätzlich mit stabilen, breiten Hosenträgern gesichert, unten an den Beinen wird sie ganz fest auf die halbhohen, derben Schuhe gebunden. Erst jetzt kommt der Häskittel über die diversen Kleiderschichten. Schwitzen ist einkalkuliert, ist aber besser als frieren. 245

 

 

 

Mythen und Geheimnisse Um den Wuescht ranken sich Mythen und Geheimnisse. Woher kommt die Figur? Diente sie vielleicht einmal als Symbol der (heidnischen) Winteraustreibung? Der heutigen Definition der Fastnacht folgend, wonach deren Ausgangspunkt ganz in den christlichen Jahresverlauf eingegliedert ist, kann das Thema Winteraustreibung schnell zu den Akten gelegt werden. Der Name Wuescht bedeutet schlicht und einfach wüst. Hansjörg Fehrenbach, der langjährige Archivar der Villinger Narrozunft, hat verlässliche Fakten zum Wuescht zusammengetragen. So verweist Fehrenbach auf frühe Beiträge von Johann Nepomuk Schleicher, Gewerbeschullehrer und von 1851 bis 1854 erster Archivar der Stadt Villingen. In seinem Aufsatz „Die Fastnacht zu Villingen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts“ (gemeint ist damit die Zeit um 1750), veröffentlicht 1874 im Wochenund Verkündigungsblatt „Der Schwarzwälder“ (nicht mit der Tageszeitung Schwarzwälder Bote zu verwechseln) und später (1882-1887) auch im „Altertum-Repertorium“ von Ferdinand Förderer, berichtet Schleicher sehr konkret über den Wuescht oder „Wust“, wie er ihn nannte. Vieles war vor 270 Jahren an Fastnacht ähnlich wie heute, wenn es auch nur erwachsenen Männern erlaubt war, sich zu maskieren. Hauptfigur war damals bereits der Narro mit Häs, Scheme und Rollen. Auch Albert Fischer, von 1927 bis 1949 Zunftmeister der Historischen Narrozunft und intensiver Fastnachtsforscher, weiß viel über die Wueschte in früheren Zeiten zu erzählen. So erwähnen beide, dass im 18. Jahrhundert nicht nur viele Villinger Bürger an Fastnacht (Donnerstag, Montag und Dienstag) die Straßen der Stadt bevölkerten, sondern auch ganze Heerscharen an Umlandbewohnern herbeiströmten, um das närrische Treiben zu beobachten oder selbst ins Häs zu schlüpfen. Schleicher nennt sie „Landjunker“ und Fischer spricht von „Landhansel“. Albert Fischer, der sich dabei sicher auch auf Nepomuk Schleicher bezog, schrieb in seinen Publikation „Aus Villingens Vergangenheit“ (1914) und „Villinger Fastnacht – einst und jetzt“ (1922) mit Blick auf das fastnachtliche GescheVieles war vor 270 Jahren an Fastnacht ähnlich wie heute, wenn es auch nur erwachsenen Männern erlaubt war, sich zu maskieren. Hauptfigur war damals bereits der Narro mit Häs, Scheme und Rollen. hen früherer Jahrhunderte: „Es gab immer Häuser in der Stadt, wo man sich für kurze Zeit ein Narrohäs leihen konnte. Solche Landhansel waren als solche gleich erkannt, weil sie gewöhnlich den Narrosprung nicht richtig machen können und auch das Juchzen nicht so fertigbringen wie der geborene Villinger. Dafür bekamen sie dann von den Villinger Buben den Namen „Stachy“ (Anm.: Stachi ist heute noch eine der Villinger Fasnetfiguren) zugerufen. Früher wurden sie auch, wenn sie ein schmutziges Narrohäs anhatten, mit dem Namen „Wust“ tituliert, verfolgt und mit Schneeballen, Eisschollen oder gar mit Steinen beworfen, sodass sie sich in die Häuser flüchten mussten. Später wurde die Sache für die Landhansel etwas besser.“ Auf zum Schopf der Wueschte In den Morgenstunden des Fasnetmendigs in der Villinger Innenstadt unterwegs zu sein, das ist was ganz Besonderes. Die Straßen, an denen sich zwei Stunden später Tausende von Zuschauern aufreihen werden, sind noch weitgehend leer. Aus allen Richtungen klingen schon die Rollen der Narros, aus der Ferne schallt das rhythmische Schlagen der Glonki-Blechtrommeln. Gänsehautstimmung. Am Rande der Innenstadt steht ein alter stattlicher hölzerner Schopf (Scheune), dessen Außenseite eine große Wueschtfigur ziert. Das zweistöckige Gebäude ist das „Hauptquartier“ Wuescht-Gruppe mit Fahne, fotografiert in der Villinger Innenstadt im Jahr 1911. 246 Schwäbisch-Alemannische Fastnacht

 

 

 

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der Wueschte an Fasnet. Im unteren Bereich stapeln sich die hölzernen Wueschtbretter, jedes davon ist individuell von seinem Besitzer selbst gestaltet. Eine schmale, steile Holztreppe führt im spärlichen Licht nach oben. Ein Stockwerk höher staubt es ordentlich, die Atmosphäre ist eine ganz spezielle. In der Mitte des Raums liegt ein großer Haufen Stroh. Drumherum verteilt die ersten Wueschte, die schon kräftig dabei sind ihre Hosen auszustopfen. Jeder Neuankömmling wird mit einem lautstarken und dem langgezogenen „Wueeescht“, dem allseits bekannten Ruf der Gruppe, begrüßt. Die Häshose dick und rund mit Stroh auszupolstern, das ist eine Kunst für sich. Jeder hat beim (Voll-)Stopfen so seine eigenen kleinen Tricks und Kniffe. Wichtig ist, dass die Hose am Ende richtig prall, kompakt und möglichst gleichmäßig gefüllt ist, damit das Stroh nicht bei der ersten Gelegenheit zusammensackt. Und jeder Wuescht lernt von Anfang an: Der Innenbereich an den Beinen muss strohfrei bleiben, sonst reibt es ganz schnell beim Laufen und der berüchtigte „Wolf“ lässt grüßen. Beim Stopfen wollen die Wueschte möglichst unter sich bleiben. Eine große Ausnahme ist Herbert Frey, der Vater des aktuellen Wueschtvaters. Herbert, ein zwischenzeitlich pensionierter Lehrer, ist so etwas wie die „Wuescht-Stopfmaschine“. Das seit über 30 JahRechte Seite: Als Ansichtskarte vertriebene WueschtIllustration des Graphikers Curt Liebich aus den 1920er-Jahren (Samm lung Manfred Hildebrandt). ren, obwohl er selbst nie ins Wueschthäs gegangen ist. „Herbert, Herbert“ ruft es ständig aus irgendeiner Ecke und Herbert hilft, wo es nur geht. Er schaufelt unterstützend Unmengen Stroh in diverse Häshosen. Herbert bindet Hosen oben und unten zu und hat, falls mal irgendwo irgendwas klemmt oder was reißt, immer ein „Sackmesser“ (Taschenmesser) und eine starke Sicherheitsnadel zur Hand. Wust, Wuascht oder Wuescht? Im Laufe der Zeit kam es immer wieder zu verschiedenen Schreibweisen des Wuescht. So tauchen in Dokumenten die drei Bezeichnungen Wust, Wuascht oder Wuescht auf. Letztendlich sind alle drei Begriffe identisch, sie werden auch mehr oder weniger (mit leichten Nuancen) gleich ausgesprochen – es handelt sich dabei lediglich um verschiedene (historische) Ausprägungen des Villinger Dialekts, der sich im Laufe der Zeit auch etwas geändert hat. Und in Villingen heißt es: „Wie gesprochen so geschrieben.“ Seit vielen Jahren hat sich aber eindeutig die Schreibund Sprachweise „Wuescht“ durchgesetzt. Ausstopfen des Wuescht mit Stroh im Wuescht-Schopf am Morgen des Fasnetmendig. 248 Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste

 

 

 

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Doch es änderte sich nicht nur der Name, die Wüsten wurden zudem „salonfähiger“. Albert Fischer schreibt von den „Wusten“, die sich besonders bei der Jugend großer Beliebtheit erfreuten, weil sie diese mit Schneeballen, Eisschollen usw. bewerfen durften. Um sich gegen Schäden zu schützen, so bemerkt Fischer, „stopfen die Wuste ihre Kleidung mit Stroh aus, tragen auf dem Rücken eine sogenannte Krätze, welche gewöhnlich mit altem Tongeschirr behangen ist und haben besonders gut den Kopf eingebunden, denn dieser ist das Hauptziel der werfenden Jugend“. Nicht selten, so erklärt Fischer, komme es vor, dass auch mit Steinen geworfen werde und so passiere es immer wieder, dass durch einen „Haupttreffer“ dem „Wust“ die Larve zertrümmert werde. Das Risiko besteht heute auch noch, wenn Kinder am Umzugsrand verbotenerweise anstatt mit Tannenzapfen mit Eisbrocken auf die Wueschte werfen. Schleicher und Fischer wissen aus der Vergangenheit zu berichten, dass die „Wuste“ nicht in allen Wirtschaften wohlgelitten waren, da sie einiges an Stroh und Schmutz hinterließen und die sie begleitenden Buben gerne Schneeballen mit ins Innere brachten und diese sehr zum Ärger einiger Wirte mit Absicht auf den sauberen Fußboden fallen ließen. Aus der Villinger Fasnet waren die Strohmänner aber nicht mehr wegzudenken und so gehörten sie 1882 bei der Gründung der Historische Narrozunft als Verein schon zum unverzichtbaren Bestandteil des närrischen Brauchtums. Alte Zeitungsanzeigen belegen die regelmäßige Teilnahme der Wueschtgruppe an den Fastnachtsumzügen. Das „Wueschtrennen“, wie die Aktivitäten der Gruppe früher auch genannt wurden, fiel mehrfach Verboten des Bürgermeisteramtes und des Großherzoglichen Bezirksamtes zum Opfer. So 1886 oder auch Anfang der 1890er-Jahre. Doch die Wueschte waren schon damals höchst einfallsreich: Da sie nicht „laufen“ durften, fuhren sie an Fastnacht zum Beispiel auf einer Kutsche. Ein besonders mutiger Wuescht schwang sich im strohgefüllten Häs auf ein Pferd und ritt unbehelligt durch die Stadt. 1912 gab es eine weitere große Aufwertung für die Gruppe: Der Kurz vor 10 Uhr geht’s am Fasnetmendig für die Wueschtgruppe endlich los: Scheme halb vors Gesicht, Besen in die Höhe und der Wueschtvater gibt mit einem kräftige „Wueeescht“ das Kommando zum Start. „Oberwuescht“ (heute Wueschtvater) bekam einen festen Sitz in der Vorstandschaft (dem Rat) der Historischen Narrozunft, was bis in die Gegenwart Bestand hat. Keine Hektik bitte… – die Schönsten laufen stets am Schluss des Zuges Um 9 Uhr beginnt der historische Umzug in der Bertholdstraße. Da die Wueschtgruppe ja am Schluss des Zuges läuft, ist keine Hektik angesagt. Früher gab’s vor Umzugsbeginn immer ein Schnäpschen für jeden Wuescht. Dafür sorgte die Mutter des ehemaligen Wueschtvaters Bernd Dilg. Leider ist sie schon lange gestorben und der nette Brauch damit auch. Kurz vor 10 Uhr geht’s dann auch für die Wueschtgruppe endlich los. Scheme halb vors Gesicht, Besen in die Höhe und der Wueschtvater gibt mit einem kräftige „Wueeescht“ das Kommando zum Start. In der Niederen Straße stehen die Zuschauer dicht gedrängt. Der Wueschtvater stimmt eines von jenen Sprüchle an, für die die Wueschte bekannt und manchmal auch ein wenig berüchtigt sind. Denn nicht jeder vorgetragene Spruch (die Wueschte nennen das Aufsagen „singen“) ist ganz jugendfrei. Die wirklich derben Sprüche kommen aber erst abends zum Einsatz, wenn die Kinderwueschte längst daheim sind. Die meisten Wueschtsprüchle existieren seit Generationen, neue sind im Laufe der Zeit dazugekommen. Gemeinsam ist ihnen: Die Sprüche sind meist sehr lokal, immer lustig, manchmal ironisch, auch mal bissig bis provozierend, aber sie sind nie verletzend! 250 Schwäbisch-Alemannische Fastnacht

 

 

 

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„I de Gerberstroß am Eck, do wohnt de Rieble-Beck. Er schtreckt de Arsch zum Fenschter nus, mer mont es wär en Weck. Es isch kon Weck, es isch kon Weck, es isch de Arsch vum Rieble-Beck. Wuescht“… …klingt es durch die Niedere Straße. Viele Zuschauer am Straßenrand kennen die Sprüchle und stimmen kräftig mit ein. So geht es dann den ganzen Umzugsweg lang quer durch die vier innerstädtischen Hauptstraßen. Zwischendurch stoppt der Wueschtvater mal komplett ab, lässt die vor ihm laufenden Maschgere (wie Hästräger in Villingen heißen) ein ganzes Stück weit davonziehen und dann geht’s los: Das langgezogene „Wueeescht“ ertönt und die Truppe rennt. Zum großen Vergnügen der Zuschauer, die johlen und juchzen. So mancher Wuescht sieht beim Rennen von hinten aus wie eine Gans auf Glatteis… Auf dem Umzugsweg gilt es immer wieder Ausschau zu halten nach Personen am Straßenrand, die ich kenne. Und schon habe ich jemanden entdeckt: Jetzt gibt’s ein aus der Häshose gezogenes Strohsträußle, und zwar mitten Und schon habe ich jemanden entdeckt: Jetzt gibt’s ein aus der Häshose gezogenes Strohsträußle, und zwar mitten hinein in den Hemdenoder Blusenkragen oder auch mal keck in den Ausschnitt. hinein in den Hemdenoder Blusenkragen oder auch mal keck in den Ausschnitt (die Wueschte sagen auch „stopfen“ dazu). In Villingen gilt so ein „Striessle“ als besondere Ehre, auch wenn das Stroh dabei auf der nackten Haut oftmals tierisch juckt. Eine ungeschriebene Regel für den „Gestopften“ besagt: Mag es wirklich auch ganz arg jucken, trotzdem nie das Stroh aus der Kleidung ziehen und vielleicht noch wegwerfen, solange ein Wuescht in der Nähe ist. Wenn er es sieht, kann da zur Strafe ganz schnell anstelle des kleinen Sträußchens eine ordentliche Ladung Stroh in der Kleidung landen. Damit es auch richtig tief reinrutscht, kommt schon mal der Besen zum Einsatz… Wenn die Wueschte voller Inbrunst ihre Fasnetsprüchle aufsagen, machen die kleinen und großen Villinger Narren begeistert mit. 252 Schwäbisch-Alemannische Fastnacht

 

 

 

Auf dem Weg zum Riettor, dem Endpunkt des frühen Montagumzuges, kommt schon ordentlich Stroh aus der Hose zum Einsatz und die Gruppe gibt manches Sprüchle zum Besten. Als sie dann noch eine Gruppe Schwenninger am Straßenrand entdeckt, ist schon klar was jetzt „gesungen“ wird. Da gibt es kein Pardon: „Früher sin d’Villinger nach Schwenningen ins Hallebad num gloffe. D‘ Villinger hon ins Wasser brunzt, und Schwenninger die hons gsoffe. Wuescht.“ Die Schwenninger nehmen es mit Humor. Und kurz vorm Riettor noch dieser Spruch: „I‘ de undere Schtadt, i‘ de obere Schtadt, do dond die Bure dresche, s‘ Müllers Magd häts Hemd verbrennt, jetzt ka mers nimmi wäsche. Wuescht.“ Nach dem Umzug heißt es erst einmal kräftig durchschnaufen, denn das Laufen in der prallgefüllten Strohhose und mit dem schweren Holzbrett auf dem Buckel ist anstrengend. An der Spitze steht der Wueschtvater Der Chef des Ganzen ist der demokratisch von der ganzen Gruppe gewählte Wueschtvater. Er gibt die Richtung vor, führt und lenkt. Unterstützt wird er von weiteren gewählten Mitgliedern, die das sogenannte Gremium bilden. Der Wueschtvater ist, wie bereits betont, zugleich Mitglied des Zunftrates und gehört damit dem Vorstand des Gesamtvereins Historische Narrozunft an. An Fasnet läuft der Wueschtvater der Gruppe voraus. Seine Insignien: Wueschtfahne, ein umgehängtes Ochsen-Kummet (Zuggeschirr) und eine markante Bärenscheme. Ein Brett trägt der Wueschtvater nicht. Auf sein Kommando hören (meist) alle. Die Bärenscheme, die der Wueschtvater trägt, ist ein für die Villinger Fasnet höchst ungewöhnliches Utensil. Vergleichbare Masken gibt es hier nicht. Die Larve stammt aus der Narrenhochburg Elzach (Landkreis Emmendingen). Sie kam als Dankesgeschenk nach Villingen, nachdem im Jahr 1900 einige Villinger Narroschemen nach Elzach ausgeliehen worden waren. Die „Schuttig“, die Hauptfiguren der Elzacher Fastnacht, sollen einst so schreckliche Masken getragen haben, dass diese vom Pfarrer zur Fasnet verboten wurden. Die Villinger MasAuf ihrem Rücken tragen die Wueschte individuell gestaltete Bretter. Mit einem Strohsträußle werden bekannte Gesichter am Umzugsweg bedacht. Diese „besondere Ehre“ juckt auf der Haut tierisch. Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste 253

 

 

 

Bärenschemme – Dankgeschenk der Elzacher Narrenzunft an die Villinger aus dem Jahr 1900. „Rallye“ durch die Stadt Nach dem Umzug Montag früh, der Teilnahme am sogenannten Maschgerelauf am frühen Nachmittag und einem seit Jahren bei vielen Zuschauern höchst beliebten und unterhaltsamen lustigen Wettkampf mit den Blechtrommlern der Glonkigilde, beginnt für die Wueschtgruppe die „Rallye“ durch die Stadt. Und damit eigentlich der schönste Teil der Fasnet. Es geht von einer Wirtschaft und einem Narrenstüble in die/das nächste, ab Nachmittag ohne Bretter und Fahne, die im Schopf deponiert werden. Manchmal ist es in den Lokalitäten so knapp mit dem Platz, dass die letzten Wueschte nur durch heftiges Drücken und Schieben, was dann ein wenig an die Rush Hour in der U-Bahn erinnert, nach innen kommen. Der Wueschtvater stimmt einen Spruch nach dem anderen an und der ganze Saal macht mit. Sollten die Wueschte ihre Sprüchle auch noch rappen, man geht ja mit der Zeit, kocht die Stimmung. Wenn am Ende des Vortrags der Wueschtvater das berüchtigte Kommando: ‚Attacke‘ gibt, schwärmen alle Wueschte im Saal aus und es hagelt Strohsträußchen. Damit alle Gäste ein „Striessle“ erhalten, geht es durchaus unkonventionell zu. So schwer, sperrig und ungelenk ein Wuescht auch sein mag, einen Sprung auf den Tisch schafft er allemal und der Weg ins letzte Eck des Lokals ist frei. Um 20 Uhr ist für die Kinderwueschte Feierabend, Mama, Papa oder Oma und Opa warten schon zum Abholen. Für die Erwachsenen ist dagegen lange nicht Schluss. Es wird noch eine Schippe draufgelegt. Welch ein großartiges Bild ist es, wenn 60 Wueschte im Gänsemarsch, zickzack laufend hintereinander und singend durch die Stadt ziehen. In den Wirtschaften und Stüble, wo nach dem Vortrag meist für die durstigen und ausgetrockneten Kehlen der Wueschte Schorle spendiert werden, packt der Wueschtvater jetzt die nicht ganz jugendfreien Sprüchle aus. Kostprobe gefällig? ken akzeptierte der Gottesmann aber und somit war die Fastnacht im Elztal gerettet. Die aus Elzach stammende traditionelle Bärenlarve landete in Villingen bei den Wueschten. Die nahmen das Geschenk dankbar an und fortan trug der Wueschtvater die Bärenscheme als Symbol der Kraft und Stärke. Doch irgendwann ging dieser Brauch unter und die markante Maske verschwand von der Bildfläche. Erst Georg „Schorsch“ Baur, der von 1977 bis 1990 Wueschtvater war, kramte den Bär wieder hervor und verhalf ihm zu neuem Leben. Seither reicht ein Wueschtvater die Scheme dem nächsten weiter. Es gibt kuriose Wuescht-Geschichten um die alte Maske. Einmal landete das gute Stück nächtens durch einen dummen Zufall in einer tiefen Baugrube und wurde in einer schweißtreibenden Aktion gerettet. Ein anderes Mal blieb sie in der Nacht versehentlich auf einer Bank liegen und war danach verschwunden. Nach einem Radioaufruf am nächsten Morgen kam das Bärengesicht dann glücklicherweise wieder zum Träger zurück. Die Namen der Verursacher der kleinen Missgeschicke verschweigen wir hier ganz gentlemanlike… Die Original-Bärenscheme befindet sich heute als Leihgabe im Villinger Franziskanermuseum. Die Wueschtväter Bernd Dilg und Roland Weißer ließen in Elzach zwei Kopien anfertigen, die nun an Fastnacht getragen werden. 254 Schwäbisch-Alemannische Fastnacht

 

 

 

„Und wenn a mol beim Schmuse bisch und bisch bereits am Buse, no klappt des nit, die Frau will nit, no hilft Beate Uhse. Wuescht.“ In der Nacht zu Aschermittwoch, Schlag 24 Uhr am Fasnetdienstag, verbrennen die Wueschte auf dem Münsterplatz ihr Stroh. Die Fasnet ist vorüber. Es gibt allerdings noch weit derbere unter den rund 50 derzeit „gesungenen“ Versen. Aus vielen oftmals überhitzen Lokalitäten kommt man klatschnass geschwitzt raus in die an Fasnet meist eiskalten Nächte. Ich habe es mehr als einmal erlebt, dass der Schweiß auf der Stirn und im Bart gefroren ist. Der Montag in der Gruppe endet nicht vor ein oder halb zwei Uhr in der Nacht, die schon zum Dienstag gehört. Nicht alle Wueschte haben dann genug. Einige ziehen allein oder in kleinen Gruppen weiter in irgendeine Kneipe oder ein Stüble. Da kann es schon mal früher Morgen werden. Ist schließlich nur einmal Fasnet im Jahr. Ach ja: Das restliche Stroh aus der Hose wird, bevor der Wuescht nach Hause kommt, in der Brigach oder sonst wo umweltfreundlich entsorgt. Ist ja ein reines Naturprodukt… Strohverbrennung um Mitternacht Schon am Dienstagmittag ist die Gruppe wieder zum großen Villinger Umzug vereint. Der Umzugsweg ist besonders lang und durchaus anstrengend (besonders, wenn es relativ mild ist), dennoch geht, nach einer rund zweistündigen Pause, im Anschluss das Kneipenprogramm unermüdlich weiter. Um 20 Uhr dürfen seit einigen Jahren die Kinder auf dem „Latschariplatz“ in der Stadtmitte ihr Stroh verbrennen. Bei den Erwachsenen heißt es dagegen: Schlapp machen gibt es nicht, mindestens durchhalten bis Mitternacht. Schlag 24 Uhr holen die Wueschte auf dem Münsterplatz vor dem Rathaus vor einer großen Menschenmenge, die sich hier versammelt hat, ihr ganzes Stroh aus den Hosen und schichten es zu einem hohen Haufen auf und zünden es an. Während zeitgleich die Zunftoberen den Rathausschlüssel zum Oberbürgermeister zurückbringen, lodern die Flammen. Im Schein des Strohfeuers umkreisen die Wueschte den brennenden Haufen und die letzten Wueschtsprüchle für die aktuelle Fasnet erklingen. Wer allerdings glaubt, jetzt wäre endgültig Schluss, der täuscht sich gewaltig. In einem nahen Gasthaus ist exklusiv für die Gruppe schon ein Heringsbüffet gerichtet. Erst, wenn der Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste 255

 

 

 

letzte Fisch aufgegessen und die letzte Schorle leergetrunken ist, geht es am frühen Aschermittwoch heim. Reicht dann auch erst einmal nach zwei mehr als intensiven Tagen. Doch der allerletzte Streich folgt vier Tage später. Beim „Nohwiesele“, dem so genannten Nachfest der Wueschtgruppe zur Fasnet, blüht bei Programm und Musik die Narretei noch einmal ganz schön auf. Dabei kommt so einiges ans Tageslicht, was sich so über die zwei närrischen Tage alles im Hintergrund der Gruppe ereignet hat. Als Wueschte noch wirklich wüst waren Früher, so sagt der langjährige Wueschtvater, Roland Weißer, seien „die Wueschte wirklich wüst gewesen“. Die Leute hätten die Rollläden runtergelassen, wenn „die Wuescht kumme sind“. Heute sei die Wueschtgruppe ein familiär geprägter, friedlicher Generationenverbund. Dieses neue Image ist vor allem Weißers Vorgängern Georg Baur und Bernd Ding zu verdanken. Und in der Tat ist der Zusammenhalt der Wueschtgruppe schon außergewöhnlich. Es gibt außerhalb der Fasnet gemeinsame Treffen, Ausflüge und Feste, zu denen zum Teil auch die Partner und Kinder eingeladen sind. Die Gruppe kommt schon Wochen vor der Fasnet einmal in der Woche zu Dämmerschoppen in jenen GastDer langjährige Wueschtvater Roland Weißer. stätten zusammen, die man über die „Hohen Tage“ besucht. Die Wueschtgruppe hat aktuell einen festen Stamm von etwa 60 Erwachsenen und gut 30 Kindern. Neue Mitglieder werden nicht aufgenommen, die Gruppengröße soll überschaubar bleiben. Der Erwachsenenstamm rekrutiert sich aus dem eigenen Nachwuchs. Wer einmal in den Genuss des Wueschtlaufens kommen möchte, der kann sich auf eine mittlerweile sehr lange Warteliste setzen lassen. Wer als Kind angefangen hat, der bleibt im Regelfall auch ein Leben lang dabei. So wie Matthias „Matze“ Frey, der seit Anfang 2020 neuer Wueschtvater ist. Vor über 30 Jahren kam er als Sechsjähriger zur Gruppe. Und was ist für ihn der Anreiz Wuescht zu laufen und zugleich Verantwortung zu übernehmen? Matthias Frey: „Es ist die Gruppenfasnet, die Tatsache, nie allein unterwegs zu sein. Der Wuescht ist eine imposante Fasnetfigur und wir sind eine super Truppe, die eine schöne Stüblefasnet macht und die Zuhörer mit ihren Sprüchle begeistert. Mich inspiriert das absolut und immer wieder neu.“ Der heute über 90-jährige Georg Baur war einschließlich seiner Zeit als Wueschtvater 27 Jahre aktiv im Wueschthäs. Für ihn war und ist die Wueschtgruppe „immer wie eine Familie“ 256 Schwäbisch-Alemannische Fastnacht

 

 

 

und er sagt: „Als Wueschtvater war ich mittendrin. Beim Umzug traf man nette Menschen und konnte sie mit einem Strießle erfreuen.“ Von 2001 bis 2009 hatte Bernd Dilg das Amt des Wueschtvaters inne. Seit sage und schreibe 56 Jahren läuft er bereits Wuescht und das nach wie vor mit viel Begeisterung. Auch er schwärmt von der Gruppenfastnacht, die ihm viel besser gefällt. „Es hat mich immer fasziniert, wenn wir alle gemeinsam unterwegs waren.“ In den Wirtschaften und Stüble könne man als Gruppe wunderbar mit dem Publikum spielen. Bernd Dilg war es, der eine eigene Wueschtkinderfasnet („War für mich fast das Schönste“) eingeführt hat. Seither sind die kleinen Wuescht am Schmotzigen Dunschtig (Donnerstag) zusammen mit dem Wueschtvater und ein paar Begleitern in der Stadt unterwegs und machen in den Wirtschaften richtig Remmidemmi. Fast unglaubliche 57 Mal ist Roland Weißer, der als Fünfjähriger zum ersten Mal ins Häs ging, schon Wuescht gelaufen und er ist damit derjenige, der am längsten aktiv dabei ist. Weißer, der 20 Jahre als Wueschtvater an der Spitze der Gruppe stand, erinnert sich: „Früher war es nur ganz wenigen Kindern vergönnt Wuescht zu sein und so war ich immer der Einzige unter meinen Freunden.“ Und er sagt nicht ohne Stolz: „Als Wuescht wird man unter den Narren immer als was Besonderes oder Außergewöhnliches an der Fasnet gefeiert. Fast wie ein Popstar.“ Auch für ihn war und ist es Motivation Das ganze Jahr über aktiv Über den Autor dieses Beitrages Dieter Wacker, der frühere Leiter der Redaktion Villingen des SÜDKURIERS und langjährige Stellvertretende Chefredakteur dieser Tageszeitung, ist vor allem eines: Ein Wuescht durch und durch. „mit einer ganz besonderen Gruppe gemeinsam Spaß zu haben und trotzdem respektvoll mit einem überlieferten Brauchtum über Generationen hinweg umzugehen.“ Und der entscheidende Satz für ihn ist: „Einmal Wuescht, immer Wuescht.“ So, jetzt sind viele Wuescht-Geheimnisse gelüftet. Sicherlich nicht alle. Ungeklärt ist noch die immer wieder und wieder gestellte Frage: „Wie geht der Wuescht eigentlich aufs Klo? Stimmt es, dass der Wuescht sein Pipi ins Stroh in der Hose macht?“ Ich sage es ganz ehrlich: Das bleibt ein Geheimnis… und das ist auch gut so! Die Aktivitäten der Villinger Wueschtgruppe beschränken sich keineswegs nur auf die Fasnet. Bereits ab Mitte Januar treffen sich die Mitglieder einmal pro Woche zu „Dämmerschoppen“. Rechtzeitig vor Fasnet steht das Richten und Reparieren der Bretter im Wueschtschopf an. Am Schmotzige Dunschtig nehmen die kleinen Wueschte am Villinger Kinderumzug teil. Am Fasnachtssamstag organisiert die Gruppe einen kleinen Umzug vom Schopf ins Villinger Stadtzentrum. In der Rietstraße wird auf einer Brunnenstele eine Wueschtfigur aufgestellt. Ein Akt, der als Startschuss für die Wueschtfasnet gilt. Montag und Dienstag ist die Gruppe geschlossen unterwegs. Um 24 Uhr am Dienstag endet die Fasnet mit dem Strohverbrennen vor dem Rathaus. Am Samstag nach Aschermittwoch treffen sich die Mitglieder zum „Nohwiesele“, dem fastnachtlichen Nachfest. Im Spätsommer wird Stroh für die kommende Fasnet organsiert und werden im Wald Tannenzapfen gesammelt, mit denen an Fasnet Kinder auf die Wueschtbretter werfen können. Wuescht – Am Schluss no kummet die Schönste 257

 

 

 

Global Forest St. Georgen – ein offenes Haus für Kunst Die frühere Werkstatt von Martin Kippenberger – heute fördert der Verein Global Forest an diesem Ort zeitgenössische Kunst. 258 258 Kunst und Kultur 8. Kapitel – Kunst und Kultur

 

 

 

Der gemeinnützige Verein Global Forest e. V. wurde im Oktober 2018 in St. Georgen im Schwarzwald mit der Intention gegründet, einen Ort zur Förderung und Präsentation zeitgenössischer Kunst zu schaffen. Zunächst als offenes Netzwerk ins Leben gerufen, hat Global Forest seit 2016 bereits so verschiedene Veranstaltungsformate wie Ausstellungen, Vorträge, Symposien und Workshops realisiert. Vorrangiges Ziel des Vereins ist es, jungen nationalen und internationalen Künstlern eine Ausstellungsund Präsentationsplattform zu bieten. Zugleich soll ein differenzierter Diskurs zu aktuellen Fragestellungen zeitgenössischer Kunst ermöglicht werden. 259

 

 

 

Was ist eigentlich Kunst? Eine Frage, die von Philosophen, Musikern, Malern, Bildhauern oder Schriftstellern – also von Künstlern aller Richtungen – oft genug leidenschaftlich diskutiert wird. „Kunst ist die Königin aller Wissenschaften, die zu allen Generationen der Welt spricht“, sagte Leonardo da Vinci. Doch Pablo Picasso meinte: „Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten.“ Was Kunst ist, entscheidet eigentlich der Künstler. Für Joseph Beuys war es ein Fetthaufen, für Andy Warhol das Gesicht von Marilyn Monroe und für Jasmine Guffond sind es elektronische Kompositionen in Musikund Kunstkontexten. Die Musikerin, Künstlerin und Komponistin arbeitet an der Schnittstelle zwischen sozialer, politischer und technischer Infrastruktur. Zugegeben, diesen Satz sollte man mindestens zweimal lesen und dann weiter forschen, falls man neugierig wird. Denn vielleicht ist es genau das, was gerade Sie anspricht, was Ihren Alltag bereichert, Sie inspiriert und einen völlig neuen Blickwinkel gibt. Um so etwas Ungewöhnliches zu erleben, müssen Sie nicht nach Berlin, London oder Paris. Im Dezember 2019 stellte die Künstlerin in St. Georgen ihre Schallplatte vor. Sie beschäftigt sich mit Gesichtserkennungssystemen und globalen Überwachungsnetzwerken und zeichnet daraus Klangbilder, die es schaffen, das einzufangen, was sich normalerweise der menschlichen Wahrnehmung entzieht. Schafft auf diese Weise eine besondere Komposition, die tiefer gehen soll. von Barbara Dickmann St. Georgen, Friedrichstr. 5a, anno 2016. Hinter dieser Adresse verbirgt sich ein altes Haus mit einer bewegten Geschichte. Es war das Stammhaus eines Uhrenherstellers, Fahrradklingeln wurden hergestellt, es beherbergte eine Kistenfabrik und eine Schreinerei. Doch jetzt erlebt dieses Haus eine wunderbare Wandlung: Sascha Brosamer, ein Künstler zwischen Performance, Objekt, Zeichnung und Sound, mietet zusammen mit Hans-Jörg Weisser einige Räume an und mit dieser Aktion zieht die Kunst ein, in einer Vielfältigkeit, die unglaublich bereichernd, experimentell, doch genauso ungewöhnlich ist. Ausstellungen, Vorträge, Symposien und Workshops werden angeboten. Thema ist oft genug die kreative Auseinandersetzung mit St. Georgen und dem Schwarzwald. Dabei spielen Bilder und Fotografien eine Rolle, doch Installationen, audio-visuelle Medien und Performances erweitern den Blick und werden zu Impulsgebern. Eine Diskussion über die Zusammenarbeit von Kunst und Wirtschaft soll angeregt werden. Schon damals ist das Ziel, eine dauerhafte Plattform zu schaffen, auf der sich Kunst und Technologie auf Augenhöhe begegnen. Sascha Brosamer und Hans-Jörg Weisser laden Dr. Oliver Wolf (Künstlername „Olsen“) ein – Hannah Eckstein von der Sammlung Grässlin sowie Viktoria Wilhelmine Tiedeke von S. Siedle & Söhne OHG kommen hinzu. Bald finden sich insgesamt zehn leidenschaftliche, experimentierfreudige Künstler und Wissenschaftler, die ein Ziel verfolgen: Die Gründung eines Vereins mit der Intention, einen Ort zur Förderung und Präsentation zeitgenössischer Kunst zu schaffen. Er soll über einen normalen Kunstverein hinausgehen und die Möglichkeit bieten, Künstlern*innen nicht nur kostenlos unterzubringen, sondern sie auch noch zu bezahlen, sprich: Ihnen die Chance zu geben, ihre Kunstprojekte zu erschaffen, ohne finanziellen Druck. 260 Kunst und Kultur

 

 

 

Friedrichstraße 5a in St. Georgen – Ort zur Förderung und Präsentation zeitgenössischer Kunst. 261

 

 

 

Im Oktober 2018 ist es soweit. Der gemeinnützige Verein Global Forest e.V. wird eingetragen. Gründungsmitglieder sind: Viktoria Wilhelmine Tiedeke (1. Vorsitzende), Dr. Oliver Olsen Wolf (2. Vorsitzender), Sascha Brosamer, Hannah Eckstein, Maria Pina Galofaro, Norman I. Müller, Lisa Schlenker und Norbert Schnell. Arbeiten in Martin Kippenbergers Atelier Und jetzt kommt Martin Kippenberger ins Spiel. Der bekannte Installationsund Performancekünstler, Bildhauer, Maler, Fotograf und geniale Tausendsassa, der in der ganzen Welt zu Hause war, lebte einige Monate in St. Georgen und hatte in der Friedrichstr. 5a sein Atelier. Geboren 1953 warf er die damals traditionellen Kunstbegriffe über den Haufen. Provokation, Zynismus und Spott waren seine Mittel, um sich auszudrücken. Sein berühmtestes Zitat: „Ich geh jetzt in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“ Er starb mit 44 Jahren nach einem absolut intensiven, suchtvollen Leben an Leberkrebs. Am Anfang arbeiten befreundete Künstler und Künstlerinnen der Vereinsgründer kostenlos in diesen besonderen Räumen. Doch dann werden über einen Antrag beim „Innovationsfond Kunst“ Landesmittel für zwei Jahre in Höhe von nahezu 50.000 Euro bewilligt und mit großer Freude und Elan können die Gründungsmitglieder jetzt ihr Konzept umsetzen. Seit 2019 werden diese besonderen Räume, dieses ehemalige Atelier eines provokativen Künstlers, als Quartier für nationale und internationale Künstler*innen genutzt. Im Rahmen eines finanzierten Residenz-Aufenthalts leben und arbeiten sie dort, können sich frei entfalten, entwickeln, experimentieren, neue Themen erschließen und nach diesem kreativen Prozess ihre Arbeiten ausstellen oder präsentieren. Als Kurzzeit-Residenten*innen leben sie zwei bis vier Wochen in St. Georgen. Kostenlose Unterbringung und ein Arbeitsplatz im ehemaligen Kippenberger-Atelier stehen zur Verfügung. Um den Geist von Kippenberger zu spüren, müssen interessierte Künstler ein Kurzexposé ihres geplanten Projekts, eine Biografie und ein Um den Geist von Martin Kippenberger zu spüren, müssen interessierte Künstler ein Kurzexposé ihres geplanten Projekts, eine Biographie und ein Künstlerstatement einreichen. Wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Region – in welcher Form auch immer. Künstlerstatement einreichen. Wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Region – in welcher Form auch immer. Sie sind verpflichtet, ihren Aufenthalt mit einer öffentlichen Präsentation abzuschließen, in der das Ergebnis allen Interessierten vorgestellt wird. Außerdem müssen sie dem Verein Gobal Forest eine Editionsarbeit für die Jahresgabenausstellung, die am Ende jeden Jahres stattfindet, zur Verfügung stellen. Im zweiten Jahr gehen bereits über 250 Bewerbungen ein, unter ihnen werden vier Langzeitund acht Kurzzeit-Residenten/Innen ausgewählt. „Das ist eine beachtliche Anzahl, denn man muss sie auch betreuen,“ unterstreicht Dr. Oliver Wolf („Olsen“), einer der Macher des Vereins. Doch die Arbeiten, die entstehen, begeistern ihn und wo könnte man konzentrierter arbeiten als in der idyllischen Abgeschiedenheit des Schwarzwaldes – weit weg von den Versuchungen einer Großstadt. Roboter und Vogelklang Im Grunde genommen sind es vier Leute, die hier intensiv arbeiten und die umfangreiche Organisation übernehmen: Viktoria Wilhelmine Tiedecke, Hannah Eckstein, Jessica Twitchell und Oliver „Olsen“ Wolf. Sie sind mit großem Engagement dabei und die Anerkennung in der Bevölkerung gibt ihnen Recht. Kinderworkshops haben sie angeboten, Roboter und Raketen gebaut, Kinoabende mit ziemlich schrägen Filmen organisiert, einen Nachmittag mit einer Opernsängerin, die mit ihren Gesangsschülerinnen Songs aus der Stumm262 Kunst und Kultur

 

 

 

filmzeit vortrug und und und… Die Liste ist lang und vielseitig. Und so soll es auch bleiben. Das Publikum ist von jung bis junggeblieben – Alters durchschnitt von Mitte 20 bis Mitte 60. Ist das Vogelklang Soundcamp Festival, das rund um das 24-stündige globale Vogelkonzert ein lokales Festivalprogramm beinhaltet, etwas, was viele Menschen anspricht, so war die Buchpräsentation im Januar dieses Jahres schon etwas spezieller, doch umso notwendiger und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn mit „Pinkeln im öffentlichen Raum“ in St. Georgen hat sich der Künstler Thomas Geiger beschäftigt. Wo darf man, wenn man mal muss? Was macht man, wenn man nicht darf? Und wer darf und wer nicht? Wie war das im „Alten Rom“ bei Kaiser Vespasian und wie ist es heute mit St. Georgens „Netten Toiletten“? Auch hier betrug der Altersdurchschnitt von Mitte 20 bis Mitte 60, denn „müssen“ müssen alle. Keine Frage: Global Forest e.V. ist etwas ganz Besonderes. Andere Frage: Was macht das mit Ihnen? Sind Sie neugierig geworden? Das wäre schön, denn um dieses künstlerische Highlight ganz in Ihrer Nähe beneidet Sie so mancher Großstadtmensch (Info@globalforest.com). Also: Was ist Kunst? „Kunst ist Kunst. Alles andere ist alles andere“, sagte schon Ad Reinhardt, US-amerikanischer Farbfeldmaler, Karikaturist und Kunsttheoretiker (1913-1967). Impressionen aus der St. Georgener Künstlerwerkstatt. v. ob. links: Patricia Koellges und Tamara Lorenz präsentieren als MME dUO Klangkunst. Johanna Schulte schreibt aus St. Georgen Briefe an den fiktiven Freund Oliver – alle kommen folglich als nicht zustellbar zu ihr zurück. Unten: Raketen-Workshop und „Tag der offenen Tür“. Global Forest St. Georgen – ein offenes Haus für Kunst 263

 

 

 

Olsens Welt – Komposition von mehreren Robotermodulen, die sich schwebend auf einem Lufttisch bewegen. Dieses Projekt ist im Labor für künstliche Intelligenz der Universität Zürich entstanden. Inspirierend für die Gestaltung der Module waren Designprinzipien, wie man sie im Umfeld der Künstlichen Intelligenz findet. Teleonomies Installation aus Lufttisch (Eigenbau), Robotermodule (Eigenbau), 2011 Die Apparillos von Dr. Oliver Wolf alias Olsen 264 264 Kunst und Kultur

 

 

 

Schwebende oder ans Kreuz genagelte Roboter, Haarbürsten, die sich der Morgensonne zuwenden oder das DiscokugelBraininterface: Der aus Niedereschach stammende Medienkünstler Olsen arbeitet an Objekten und Installationen aus dem Bereich der Maschinenkunst. Ob ein um sich selbst wirbelnder Bürostuhl oder der Sandwichmaker: Olsen alias Dr. Oliver Wolf programmiert seinen „Apparillos“ neue Lebensformen ein. Olsen lebt und arbeitet in St. Georgen – im ehemaligen Atelier von Martin Kippenberger. von Barbara Dickmann 265 265

 

 

 

Meine Arbeiten sind Untersuchungen an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Einen besonderen Fokus lege ich dabei auf die Technologien des Alltags, mit denen man ständig konfrontiert wird und die zunehmend unser menschliches Dasein, unsere Vorlieben und Verhaltensmuster bestimmen. Beispiele sind das Öffnen des Kofferraums per Knopfdruck, der automatische Raumbedufter oder auch der Rasenmähroboter. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um Automaten – Maschinen bzw. Computer – die mithilfe von Programmierungen bestimmte Tätigkeiten für den Menschen erledigen. So kann Technologie als die Anstrengung verstanden werden, dem Menschen Anstrengung zu ersparen. Olsen alias Dr. Oliver Wolf über sein künstlerisches Schaffen Sie heißt „Uruca Caliandrum“ , ist grün und eigentlich eine Haarbürste. Am Tage und in der Nacht erfüllt sie durchaus ihren Zweck. Doch mit der Morgendämmerung wacht sie auf und durch Bewegung ihrer Borsten, ähnlich eines Tausendfüßlers bewegt sie sich vorwärts, so lange, bis sie eine Position für die Beobachtung des Sonnenaufgangs gefunden hat. Danach geht „Uruca Caliandrum“ in den Kontemplativmodus über, was so viel wie „konzentriertes Betrachten, den Blick nach Etwas richten“ bedeutet – und „schaut“ sich in aller Ruhe den Sonnenaufgang an. Nach dieser Morgengymnastik kann die Bürste wieder wie eine herkömmliche Haarbürste verwendet werden. In dieser Zeit wird der Energieverlust über die Solarzellen auf dem Rücken wieder ausgeglichen, sodass sie am nächsten Morgen wieder aktiv werden kann. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen und vielleicht ist die Suche nach immer neuen Blickwinkeln, das Hinterfragen, Erforschen und Experimentieren, mit seinen Werken zu irritieren und zu faszinieren, die beste Definition von Kunst und Künstler: Oliver „Olsen“ Wolf, promovierter Künstler und aktuell Lehrbeauftragter an der HFU Furtwangen, hat diese Sonnenaufgangs-Haarbürste erdacht, entwickelt und hergestellt. Es ist nur eines von vielen Werken, die sowohl philosophische als auch poetische Elemente enthalten. Von Oliver Wolf zu „Olsen“ Der Weg vom Oliver Wolf zum „Olsen“ , das ist sein Künstlername, war ein spannender und er beginnt im Jahre 1975. Oliver Wolf wächst in Niedereschach auf, besucht zuerst das Gymnasium in Villingen, geht dann zu den Zinzendorfschulen in Königsfeld, belegt Leistungskurse in Mathematik und Physik und besteht das Abitur. Kunst? Nicht so wirklich. „Na ja, ich habe schon einen Kunstkurs in der Oberstufe belegt, doch im Fokus war das Skateboardfahren.“ Auf eine Elterninitiative hin wird in Niedereschach die erste Halfpipe in der Region gebaut und aus der nahen und fernen Umgebung wird sie der Treffpunkt der Jugendlichen. „Es war immer etwas los!“ Oliver Wolf erinnert sich gerne an diese Zeit, die ihn sehr geprägt hat und noch heute hat er Kontakt zu vielen Freunden aus seiner Jugend. Im Winter ist das Snowboard sein ständiger Begleiter und der Schloßberg und Sägenhof sein Revier. An Regentagen bastelt er mit dem Vater im Keller des Elternhauses, denn das Arbeiten, das „Denken mit den Händen“, das Bearbeiten und Gestalten von Holz begeistern ihn. Aus den Jugendjahren stammt auch der Spitzname „Olsen“: „Beim Eishockeyspielen auf dem Weiher in Niedereschach waren wir drei Olivers“, erinnert sich der Künstler. Damit die Pässe auch beim richtigen Oliver ankamen, hat jeder Oliver einen Spitznamen bekommen. „Olsen“ war somit geboren. 266 Kunst und Kultur

 

 

 

Nach dem Abi ist er ziemlich ratlos, doch abhängen gibt es nicht und Oliver absolviert eine Schreinerlehre in der Rottweiler Holzmanufaktur. Er wohnt in Rottweil in einer ziemlich „wilden“ WG im Neckartal und ist begeistert von seiner Arbeit. „Die Renovierung historischer Häuser und mit den Händen etwas zu erschaffen, ist sehr erfüllend“, unterstreicht er. Auch im Nachhinein ist Oliver Wolf froh über diese handwerklichen Fähigkeiten, die ihm heute enorm weiterhelfen. Asthma, eine entzündliche Erkrankung der Atemwege, beendet seine Schreinerlaufbahn. Nun ruft der Berg, denn das Snowboardfahren lockt. Oliver zieht nach Innsbruck, beginnt ein Studium in Medienpädagogik und rückt regelmäßig den Bergen auf die Pelle. Stipendium für Uni in Barcelona 2001 erhält er ein Stipendium an der Universität Central in Barcelona in der Fakultät Bellas Artes, eine der wichtigsten katalanischen Institutionen für professionelle Künstlerausbildung. Und genau hier wird der Schalter umgelegt: „Barcelona mit seiner Lebendigkeit und Kunst nahm mich total gefangen. An eine Rückkehr zur Medienpädagogik war nicht mehr zu denken“, sagt Oliver Wolf, der nun ein Studium in Medienkunst an der Zürcher Hochschule der Künste beginnt und es 2005 erfolgreich beendet. Olsen wird selbständig, erarbeitet Medienkunst für Filme – wird Ausstatter und Bordelektroniker beim ersten Schweizer Science Fiction Film CARGO. Kunst am Bau und Robotik mit Maschinenkunst sind seine Bereiche. Er bleibt in der Schweiz, macht eigene Installationen und Skulpturen, assistiert diversen Künstlern, u.a. Christoph Büchel, lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste. Durch ein Artist-in-Lab-Stipendium im Labor für künstliche Intelligenz Oliver Wolf alias „Olsen“ mit seiner „Uruca Caliandrum“, der sich dem Sonnenaufgang zuwendenden Haarbürste. Dr. Oliver Wolf alias Olsen 267

 

 

 

Düsen nach Jägerart, Installation. Chefsessel, Ventilator, versch. Elektronik, 2018. 268 Kunst und Kultur

 

 

 

von Rolf Pfeiffer kommt er mit Wissenschaftlern zusammen: Künstliche Intelligenz, Robotik, Maschinen und Raumfahrt – einfach mit allem spielen und diese Gebiete verbinden, das war schon immer sein Thema. Olsen lebt es, diskutiert und hat unglaublich viel Spaß dabei. In dieser Phase entsteht auch die Roboter-Haarbürste. Olsen ist jetzt 12 Jahre in Zürich, hat viele Freunde, ist erfolgreich, als sich eine Chance auftut, die einfach unglaublich ist: Die Queen Mary University of London, die zu den britischen Spitzenuniversitäten zählt, bietet ihm ein Doktoratsstudium im Bereich „Media and Arts Technology“ an, das über ein Stipendium finanziert werden soll. „Olsen“ fällt die Entscheidung schwer. Er ist jetzt 38 Jahre alt und muss alles hinter sich lassen, wieder die Schulbank drücken und auf vieles verzichten. Doch kann man sich dieses einmalige Angebot entgehen lassen? Die Antwort liegt auf der Hand. 2013 fährt er mit dem Zug nach London und fängt wieder Brabantia Brotbox mit obenliegenden Nockenwellen* und linksdrehender Neuronal lasagne, 2018. (*per Knopfdruck zuschaltbar) ganz von vorne an. Sein ganzer Besitz: Fahrrad und Rucksack. Seine Kommilitonen – alle wesentlich jünger. Er macht seinen Master und will mehr. Während eines Praktikums in Paris lernt er Norbert Schnell kennen, heute promovierter Professor für Musikdesign an der HFU in Furtwangen. Norbert Schnell wird sein Doktorvater, denn Olsen beginnt seine Doktorarbeit. Sein Forschungsgebiet: „Affinity with Artefacts – Reproduktion von Außerirdischen, Bronze-Acryl, 1997/2018. 269 269

 

 

 

Speculatrix Procarya – Interaktive Installation, versch. Materialien, Computer Vision Software, 2009. Humans’ Perception of Movement in Technological Objects“. Olsen ist nun Dr. Oliver Wolf. Am 26. Dezember 2016 feiert er in St. Georgen mit vier befreundeten Künstlern auf der „Todschick Party“. Es wird eine lange Nacht, denn die Idee einer Künstlerresidenz wird geboren. „Wenn ich in London fertig bin, bin ich dabei“, sagt er, und wird 2018 der erste Langzeit-Resident von Global Forest. 2018 ist sein Stipendium an der Queen Mary University of London aufgebraucht und Olsen zieht zur Freude seiner Eltern erstmal wieder nach Niedereschach in sein altes Kinderzimmer ein. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wird Global Forest e.V. gegründet und „Olsen“ findet sein neues Zuhause in der obersten Etage der Friedrichstraße 5a. „Olsen“ braucht Zeit für seine künstlerische Entfaltung, aber auch das nötige Kleingeld. Über seinen ehemaligen Doktorvater erhält er einen Lehrauftrag an der HFU Furtwangen. „Mit den Studenten zu arbeiten ist eine wunderbare Aufgabe“, sagt Olsen begeistert und hat dabei viel Spaß. Doch in seinem Kopf schwirren die ausgefallensten Kompositionen, Verbindungen zwischen Schrauben und Batterien, zwischen Motoren, Robotik und Kunst und immer neuen Blickwinkeln abseits „der funktionalen und rationalen Logik von Technologie.“ Die Ideen sprudeln wie eine unversiegbare Quelle und müssen heraus. Wie kann es anders sein in diesen Räumen, die schon Kippenberger erlebt haben. Doch auch die ehrenamtliche Arbeit im Verein fordert viel Engagement, es soll viel geschehen. Noch mehr Ausstellungen und Workshops, offene Werkstätten für Menschen, die Lust haben hier zu arbeiten, und und und… 270 Kunst und Kultur

 

 

 

Und wie geht es ihm privat? „Ich bin sehr glücklich. Meine Freundin ist aus London hergezogen und nach 16 Jahren Großstadt genieße ich das Leben auf dem Land und die Nähe zu meinen Eltern. Keine Frage: Die Kunst hat das Land entdeckt und den Trend zur Stadtflucht findet man in New York und in London. Künstler verlegen ihr Atelier in den Garten und Galerien findet man in historischen Häusern weitab vom Schuss. Das Leben mit und in der Natur, das Entschleunigen, Ruhe und Frieden finden und dabei mit dem Nachbarn ins Gespräch zu kommen ist einfach Lebensqualität und vielleicht sogar das bessere Umfeld für Kunst und künstlerische Entfaltung. Die Verwendung und Wiederverwendung von Artefakten ist ein wichtiger Teil meiner künstlerischen Praxis. Für mich ist die Schaffung und Nutzung von Artefakten untrennbar mit ethischem Handeln im sozialen und kulturellen Kontext verbunden. Ich habe eine Doktorarbeit mit dem Schwerpunkt auf technologische Objekte mit einem Fokus auf Bewegung von Roboterund Computer-Artefakten abgeschlossen. Die Kombination von wissenschaftlicher Forschung und künstlerischen Methoden verortet meine Arbeit in den Forschungsgebieten der MenschMaschineInteraktion und experimen tellem Design. Olsen alias Dr. Oliver Wolf Links: Glotzbebbel mit Heiligenführerschein, bestehend aus Sandwichmaker, Webcam, Servomotoren und Gesichtserkennungssoftware, 2006. Unten links: Am Arbeitsplatz, Löten fürs Perpetuum Mobile, rechts: Sperrmüllfund. Dr. Oliver Wolf alias Olsen 271

 

 

 

Orient trifft Okzident Im Restaurant Felsen in Schwenningen vereint Safiye Kilicoglu in der Küche das Beste aus zwei Welten. von Eric Zerm Die Wurzeln von Safiye Kilicoglus Familie liegen an der Grenze des türkischen zum arabischen Raum. In einer Stadt, die in der Antike Antiochia hieß und im tiefsten Orient liegt. Dennoch kocht die Türkin bei vielen Gelegenheiten für ihre Familie Jägerschnitzel mit Spätzle, denn alle haben sich in dieses ur-deutsche Gericht verliebt – und auch in Safiye Kilicoglus Art, diese Speise zuzubereiten. Des Rätsels Lösung: Die heutige Betreiberin des Schwenninger Restaurants Felsen hatte bei der früheren FelsenWirtin Theresa Rödel während eines Praktikums die gutbürgerliche deutsche Küche kennengelernt. Diese kulinarische Symbiose ist geblieben: Heute vereint der Felsen bei seinen Speisen, die Kilicoglu persönlich zubereitet, die Tugenden und die Vielfalt des Orients mit den Merkmalen bodenständiger deutscher Küche. Und das mit großem Erfolg, denn das Restaurant hat mittlerweile Stammgäste aus der ganzen Region. Selbst alt-eingesessene Schwenninger, die dem modern eingerichteten Felsen unter der Leitung Kilicoglus mit seiner neu zusammengestellten Speisekarte zunächst eher skeptisch gegenüberstanden, ließen sich im Laufe der Zeit überzeugen. Ich probiere gerne Dinge aus, auch wie man deutsche und orientalische Küche miteinander verbinden kann. Leidenschaft fürs Kochen schon als Teenager entdeckt Am berühmtesten ist der Felsen inzwischen für seine Steak-Variationen, die Wirtin und Köchin Safiye Kilicoglu selbst kreiert. „Ich probiere gerne Dinge aus, auch wie man deutsche und orientalische Küche miteinander verbinden kann“, verrät die Mutter zweier Kinder. Dabei entstand beispielsweise Koriander-Steak. „Zu Hause essen wir Koriander auf Fladenbrot. Ich probierte mal aus, wie das auf einem Steak schmeckt.“ Ihre Gäste waren begeistert. Safiye Kilicoglus neueste Kreation ist das Feigen-Steak mit Walnüssen und Granatapfelsirup. „Man kann das wie Pesto verstreichen.“ Dazu serviert sie Süßkartoffeln und Okraschoten mit trockenen Tomaten an Olivenöl. Ihre Leidenschaft fürs Kochen entdeckte Safiye Kilicoglu schon als Teenager. Das Das Restaurant Felsen wurde nach dem katastrophalen Hagelunwetter des Jahres 2006 komplett saniert und modernisiert. 272 9. Kapitel – Gastlichkeit

 

 

 

Safiye Kilicoglu mit ihrem Partner Saśa Cukovic. 273

 

 

 

274 Gastlichkeit

 

 

 

Restaurant Felsen lernte sie vor mehr als 25 Jahren bei einem Praktikum kennen, bei dem sie ihre Kochund Küchenkenntnisse erweiterte und ebenso lernte, gutbürgerliche deutsche Gerichte zuzubereiten. Unter anderem das erwähnte Jägerschnitzel mit Spätzle oder den beliebten Zwiebelrostbraten mit Bratkartoffeln. Als ihre Schwiegereltern das Gebäude mit dem Restaurant Felsen 1995 kauften, startete sie gemeinsam mit ihrem Mann Cabir Kilicoglu den ersten Versuch, ihn selber zu betreiben; damals leider nur mit mäßigem Erfolg. „Wir waren noch zu jung. Es lief nicht so gut, und wir gaben das Restaurant wieder ab. Meine Schwiegereltern verpachteten es weiter“, blickt die Wirtin selbstkritisch zurück. Den Traum vom eigenen Restaurant gab das Paar trotzdem nicht auf. Steiniger Weg bis zum Erfolg Anfang der 2000er-Jahre ergab sich eine zweite Chance: Die Schwiegereltern wollten den Felsen verkaufen und Safiye und Cabir Kilicoglu kauften es. „Wir entschieden uns, das Risiko einzugehen.“ Der Weg bis zum heutigen Erfolg sollte trotzdem noch ein Steiniger sein. Cabir Kilicoglu erkrankte schwer und starb 2004 – die junge Frau stand plötzlich allein mit den zwei Kindern und dem Restaurant da. Sie entschied sich dafür, den Felsen zu behalten und betrieb ihn von nun an allein. 2006 folgte ein weiterer Schicksalsschlag: Das Hagelunwetter am Abend des 28. Juni, das in Schwenningen und Trossingen gewaltige Verwüstungen hinterließ, zerstörte auch das Restaurant Felsen. „Wir hatten hier riesige Schäden durch den Hagel. Wir hatten ein ganzes Jahr lang geschlossen. Das Haus musste komplett saniert werden“, blickt Safiye Kilicoglu zurück. Klare, symmetrischen Formen kennzeichnen den freundlichen und eleganten Innenraum. Die Verbindung von orientalischer mit deutscher Küche ist charakteristisch für den Felsen. Das Haus wurde komplett entkernt und umgebaut, das war schwer für mich, aber ich hatte die Kraft. Sanierung und Modernisierung Doch die Wirtin machte aus der Not eine Tugend. Sie entschied sich, Haus und Restaurant nicht nur zu sanieren, sondern auch modernisieren und umbauen zu lassen. Geplant wurde das Projekt von Architekt Wolfgang Gilly aus Hüfingen. „Das Haus wurde komplett entkernt und umgebaut“, erinnert sich die Wirtin. „Das war schwer für mich, aber ich hatte die Kraft.“ Während dieser Zeit entstand das Restaurant Felsen, wie es sich heute präsentiert; mit viel Holz, aber zugleich weiträumig, modern und mit glänzenden Glasund Metall-Elementen. Ein charakteristisches Merkmal der Tische sind ihre klaren symmetrischen Formen; sie sind quadratisch oder rechteckig. Verschönert ist der helle, freundliche Innenraum mit zusätzlichen Design-Elementen und zum Zeitpunkt des Besuchs für den „Almanach“-Bericht ergänzt durch Bilder des Villingen-Schwenninger Künstlers Stefan Flaig. Das Felsen-Team beschreibt das Ambiente folgendermaßen: „Elegant, aber ohne aufdringlich zu sein. Die natürlichen Materialien und die in warmen Tönen gehaltene Einrichtung sorgen für ein wohliges Befinden. Edelstahl und Naturhölzer finden sich bei Tischen, Einbauten und im Barbereich wieder. Ergänzt wird dieses Ambiente durch Akzente wie Skulpturen und Bilder namhafter und lokaler Künstler.“ Terrasse mit Blick auf Felsen-Landschaft im Garten Eine Felsen-Besonderheit, die vor allem in den warmen Jahreszeiten beliebt ist, ist die weiträumige überdachte Terrasse vor dem Haupteingang. Rote Textilvorhänge dämpfen das Tageslicht und lassen für die Gäste an den Tischen eine heimelige Atmosphäre entstehen, während die Poren in den Vorhängen andererseits die Luft sanft zirkulieren lassen. Bei Bedarf lassen sich diese Vorhänge auch zurückziehen. Auf Restaurant Felsen 275

 

 

 

Rote Textilvorhänge lassen eine heimelige Lichtatmosphäre entstehen. Im Garten ist eine Felsenlandschaft angelegt. der Vorderseite blicken die Gäste dann in den warmen Jahreszeiten auf einen grünen Pflanzenvorhang und auf einen schönen Garten. Zum Garten gehört seit der Umgestaltung übrigens auch ein Bereich, den Safiye Kilicoglu passend zum Namen des Restaurants anlegen ließ; eine kleine Landschaft mit zahlreichen beeindruckenden Felsen, deren Farben von einem sanften Rot bis zu einem dunklen Grau variieren. Die Gäste lauschen auf der Terrasse dem Plätschern der hauseigenen Wasserbrunnen. Orientalisch-deutsche Küche begeistert die Gäste Bei den alt-eingesessenen Schwenningern stieß der neue Felsen nach seiner Wiedereröffnung im Jahr 2008 zunächst auf Skepsis, erinnert sich die Wirtin, ebenso wie sie Safiye Kilicoglus neuer Speisekarte zunächst eher zurückhaltend gegenüberstanden. Damals begann sie damit, orientalische Einflüsse in die Zubereitung mancher Speisen einfließen zu lassen. Etwas, das Unsere Gäste kommen aus der ganzen Region. Vertreten sind alle Generationen von jungen Paaren über Menschen im mittleren Alter bis zu Senioren. den Felsen heute so charakteristisch macht, stieß damals nicht bei allen Gästen auf Begeisterung. „Sie wollten den alten Felsen mit der gutbürgerlichen deutschen Küche zurück“, blickt die Wirtin und leidenschaftliche Köchin zurück. Kilicoglu war aber von den Erfolgschancen ihrer Ideen überzeugt! „Wir mussten lange kämpfen“, erinnert sie sich. Dann seien aber immer mehr auswärtige Gäste gekommen, zum Beispiel aus Dauchingen, Villingen, Weilersbach, Trossingen und Tuttlingen. Denen gefiel der Felsen, und sie lernten Safiye Kilicoglus besondere Küche sehr schnell zu schätzen. „Sie erzählten es herum, und dann kamen allmählich auch die Schwenninger“, freut sich die Wirtin. Inzwischen gehören auch je276 Gastlichkeit

 

 

 

Bei festlichen Anlässen kann der Felsen im Rahmen von Catering bis zu 800 Personen bewirten. ne Schwenninger zu ihren Gästen, die den Felsen noch unter Wirtin Theresa Rödel gekannt hatten; jene Frau, bei der Kilicoglu unter anderem gelernt hat, Spätzle selber zu machen. „Unsere Gäste kommen aus der ganzen Region. Vertreten sind alle Generationen von jungen Paaren über Menschen im mittleren Alter bis zu Senioren.“ Catering und Großveranstaltungen im Angebot Wer möchte, kann sich mit seiner Gesellschaft im Felsen bei festlichen Anlässen verwöhnen lassen; zum Beispiel bei Geburtstagen, Hochzeiten, Weihnachtsund Betriebsfeiern. Zum Angebot des Felsen gehört auch Catering für Großveranstaltungen bis zu 800 Personen. Zum Getränke-Angebot des Felsen zählt neben beliebten Standards eine große Auswahl an Weinen aus Deutschland, Italien, Spanien und dem Orient. Die Zutaten für die Speisen kommen sowohl aus der hiesigen Region als auch von weiter her, zum Beispiel aus der Heimat von Kilicoglus Familie, die sowohl von türkischen als auch von arabischen Einflüssen geprägt ist. Das Fleisch für die beliebten Steaks bestellt die Wirtin bei Prohoga in Schwenningen; es ist Premiumfleisch aus Argentinien. Seit 2011 betreibt Safiye Kilicoglu den Felsen gemeinsam mit ihrem neuen Partner Saśa Cukovic. „Ich koche, er kümmert sich um den Service“, verrät die Betreiberin. Insgesamt ist das Felsen-Team sieben Personen stark. Restaurant Felsen Turnerstraße 63 78054 Villingen-Schwenningen Geöffnet von Donnerstag bis Sonntag jeweils von 17 Uhr bis 1 Uhr. Reservierungen unter Tel.: 07720 / 35831 oder per Mail unter info@felsen-vs.de. Weitere Informationen und die Speisekarte gibt es auf www.felsen-vs.de. Restaurant Felsen 277

 

 

 

Im Gespräch mit zwei HöhlenbrüterExperten von Wolf Hockenjos Die beiden St. Georgener Hans Schonhardt (Jahrgang 1942) und Bernhard Scherer (Jahrgang 1957) verbindet ein höchst ungewöhnliches, auch nicht ganz ungefährliches Hobby: Sie kümmern sich um Baumhöhlen und die auf sie angewiesenen, besonders schützenswerten Vogelarten. Das tun sie schon seit etlichen Jahrzehnten, und das mit großem Geschick und sehr erfolgreich. Beruflich gab es kaum Berührungspunkte mit Wald und Vogelwelt: Hans Schonhardt ist Diplomingenieur und Feinwerktechniker, Bernhard Scherer Technischer Angestellter. Wolf Hockenjos, der die Fragen stellt, hatte schon in seiner Zeit als Villinger Forstamtsleiter (von 1980 bis 2004) regelmäßig Kontakt und Erfahrungsaustausch mit den beiden. In einem sehr persönlichen Interview hinterfrägt er die Leidenschaft der beiden Höhlen brüter-Freunde. Ein Sperlingskauz in seiner Höhle. 278 10. Kapitel – Natur und Umwelt

 

 

 

 

 

 

Bernhard und Hans, wie seid ihr beiden überhaupt zu diesem Hobby gekommen? Beruflich habt ihr ja nicht unbedingt mit Ornithologie zu tun gehabt. Bernhard: Als Kind war ich oft mit meinem Großvater im Wald, da ich nicht in den Kindergarten wollte. Er hat mir sehr viel gezeigt und mein Interesse an der Natur geweckt. Später als Technischer Angestellter war ich immer nur „der Waldläufer“. Hans Schonhardt Hans: Mich haben schon als Lehrling die beiden Villinger Ornithologen Helmut Kaiser und Günter Bernauer zu Waldgängen und zur Mitarbeit beim Beringen von Kleinvögeln angeregt. Später erhielt ich von der Staatlichen Vogelwarte Radolfzell selbst die Erlaubnis, Vögel und speziell dann auch Käuze zu beringen. Wobei mein Interesse in den Wäldern neben den Käuzen auch den Ziegenmelkern und den Auerhühnern galt, in der Riedbaar an der Donau, aber auch Wintergästen wie den Saatgänsen und Singschwänen. Welchen Höhlenbrütern unter den Vogelarten gilt euer besonderes Interesse? Bernhard: Das sind vor allem unsere seltenen heimischen Eulenarten, der Raufußkauz und der Sperlingskauz. Und natürlich die Spechtarten, die die Höhlen zimmern. Daneben haben mich aber auch Greifvögel und Raufußhühner immer sehr interessiert, speziell auch das Haselhuhn, das in Baden-Württemberg inzwischen leider ausgestorben ist. Hans: Bei mir sind es außer den Höhlenbrütern neuerdings mehr und mehr auch Rotmilan und Wespenbussard. Mit Kennerblick sucht ihr in den Wäldern nach Bruthöhlen in den Bäumen. Weshalb sind die denn so rar? Bernhard: Wirklich rar sind nur die Höhlen des Schwarzspechts. Das liegt daran, dass er für seine großen Höhlen auch entsprechend starke Bäume braucht. Je nach Baumart und Standort kann er deshalb erst Bäume ab etwa einem Alter von 130 Jahren nutzen, und Bruthöhlen legt er am Stamm meistens recht weit oben an. Im Wirtschaftswald werden ab diesem Alter die Bäume aber in der Regel genutzt, bevor sie diese Stärke erreicht haben. Deshalb Bernhard Scherer mussten wir uns ja auch immer wieder mit dem Aufhängen von Nistkästen behelfen, wodurch der Raufußkauzbestand in den 1990er-Jahren im Raum St. Georgen auf etwa 20 Paare angehoben werden konnte. Aber entscheidender ist das Vorkommen von natürlichen Bruthöhlen. Bei welchen Baumarten werdet ihr am ehesten fündig? Bernhard: Der Schwarzspecht nutzt für den Bau seiner Höhlen sehr gerne die Buchen. Diese sind aber im Schwarzwald-Baar-Kreis nicht sehr häufig. Weißtannen und Kiefern (die sog. „Überhälterkiefern“) werden etwa gleich häufig genutzt. Als Nahrungsquelle nutzt er gerne abgestorbene Bäume, das Totholz. Diese werden glücklicherweise immer öfter stehen gelassen, sofern sie keine Gefahr entlang öffentlicher 280 Natur und Umwelt

 

 

 

Wege darstellen. Die Fichte scheint er eher zu meiden. Der Buntspecht ist nicht wählerisch. Er nutzt alle Baumarten gleichermaßen. Er baut seine Höhlen in dicke und dünne Bäume. Auch in der Höhe ist er nicht wählerisch. Ab etwa einem Meter Höhe bis in die Baumkronen nutzt er alles. Worauf achtet ihr ganz besonders, wenn ihr eine Bruthöhle entdeckt habt? Hans: Wir notieren uns Baumart, Durchmesser, Höhe und Himmelsrichtung des Einfluglochs und tragen das in eine Datenbank ein. Bernhard: Dabei achten wir besonders drauf, wem der Wald gehört. Im öffentlichen Wald ist es leichter, den gesetzlichen Schutz solcher Brutbäume durchzusetzen. Im privaten Wald ist das schon schwieriger. Zunächst müssen wir über den Förster den Waldbesitzer erfragen, um mit ihm Kontakt aufnehmen zu können. Was geschieht dann mit den Höhlenbäumen? Worin genau bestehen eure Schutzaktivitäten? Bernhard: Die Höhlenbäume werden in Brusthöhe farblich mit einer Wellenlinie markiert. Auf diese einheitliche Markierung haben wir uns in Zusammenarbeit mit dem NABU und der Forstverwaltung im Schwarzwald-Baar-Kreis geeinigt. Früher hatte jeder Förster seine eigene Kennzeichnung für schützenswerte Bäume. Das führte gelegentlich dazu, dass Höhlenbäume versehentlich gefällt wurden, etwa, wenn der zuständige Förster im Urlaub oder krank war und Waldarbeiter aus einem anderen Revier den Holzeinschlag durchführten. Eine weitere Schutzmaßnahme ist das Sichern der Bruthöhlen gegen eindringendes Wasser. Bei Starkregen kann Wasser, das am Stamm herunterläuft, in die Höhle eindringen. Das kommt besonders oft bei Buchen vor, da ihre Äste schräg nach oben zeigen und dadurch das Wasser zum Stamm geleitet wird. Aber auch Höhlen, die vom Specht nicht mehr benutzt werden, sind stärker durch eindringendes Wasser gefährdet, da der Baum versucht, die Gut zu erkennen ist die Dachrinne oberhalb der Bruthöhle zum Schutz des Geleges. Ein Schwarzspecht an seiner Bruthöhle, er bevorzugt Buchen. Im Gespräch mit zwei Höhlenbrüter-Experten 281

 

 

 

Öffnung zu schließen. Dadurch bildet sich ein Wulst am unteren Rand. Dieser wird immer größer und kann mit der Zeit dazu führen, dass abfließendes Wasser in die Höhle geleitet wird. Durch das eindringende Wasser können Gelege unter Wasser gesetzt werden oder Jungvögel ertrinken. Ein einfaches Hilfsmittel dagegen ist eine Art Dachrinne. Diese wird über dem Höhlen eingang angebracht und leitet das Wasser an der Höhle vorbei. Weil Bruthöhlenbäume so selten sind, versuchen wir auch, sie etwa nach Stammbrüchen durch Sturm zu sanieren, um sie längstmöglich zu erhalten. Weil Bruthöhlenbäume so selten sind, versuchen wir auch, sie etwa nach Stammbrüchen durch Sturm zu sanieren, um sie längstmöglich zu erhalten. Doch zumeist brechen sie nicht früher ab als andere Bäume, wenn sie nicht schon allzu faul sind. So hatten wir einmal den Fall, dass der einzige Baum, der in einer Sturmschneise stehen blieb, ein Höhlenbaum war. Verbleibt in einem abgebrochenen Stamm noch eine intakte Höhle, so haben wir in einigen Fällen die Bruchstelle schon abgesägt und mit einem Dach gegen Regenwasser gesichert. Diesen Aufwand betreiben wir aber sehr selten und auch nur an Bäumen, die häufig zum Brüten genutzt wurden. Hattet ihr auch schon Unfälle zu verkraften? Hans: Bis jetzt gottlob noch nicht. Früher bin ich mit Stecheisen an den Schuhen hoch geklettert, das war sehr riskant und konnte auch die Baumrinde verletzen. Heute klettern wir mit der Klemmknotentechnik. Bernhard: Unsere Klettertechnik ist im Grunde von den Bergsteigern abgeschaut. Mit dieser Technik können sich Bergsteiger an einem Seil nach oben arbeiten. Nur wird bei uns das Seil durch den Baum ersetzt. Der Nachteil dabei ist aber, dass man möglichst einen astfreien Stamm braucht. Zum Glück sind die meisten Schwarzspechthöhlen in Bäumen mit astfreiem Schaft. Aber einzelne Äste können auch überstiegen werden. Dazu braucht man ein drittes Seil und etwas Geschick. Ihr müsst euch jedenfalls mit den Waldeigentümern ins Benehmen setzen? Bernhard: Ja, gerade im Privatwald ist das wichtig. Sonst kann es passieren, dass der Waldeigentümer glaubt, der „faule“ Baum wäre vom Förster zum Entfernen markiert worden. Das ist uns schon passiert. Da es im Wald oft schwierig ist, Besitzgrenzen zu erkennen, hatten wir den Privatwaldbesitzer nicht rechtzeitig informiert, und so ist der Baum der Säge zum Opfer gefallen. Im öffentlichen Wald hat sich die einheitliche Markierung so gut durchgesetzt, dass es eigentlich keiner besonderen Absprache mehr bedarf. Wertet ihr eure Arbeit auch statistisch aus, um Aussagen über das Vorkommen und über den Bruterfolg der Höhlenbewohner zu erhalten? Bernhard: Ja, aber nur in bescheidenem Rahmen: Unsere Daten gehen an das „Monitoring Greifvögel und Eulen Europas“ der Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale. Über den Bruterfolg können wir allerdings keine Statistik führen. Die Jungen der verschiedenen Bruten einer Art fliegen häufig innerhalb weniger Tage aus. Gerade beim Raufußkauz müssten wir nachts die bettelnden Jungen verhören, um die Anzahl zu ermitteln. Das schaffen wir zeitlich nicht. Wir machen das ja nur so nebenbei als Hobby. Die Arbeit der beiden Höhlenbrüter-Experten aus St. Georgen ist nicht ungefährlich. Der Schutz von Baumhöhlen führt die beiden regelmäßig in den Wipfelbereich der Bäume. 282 Natur und Umwelt

 

 

 

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Höhlenwie Horstbäume stehen ja unter gesetzlichem Schutz – wie sieht es mit Kontakten zur Naturschutzbzw. Forstbehörde aus? Bernhard: Der Kontakt funktioniert auf allen Ebenen sehr gut! Inzwischen markieren viele Förster Höhlenbäume, die sie finden, gleich selbst. Da freuen wir uns, wenn wir vor einem markierten Höhlenbaum stehen, den wir noch nicht gekannt haben. Vom Regierungspräsidium Freiburg haben wir eine Naturschutzrechtliche Ausnahmeerlaubnis bzw. Befreiung für Maßnahmen des Artenschutzes erhalten. Ansonsten würden wir uns mit unserem Tun ja auch strafbar machen, da es sich bei den Höhlenbewohnern um besonders geschützte Arten handelt. Für den Staatswald gibt es seit 2010 ein Altund Totholzkonzept, das verbindlich umzusetzen ist. Danach muss eine Mindestzahl von markanten Einzelbäumen, von Baumgruppen und Waldbiotopen aus der Bewirtschaftung entlassen werden. Hat sich das schon auf euer Hobby ausgewirkt? Hans: Ja, das Konzept hat sich bewährt, denn da und dort dürfen Bäume jetzt doch ihr natürliches Alter erreichen, und es bleibt deutlich mehr Totholz stehen als früher. Das ist gut für die Spechte, die dort Nahrung finden, aber auch ihre Bruthöhlen darin bauen. Wie kommt es, dass ihr inzwischen nicht nur Ansprechpartner für Spechte und Käuze seid, sondern auch für den „Charaktervogel“ des Schwarzwalds, das Auerhuhn? Hans: Seit meinen ersten Waldgängen war das Auerhuhn für mich eine ganz normale Vogelart, das ich natürlich auch bei der Balz beobachten wollte, auch wenn die Hahnenjäger das nicht so gerne sahen; später habe ich in der AuerhuhnHegegemeinschaft der Jäger mitgearbeitet – und dabei natürlich auch den so bedauerlichen Niedergang dieser Vogelart miterlebt. Bernhard: Auch ich interessiere mich schon seit Jahrzehnten für das Auerhuhn und setze mich für seine Erhaltung ein. Leider sind die wirtschaftlichen Interessen bei der Behandlung der Wälder zu groß, um den Auerhühnern genug Lebensraum zu lassen: Die Wälder sind zu dicht und zu dunkel, um diesen schönen Hühnervögeln einen geeigneten Lebensraum zu bieten. Links: Im Nistkasten ein Kauzgelege, erkennbar an den auffallend runden Eiern der Höhlenbrüter. Rechts: Junge Raufußkäuze im Daunenkleid. 284 Natur und Umwelt

 

 

 

Balzender Auerhahn – vom Aussterben bedroht. Foto: Erich Marek

 

 

 

Bewohner von Bruthöhlen sind auch Hohltaube, Baummarder und selbst die Honigbiene. Was sind eure größten Sorgen und was eure größten Erfolgserlebnisse? Hans: Am meisten macht mich der allgemeine Rückgang der Vogelpopulationen besorgt und betroffen; die Verarmung der Insektenwelt macht sich eben auch im Wald bemerkbar. Da ist es dann ein großes Erfolgserlebnis, wenn eine bei uns bisher nicht notierte Vogelart wie etwa die Hohltaube mehrfach in einer unserer Höhlen brütet. Das ist dann schon ein besonderer Grund zur Freude! Bernhard: Unsere große Sorge ist, dass das Alter und die Dimensionen, in denen im Wirtschaftswald die Bäume genutzt werden, weiter abgesenkt werden aus Gründen des rentableren Einsatzes der großen Holzerntemaschinen. Je weniger alte und starke Bäume es im Wald gibt, desto weniger Auswahl hat der Schwarzspecht für seine Brutbäume. Am allermeisten aber macht mich besorgt, dass das Auerhuhn bei uns genauso aussterben könnte wie das Haselhuhn. Da müsste sehr viel mehr für die Verbesserung des Lebensraumes gemacht werden als bisher! Unser größter Erfolg war vermutlich die Anhebung des Raufußkauzbestandes im Raum St. Georgen. Durch das Aufhängen von Nistkästen ist es uns gelungen, den Bestand um 1990 im Raum St. Georgen auf rund 20 Paare anzuheben. Dabei haben wir mit Sicherheit auch von einer allgemeinen positiven Bestandsentwicklung profitiert. In diesem Zeitraum wurde im Rahmen einer Diplomarbeit eine Beringungsaktion durchgeführt, die erstaunliche Ergebnisse erbracht hat. So wurde im Schweizer Jura ein brütendes Weibchen beringt, das nur wenige Wochen später bei St. Georgen wiedergefangen wurde, als es eine Zweitbrut begann. Ein bei St. Georgen beringter Jungvogel wurde in Bel gien wiedergefangen. Die beiden Beispiele zeigen, wie wanderfreudig diese kleinen Käuze sind. Inzwischen ist der Bestand leider wieder rückläufig und auf das Ausgangsniveau von etwa drei Paaren abgesunken. Das hängt zum Teil 286 Natur und Umwelt

 

 

 

damit zusammen, dass der Bestand zurzeit fast überall zurückgeht, aber auch daran, dass wir die Nistkastenaktion (altershalber) zurückgefahren haben. Ein weiterer Grund könnte auch die starke Zunahme des Baummarders sein. Wo früher ein Raufußkauz aus der Höhle schaute, schaut jetzt öfters ein Baummarder heraus. Welche sonstigen Arten profitieren denn vom Schutz der Höhlenbäume? Bernhard: Die Spechthöhlen, speziell die großen Schwarzspechthöhlen, werden auch von dem bei uns nicht so häufigen Grünspecht, vom Waldkauz und von der Hohltaube genutzt, wie eben auch von Eichhörnchen und Baummardern, ja sogar von Honigbienen. Nur Bilche, also die bei uns heimischen Siebenschläfer, Gartenschläfer und Haselmäuse, haben wir nur selten gefunden. Der Kleiber pflegt die Höhleneingänge oft so zu „verkleiben“, dass nur noch er und die Meisen Zugang haben. Eine Besonderheit ist der Sperlingskauz, die mit Abstand kleinste Eulenart. Er brütet meistens in Buntspechthöhlen oder in den Höhlen des bei uns selten vorkommenden Dreizehenspechtes. Sperlingskäuze waren ursprünglich nicht selten im Schwarzwald. Doch in den 1960er-Jahren hatte ihr Bestand einen Tiefpunkt. Über die Ursachen gibt es unterschiedliche Meinungen. Am wahrscheinlichsten scheint uns, dass der Sperlingskauz genauso wie der Wanderfalke unter den Auswirkungen der Pestizide zu leiden hatte. Die Parallelen sind auffällig. Beide Arten sind Vogeljäger und stehen am Ende der Nahrungskette und sie erholten sich, nachdem die schlimmsten Gifte verboten wurden. Bernhard und Hans, nach diesem Ausflug in die Welt der Höhlenbrüter und weit darüber hinaus möchte ich euch danken für das Gespräch, das wir aus Gründen der Corona-Pandemie digital führen mussten – ganz besonders aber danke ich euch für euren unermüdlichen Einsatz draußen im Wald! Beim Auskundschaften von Höhlen bäumen. Die St. Georgener Hans Schonhardt und Bernhard Scherer verbindet ein ungewöhnliches Hobby: Sie kümmern sich um Baumhöhlen und die auf sie angewiesenen, besonders schützenswerten Vogelarten. 287

 

 

 

Das Sturmtief Sabine verursachte im Schwarzwald-BaarKreis ca. 400.000 Kubikmeter Sturmholz. Besonders betroffen waren die Waldgebiete bei Furtwangen, hier oberhalb des Gymnasiums entlang der Rabenstraße. 288 Natur und Umwelt

 

 

 

Wie sieht der Wald der Zukunft aus ? Waldzustand nach Sturm Sabine und Borkenkäfer von Dr. Frieder Dinkelaker 289

 

 

 

In der Nacht von 9. auf 10. Februar 2020 und erneut von 27. auf 28. Februar fegten die Stürme Sabine und Bianca über Deutschland hinweg. In BadenWürt tem berg war vor allem der Schwarzwald von Orkanböen betroffen, Teile des Schwarzwald-Baar-Kreises gehörten mit zu den vom Sturm am heftigsten verwüsteten Gebieten. Den Höhepunkt erreichte Sabine am 10. Februar gegen ein Uhr in der Nacht mit Orkanböen von 110 bis 120 Kilometer in der Stunde in Furtwangen, Triberg und Villingen-Schwenningen. Die Wetterdienste hatten vorgewarnt und so trafen sich Katastrophenschutz, Feuerwehren und weitere Teile der Landkreisverwaltung bereits am Sonntag, 9. Februar, um Vorbereitungen zu besprechen. Auch die Feuerwehren befanden sich in Alarmbereitschaft als die Sturmböen einsetzten. Der Sturm Sabine tobte am 9. Februar 2019 die ganze Nacht, Straßen mussten wegen umgestürzter Bäume gesperrt werden. Im Bregtal war die Stromund Wasserversorgung kurze Zeit unterbrochen. Schulen wurden geschlossen, da die Zufahrten nicht oder nicht sicher ermöglicht werden konnten. Fieberhaft arbeiteten alle Einsatzkräfte daran, wichtige Verkehrsachsen wieder befahrbar zu machen. Bis am Mittwochmorgen war auf den Straßen weitgehend wieder Normalität eingekehrt und der Verkehr konnte fließen. Der zweite Sturm Bianca am 27. Februar richtete vor allem in den Wäldern der Baar großen Schäden an, die Verkehrswege blieben dagegen einigermaßen verschont. Schäden und Schadensinventur in den Wäldern Waldeigentümern und Forstverwaltungen wurde schnell klar, dass die Stürme in den Wäldern im Schwarzwald-Baar-Kreis erhebliche Schäden angerichtet hatten. Nach den Orkanen Vivian und Wiebke 1990 und Lothar 1999 waren die Februarstürme 2020 damit das dritte große Sturmereignis mit weitreichenden Folgen für die Wälder. Nachdem die öffentlichen Straßen freigeräumt waren, galt es, in den Wäldern die Hauptwege wieder benutzbar zu machen. Jedoch war klar: Die Wälder werden erst betreten, wenn die Sturmsituation vollständig zum Erliegen gekommen ist. Die vier großen Forstorganisationen im Kreis – das Kreisforstamt, das kommunale Forstamt Villingen-Schwenningen, der seit dem 1. Januar 2020 für den Staatswald zuständige Landesbetrieb ForstBW sowie der fürstlichfürstenbergische Forstbetrieb – standen dazu in engem Austausch. Die ersten Prognosen beliefen sich noch auf ca. 250.000 Kubikmeter Sturmholz. Im Laufe der Aufarbeitung in den kommenden Wochen und Monaten musste diese Zahl jedoch deutlich nach oben korrigiert werden: Nach Abschluss der Sturmholzaufarbeitung im Sommer 2020 zeigte sich, dass vom Sturm im Schwarzwald-Baar-Kreis 350.000 bis 400.000 Kubikmeter Holz geworfen wurden. Sofortmaßnahmen und Aufarbeitungsstrategie An erster Stelle bei allen Überlegungen zur Sturmholzaufarbeitung steht die Sicherheit der Menschen. Alle anderen Aspekte, wie die Maximierung der Aufarbeitungsgeschwindigkeit oder der schnelle Zugang zu Wäldern zum Zwecke der Erholung, müssen sich diesem Grundsatz unterordnen. Für alle im Wald tätigen Personen, vor allem Waldeigen tümer und Forstwirte, wurden über das Kreisforstamt spezielle Schulungen zur Sturmholz-Aufarbeitung organisiert. Dank gilt an dieser Stelle der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und dem Hauptstützpunkt in Bonndorf, die diese Schulungen schnell und kompetent angeboten, organisiert und durchgeführt haben. 290 Natur und Umwelt

 

 

 

Die Beseitigung des Sturmholzes erfordert viel Fachwissen, das vom Kreisforstamt im Rahmen von Schulungen vermittelt wurde. Sturmholz kann, insbesondere wenn ganze Flächen geworfen wurden, nur mit Unterstützung von Forstspezialmaschinen aufgearbeitet werden. Im Schwarzwald-Baar-Kreis sind zahlreiche Forstunternehmer tätig, die diese Aufgabe professionell und gut beherrschen. Zusammen mit den Regiearbeitskräften der kommunalen Forstbetriebe, aber auch mit zusätzlicher Unterstützung durch Forstunternehmen aus Nachbarlandkreisen, konnte somit unmittelbar nach Abklingen des Sturmes mit der Aufarbeitung begonnen werden. Die Zeit drängte! Nach Sturmwürfen droht in Fichtenwäldern eine massive Vermehrung von Borkenkäfern. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Geworfenes, abgebrochenes oder anderweitig geschädigtes Holz ist ein idealer Brutraum für Borkenkäfer. Dieses steht nach Stürmen reichhaltig zur Verfügung! Und nach den warmen und trockenen Sommern 2018 und 2019 mit bereits hohen Borkenkäferdichten war klar, dass alles getan werden musste, um der Ausbreitung des Borkenkäfers entgegenzuwirken. Vorrangiges Ziel war es deshalb, das aufgearbeitete Holz sofort in die Sägewerke und holzverarbeitenden Industrien zu bringen. Die jahrzehntelange gute Zusammenarbeit der Forstbetriebe im Schwarzwald-Baar-Kreis mit den Sägewerken im näheren Umfeld hat sich hierbei von großem Vorteil erwiesen. Die trockene Witterung im März hat zwar den Bäumen nicht gutgetan, war aber für die schnelle Aufarbeitung und Abfuhr des Holzes von großem Vorteil. Alles hatte gut angefangen – dann sorgte aber die Corona-Pandemie auch in den Sägewerken Wie sieht der Wald der Zukunft aus? 291

 

 

 

für reduzierte Absatzmöglichkeiten, verkürzte Arbeitsschichten und damit für einen stockenden Abfluss des Holzes aus den Wäldern. Aufarbeitung von Sturmholz mit Zangenschleppern. Eine sichere Aufarbeitung von Sturmschäden im Wald ist nur mit Hilfe von Spezialmaschinen möglich. Bis Anfang Juli 2020 war das Sturmholz in die Nasslager im Kreis weitgehend eingelagert und ca. 150.000 Kubikmeter Holz waren unter Wasser. Schutz der Wälder vor weiterem Käferbefall – Waldschutzstrategie und Nasslager Zum Schutz stehender Waldbestände vor weiterem Borkenkäferbefall war es damit erforderlich, auch andere Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehören zum Beispiel die Entrindung von Holz, vor allem aber die Lagerung außerhalb des Waldes, am besten auf Nasslagern. Verstärkt durch den zögerlichen Holzabfluss in Folge der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass eine zielgerichtete Holzlogistik nur mit großen lokalen Holzlagern außerhalb des Waldes möglich sein würden. Im Schwarzwald-BaarKreis waren bereits vor den Februarstürmen 2020 mehrere Nasslager im Betrieb, für weitere Nasslager bestanden noch wasserrechtliche Genehmigungen. Mit großem Engagement und Einsatz der Forstverwaltungen wurde die Nasslager-Logistik vorbereitet. Die Plätze nah bei Flüssen mussten teilweise ertüchtigt, vorbereitet und die erforderlichen Genehmigungen eingeholt werden. Neue Pumpen, Rohre, Schläuche und Regner wurden beschafft und mit dem Aufbau begonnen. Und es wurde so schnell wie möglich mit der Einlagerung des Sturmholzes begonnen. Bis Anfang Juli 2020 war das Sturmholz in die Nasslager im Kreis weitgehend eingelagert und ca. 150.000 Kubikmeter Holz waren unter Wasser (s. S. 293). Hoher Käferholzanfall in den Vorjahren, ein warmes und trockenes Frühjahr und große Mengen Brutmaterial im Wald: Damit war klar, dass im Schwarzwald-Baar-Kreis dennoch wieder ein Borkenkäferjahr bevorstehen würde. Kaum war das Sturmholz aufgearbeitet, mussten bereits wieder die ersten frisch vom Borken292 Natur und Umwelt

 

 

 

Nasslager entzieht holzschädigenden Pilzen und Insekten die Lebensgrundlage Das Verfahren basiert auf dem Prinzip der dauerhaften Erhaltung hoher Holzfeuchte mittels künstlicher Beregnung. Das Poren system der eingelagerten Hölzer bleibt mit Wasser gefüllt und verhindert damit ein Eindringen der Luft bzw. den Zutritt von Sauerstoff. Holzschädigenden Pilzen und Insekten wird damit die Lebensgrundlage entzogen. Die Nasslagerung von Holz ist das einzige Holzkonservierungsverfahren, das es bei sachgerechter Durchführung ermöglicht, große Holzmengen über mehrere Jahre hinweg unter Beibehaltung der Holzqualität zu lagern. Mittlerweile ist ein großes Repertoire an Informationen und „Know-how“ über Nasslagertechnik vorhanden. Nasslagerung wird von einem Großteil der Sägeindustrie als Lagerungsmethode anerkannt und gutgeheißen. Im Vordergrund bei diesen Maßnahmen steht der Werterhalt der Hölzer. Gleichzeitig dienen die Nasslager dazu, den Holzmarkt zu entlasten und die Holzpreise auf Dauer zu stabilisieren. Des Weiteren wird durch sie der Insektizideinsatz vermieden. Nasslagerplätze bei Rietheim (oben) und im Wieselsbachtal bei VS-Pfaffenweiler (Mitte rechts). Im Schwarzwald-Baar-Kreis sind die großen Nasslager an den drei Flüssen Donau, Brigach und Breg eingerichtet. Regelmäßige Untersuchungen der Gewässergüte stellen sicher, dass keine übermäßige Belastung des Wassers entsteht. Für alle Nasslagerplätze wurde eine wasserrechtliche Genehmigung erstellt. Wie sieht der Wald der Zukunft aus? 293

 

 

 

käfer befallenen Bäume eingeschlagen und das Holz aus dem Wald gebracht werden. Die Februarstürme 2020 und die Folgen für die Waldentwicklung im Schwarzwald-Baar-Kreis Störungen der Waldentwicklung durch Stürme, Feuer oder Insektenschäden gehören zur natürlichen Dynamik in Waldökosystemen. Naturnahe und standortgerechte Wälder sind durchaus in der Lage, sich nach einer solchen Störung wieder selbst zu regenerieren und zu verjüngen. Je nach Ausgangssituation und Rahmenbedingungen kann diese Entwicklung jedoch viele Jahrzehnte dauern und führt zu Vegetationsformen, die nicht unseren heutigen Vorstellungen von multifunktionalen Waldbeständen entsprechen. Es ist also zielführend, ein Ziel bei der Waldentwicklung zu bestimmen und diese Entwicklung auch aktiv durch Förderung der Naturverjüngung, aber auch durch Pflanzung und Pflege junger Bestände zu steuern. Hierzu bestehen grundsätzlich detaillierte Kenntnis und Erfahrung über die forstliche Standortskartierung und das badenwürttembergische Waldbauprogramm, die Richtlinie landesweiter Waldentwicklungstypen. Erschwert wird die Zieldefinition durch die seit Langem prognostizierte, aber in den letzten Jahren immer deutlicher spürbare Klimaerwärmung. Im Schwarzwald-Baar-Kreis werden durch seine vielfältigen landschaftlichen, geologischen und standörtlichen Gegebenheiten die Wälder unterschiedlich betroffen sein. Die Höhenlagen des Schwarzwaldes In den Höhenlagen des Schwarzwaldes im Westen des Landkreises stehen heute ausgedehnte Fichtenwälder, an einigen Bereichen gemischt mit Buchen und Tannen. Der hohe Fichtenanteil ist vom Menschen gemacht: Von Natur aus wachsen im Hochschwarzwald Buchen-Tannenwälder zusammen mit vielen Mischbaumarten wie zum Beispiel dem Bergahorn oder der Vo gelbeere. Fichten und Kiefern würden sich im vom Menschen unbeeinflussten Wald auf Sonderstandorte wie Moore oder Felsregionen beschränken. Der gezielte Anbau und die FörNaturnahe Waldbewirtschaftung in Baden-Württemberg Kennzeichnendes Prinzip dieser Form der Waldbewirtschaftung ist die Ausnutzung natürlicher Abläufe in Wäldern, um forstbetriebliche Ziele zu erreichen. Pflanzungen oder Pflegemaßnahmen begleiten diese Abläufe, wenn die Erreichung der Ziele auf natürlichem Wege nicht möglich ist. Dazu notwendige waldbauliche Entwicklungsund Behandlungskonzepte sind in der „Richtlinie landesweiter Waldentwicklungstypen“ zusammengefasst, diese Richtlinie gilt als das Waldbauprogramm Baden-Württembergs. Die Richtlinie wird laufend überarbeitet und an neue Klimaund Umweltbedingungen, aber auch an veränderte Zielsetzungen der Waldeigentümer angepasst. Eine wichtige Grundlage für alle waldbaulichen Entscheidungen ist die Kenntnis des forstlichen Standorts, also der Summe aller Einflussfaktoren auf das Baumwachstum. Dazu gehört die Kenntnis des Ausgangsgesteins, der Bodenart, des Wasserhaushalts, der Begleitvegetation und vieler weiterer Faktoren. Diese Informationen werden im Rahmen der forstlichen Standortskartierung erhoben und in Karten dargestellt. derung der Fichte in vergangenen Jahrzehnten wird seit rund drei Jahrzehnten wieder zurückgeführt, zugunsten vor allem von Buche, Tanne und Bergahorn. Diese Baumarten befinden sich auf dem Vormarsch, vor allem auch in der natürlichen Verjüngung. Dieses gelingt aber insbesondere bei der Tanne nur bei angepassten Wildbeständen! Aus heutiger Sicht wird diese Entwicklung auch bei zunehmenden Jahresdurchschnittstemperaturen so weitergehen, die Wälder im Hochschwarzwald werden sich über die Jahrzehnte zu Buchen-Tannenwäldern mit Fichten und anderen Mischbaumarten entwickeln. Besonders wichtig ist bei allen Anstrengungen um eine naturnahe Waldentwicklung die Risiko streuung, 294 Natur und Umwelt

 

 

 

Der Wald der Zukunft soll sich in den Höhenlagen des Schwarzwaldes hauptsächlich aus Buche und Tanne zusammensetzen, noch aber dominiert die Fichte. also die Beteiligung möglichst vieler Baumund anderer Pflanzenarten am Waldaufbau. Die Buntsandsteinplatte Der größte Teil der Waldflächen im Zentrum und im Norden des Schwarzwald-Baar-Kreises liegt auf den verschiedenen Schichten des Buntsandsteins auf Höhenlagen zwischen 1.000 und 700 m. Auf den natürlich sauren Standorten wachsen vor allem Tannen, Kiefern und Fichten. Auch in diesen Wäldern hatte sich bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts der von Natur aus hohe Tannenanteil durch menschliches Handeln, aber auch durch Wildverbiss stark reduziert. Angepasste Jagdstrategien und aktive Pflanzungen konnten diese Entwicklung stoppen und in einzelnen Forstbetrieben sogar umkehren. Die bodensauren, hoch gelegenen Buntsandsteinböden der Baar gelten als einer der wenigen Waldstandorte in Baden-Württemberg, auf denen auch bei der prognostizierten Klimaveränderung die Baumart Fichte noch geeignete Standortbedingungen vorfindet. Aber auch auf diesen Standorten ist zu erwarten, dass Tanne und Kiefer, Vogelbeere und Buche langfristig stärker in den Beständen beteiligt Wie sieht der Wald der Zukunft aus? 295

 

 

 

sein werden. Grund zur Besorgnis gaben in den letzten Jahren vor allem auch die lang anhaltenden Dürreund Hitzephasen im Frühjahr und Hochsommer, die zu großer Trockenheit und dadurch massiver Schädigung des Feinwurzelsystems der Bäume führten. Einzelne Bäume sind nicht durch Stürme oder Käferbefall abgestorben, sondern schlicht vertrocknet – und das auf der eigentlich für kühle Temperaturen und hohe Niederschläge bekannten Baar! Albtrauf und Randen Ganz anders sind die Bedingungen für das Waldwachstum im Südosten des Landkreises auf den kalkhaltigen Böden des weißen Jura im Gebiet der Länge und des Randen. Diese Wälder bieten von Natur aus ideale Bedingungen für die Baumart Buche in Gesellschaft mit Bergahorn, vielen anderen Laubbaumarten und der Tanne. Die vom Menschen eingebrachten Fichten dagegen werden sich langfristig auf diesen Standorten nicht halten können. Das zeigen die Sturmschäden, aber auch der besonders starke Befall mit Borkenkäfern. Auf diesen Flächen, auf denen häufig noch keine Naturverjüngung vorhanden ist, ist die Wiederbewaldung eine besondere Herausforderung. Standortgerechte Baumarten wie zum Beispiel Eichenarten, die Wildkirsche oder Ahornarten müssen gepflanzt, gepflegt und gegen Wildverbiss geschützt werden, um eine erfolgreiche Verjüngung zu gewährleisten. Baumhasel, Libanonzeder, Tulpenbaum und Co ? Kaum ein Artikel zur Waldentwicklung in Baden-Württemberg, in dem die drei oben genannten Baumarten nicht als mögliche Option für künftige Anbauten genannt werden. Auch im Schwarzwald-Baar-Kreis gibt es bereits kleinflächige Anbauversuche dieser und anderer Baumarten, die bisher in unseren Wäldern nicht vertreten sind. Außerdem haben sich die aus Amerika stammende Douglasie und Roteiche bereits in kleinen Teilen in die Waldbestände integriert. Großflächige, aktive WaldumbauIm Großraum Blumberg, von Albtrauf und Randen, ist die Buche in Gesellschaft mit dem Bergahorn die vorherrschende Baumart. Das Foto zeigt den Hohen Randen bei Blumberg. maßnahmen sind aber aus heutiger Sicht nicht angezeigt. Vielmehr gilt es noch sorgfältiger als bisher, Wälder auf standörtlicher Grundlage zu entwickeln. Dies wird zwangsläufig zu einem Rückgang der Fichtenanteile führen. Damit die Tanne als einheimische und standortgerechte Baumart diese Anteile auffüllen kann, bedarf es aber intensiver waldbaulicher und forstbetrieblicher Anstrengungen. Dazu gehören an erster Stelle eine intensive Bejagung des Rehwildes und regelmäßige Pflege und damit Auflichtung der Waldbestände, nur dann können sich Nadelholzbestände natürlich verjüngen. Flächen, auf denen Naturverjüngung ausbleibt, müssen schon unter dem Schirm der Altbestände mit Tannen bepflanzt werden. Klimawandel erfordert eine naturnahe Waldentwicklung Der Klimawandel findet bereits statt. Seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881 hat sich bis 2018 die Jahresdurchschnittstemperatur bereits um 1,5 °C erhöht und es ist davon auszugehen, dass es in Zukunft deutlich schneller wärmer wird. Mit dem Klimawandel wird sich das Waldschutzrisiko deutlich verschärfen, es wird zu häufigeren und extremeren Klimaereignissen kommen. Dabei werden die Wälder im Schwarzwald-Baar-Kreis Wälder bleiben. Aber die Umweltund Standortbedingungen für verschiedene Baumarten werden sich verändern. Diese Wälder werden anders zusammengesetzt sein, ihre Funktionen werden folglich einem Wandel unterliegen. Nicht zuletzt werden sich zudem künftige Nutzungsanforderungen der Gesellschaft verändern. Um diese Waldfunktionen auch in Zukunft zu gewährleisten, ist weiterhin eine Förderung der naturnahen Waldentwicklung sowie eine breite Risikostreuung das beste Mittel der Wahl. 296 Natur und Umwelt

 

 

 

Baumarten im Landkreis Die FICHTE ist die häufigste Baumart bei uns. Sie gilt als leicht zu verjüngen und liefert hervorragendes, vielseitig verwendbares Holz. Allerdings setzen ihr besonders in den letzten Jahren Dürre, Borkenkäfer und Stürme zu. Auf trocken-warmen Standorten wird sie verschwinden. Die TANNE ist der Charakterbaum des Kreises. Konkurrenz zur Fichte und Wildverbiss haben ihren natürlich hohen Anteil in unseren Wäldern stark zurückgehen lassen. Bei naturnaher Bewirtschaftung und waldgerechter Bejagung hat sie das Zeug, auf vielen Standorten die Fichte zu ersetzen. Die BUCHE ist die häufigste Laubbaumart im Kreis, im Westen und Süden ist sie auch über natürliche Verjüngung auf dem Vormarsch. Ihr Anteil in allen Wäldern im Landkreis wird weiterhin zunehmen. Die STIELEICHE kommt bisher nur selten vor, vor allem im Osten des Kreises. Trockenheit und Wärme erträgt sie gut, ihr Anteil an unseren Wäldern wird deshalb zunehmen. Der BERGAHORN verjüngt sich gut und scheint auch mit Wärmeund Trockenperioden gut zurechtzukommen. Schon jetzt ist er eine willkommene Mischbaumart und wird als solche weiter an Fläche gutmachen. Die ESCHE war bis vor wenigen Jahren ein wichtiger Bestandteil unserer LaubholzMischwälder. Das durch eine Pilzart verursachte Eschentriebsterben lässt sie derzeit aber zunehmend aus den Wäldern verschwinden. Nicht heimische Arten Die DOUGLASIE stammt aus Amerika. Sie ist sehr tolerant gegenüber Sommertrockenheit. Als Lieferant sehr guten Holzes kann sie an vielen Orten zusammen mit Tanne und Buche die Fichte ersetzen. Auch die ROTEICHE kommt ursprünglich in Amerika vor. Sie hat ähnliche Standortsansprüche wie die heimischen Eichenarten, wächst aber wesentlich schneller und kann somit eine gute Begleitbaumart in Buchenwäldern werden. Wie sieht der Wald der Zukunft aus? 297 297

 

 

 

Von „Sabine“ gekappt: die Große Eggwaldtanne Die Weißoder Edeltanne ist, ähnlich der Eiche unter den Laubhölzern, durch den Adel der Gestalt wie durch das Alter und die riesigen Dimensionen, welche einzelne besonders günstig entwickelte Exemplare erreichen, unstreitig die Königin unserer Nadelhölzer. (Ludwig Klein: Bemerkenswerte Bäume im Großherzogtum Baden. Heidelberg 1908) von Wolf Hockenjos Die schlechten Nachrichten aus dem vom Klimawandel gestressten Wald wollen derzeit nicht abreißen: Drei trockenheiße Sommer nacheinander, Waldbrände, Winterstürme und Borkenkäfer-Massenvermehrungen haben zu derart gravierenden Schäden geführt, dass die Regierungen umfangreiche Hilfspakete schnüren mussten. Denn all das Schadholz kann der – zudem auch noch vom Corona-Virus geschwächte – Markt nicht mehr aufnehmen. Und wenn doch, so zu tief in den Keller gerutschten Preisen. Nie seit dem Jahr 1985, seit dem Höhepunkt des Waldsterbens, waren die Kronen der Nadelbäume schütterer benadelt als nach dem Trockenjahr 2019, vermeldet der jüngste Waldzustandsbericht des Stuttgarter Agrarministeriums. Selbst die als sturmfest und klimahart geltende, gegen Borkenkäfer vergleichsweise An der Abbruchstelle noch ein Dreiviertelmeter stark: der abgerissene Wipfel. 298 Natur und Umwelt

 

 

 

unempfindliche Weißtanne erweist sich mittlerweile als ungewohnt krisenanfällig: Insbesondere auf sonnseitigen und flachgründigen Hangstandorten kam es durch die extreme Trockenheit nicht mehr nur zu flächigem Absterben von Fichtenbeständen, sondern zumindest nesterweise auch von vermeintlich kerngesunden Bergmischwäldern mit Tannen und Buchen. Kein Wunder, dass in den Medien neuerdings von Waldsterben 2.0 die Rede ist. Ein „Ungetüm“ von Weißtanne Und nun also auch noch dies: Im Wald der Gemeinde Brigachtal (einst Überauchen) hat es die weit über 200-jährige Große Eggwaldtanne erwischt – ein wahres Ungetüm von einer Weißtanne mit einer Höhe von knapp 50 m, einem Umfang in Brusthöhe von 5,20 m und mit ihrem Stammvolumen von über 30 Festmetern eine der stärksten Tannen des Schwarzwalds, die mächtigste des Schwarzwald-Baar-Kreises allemal! Der orkanartige Wintersturm Sabine vom 9. Februar 2020 hat ihr in ca. 30 Meter Stammhöhe die gewaltige Krone heruntergerissen. Die liegt jetzt zerschmettert, an der Abbruchstelle noch immer einen Dreiviertelmeter stark, ein Stück abseits im Unterholz. Die enormen Maße der Tanne waren schon deshalb kaum aufgefallen, weil der Gigant versteckt und eingetieft am Bachbett der Hofbächleschlucht herangewachsen ist und daher kaum aus dem Bestandsdach des Eggwalds heraus geragt war. 2013 wurde die Tiefstaplerin mit einem Spezialinstrument zur Altersbestimmung sorgfältig untersucht: Mit einem auf Holzdichte kalibrierten Resistographen, dessen feine Nadel bis zu einer Bohrtiefe von einem Meter in den Stamm einzudringen vermag, um dabei die wechselnden Widerstände in der Jahrringfolge zu messen. Wie sich herausstellte, hatte der Baum bis zuletzt nichts von seiner Vitalität eingebüßt: Während er in seiner Jugend unterm Schirm des Altbestands jahrzehntelang nur mikroskopisch enge Jahrringe ausgebildet hatte, die selbst der Resistograph nicht mehr auflösen konnte, zeichnet sich im ausgedruckten Papierstreifenprofil ein zunehmendes VolumenwachsDie Große Eggwaldtanne – von Sturm Sabine am 9. Februar 2020 gekapppt. Von „Sabine“ gekappt: die Große Eggwaldtanne 299

 

 

 

Im Wurzelraum der Tanne wohnt Familie Dachs. tum des Baumriesen ab je älter er wurde – für Weißtannen bei guter Wasserund Nährstoffversorgung eine typische Karriere. Weder die 1980er-Jahre des Waldsterbens noch der Jahrhundertsommer 2003 hatten einen merklichen Einbruch im Wachstum zur Folge. Schon vor Jahren waren Schweizer Forstwissenschaftler bei der exakten Analyse eines 240-jährigen Tannenstammes zu dem erstaunlichen Ergebnis gekommen, dass der Baum in der zweiten Hälfte seines Lebens (ab Alter 120) zehnmal so viel Holz produziert hat wie in der ersten. Weil Holz an Holz, Jahrring an Jahrring wächst, kommt es selbst bei gleichbleibender Jahrringbreite noch zu einem progressiven Volumenwachstum! 1942 gab es schon einen Wipfelbruch Dass die Eggwaldtanne überhaupt so alt und so stark werden konnte, verdankt sie nicht nur dem gedrosselten Jugendwachstum und danach einem für ihr Gedeihen überaus günstigen, bachnahen Standort, sondern gewiss auch den schwierigen Transportbedingungen in der Enge der Schlucht. An ihr hätten die Holzschleifer schon bald ihre Ochsen zu Tode geschunden. Wie das Hofbächle sich in geologisch offenbar jüngster Zeit durch Muschelkalkschichten hindurch bis in den Buntsandstein hat eingraben können, ist angesichts der zumeist bescheidenen Wasserführung ein Vorgang, der die Geologenzunft noch immer rätseln lässt. Klar ist immerhin, dass der Baum von den Hochwässern seit über zwei Jahrhunderten nicht hat entwurzelt und weggespült werden können. Verbürgt ist auch, dass er im Jahr 1942 schon einmal einen Wipfelbruch erlitten und sodann eine Ersatzkrone aufgesetzt hatte. Dass in seinem Wurzelraum ein Dachs seinen Bau hat und dabei auch immer wieder einmal vermorschtes Wurzelholz zutage fördert, scheint kein Indiz für eine beeinträchtigte Statik oder einen angegriffenen Gesundheitszustand des Baums zu sein. Sabine hätte ihn sonst gewiss nicht zersaust, sondern der Länge nach ausgehebelt und umgeworfen, gerade so, wie sie weiter westwärts mit flachwurzelnden Fichten und auch etlichen Tannen umgesprungen ist. Hoffnung auf Ausbildung einer neuen Krone Weil am entwipfelten Stamm noch grüne Äste verblieben sind, darf freilich gehofft werden, dass er auch diesmal wieder (wie anno 1942) eine neue Krone ausbilden wird, wie es für Weißtannen charakteristisch ist; zumal bei ausreichender 300 Natur und Umwelt

 

 

 

Wasserversorgung scheinen sie schier unverwüstlich zu sein. Weil sie ein solches Missgeschick oft durch Zwieseloder sogar mehrwipflige Kandelaberbildung auszuheilen pflegen, können sie auch nach einem Schaftbruch durchaus noch bis zu 700 Jahre alt werden, wie es die ältesten Exemplare nachweislich aufgrund von posthumen Jahrringzählungen bezeugt haben. Auch der ebenso phänomenale wie populäre Hölzlekönig vom Saubühl zwischen Villingen und Schwenningen, gefeiert einst als „Deutschlands größte Tanne“, hatte Stammbrüche überlebt: Ihm hatte nachweislich im Herbst 1876 ein Sturm in 33 m Höhe sogar beide Hauptwipfel abgerissen. Geschütztes Naturdenkmal Der Großen Eggwaldtanne kommt zustatten, dass sie, erkennbar am grüngerandeten Täfelchen mit dem Seeadler darauf, im Naturdenkmalbuch der Unteren Naturschutzbehörde als geschütztes Naturdenkmal eingetragen ist. Darüber hinaus hat sich die Waldeigentümerin, die Gemeinde Brigachtal, verpflichtet, die Hofbächleschlucht mit ihrer noch immer sehr naturnahen Bestockung vergleichbar einem Mehrgenerationenhaus aus Tannen, Fichten, Buchen, Ahorn und Erlen als Waldrefugium auszuweisen, in welchem auf die Holznutzung verzichtet wird und die Bäume bis zu ihrem natürlichen Ableben alt werden dürfen. So sieht es das Altund Totholzkonzept der Forstverwaltung vor, das mit dem Ziel der ökologischen Aufwertung seit 2010 im Staatswald verbindlich vorgeschrieben ist. Und sollte die Große Tanne den Stammbruch wider Erwarten doch nicht überleben, so steht ein Stück bachabwärts am Steilhang der Schlucht schon eine Nachfolgerin parat; auch sie ist bereits ein geschütztes Naturdenkmal mit guten Aussichten, dereinst in die erlesene Spitzenklasse der Schwarzwälder Tannenriesen nachzurücken. Oder sollte dem womöglich doch der Klimawandel noch einen Strich durch die Rechnung machen? Unter Naturdenkmalschutz: die Große Eggwaldtanne in der Hofbächleschlucht. Von „Sabine“ gekappt: die Große Eggwaldtanne 301

 

 

 

Seit November ist sie in den Getränkemärkten der Region für kurze Zeit zu finden: Die Streuobstschorle des Bad Dürrheimer Mineralbrunnens. Es handelt sich dabei um einen besonderen regionalen Genuss in limitierter Abfüllung. Das Beste: Mit jedem Schluck wird die Streuobst-Kultur auf der Baar gefördert und damit ein wichtiger Beitrag für den Erhalt der Artenvielfalt geleistet. Dazu wurden auf den heimischen Streuobstwiesen durch Fastnachtsvereine, Kindergärten, Grundschulen, Feuerwehren und Landfrauen sowie viele Privatpersonen insgesamt 35 Tonnen Äpfel gesammelt und zur Mosterei nach Ewattingen gebracht. Initiator der Aktion ist Landrat Sven Hinterseh. 302 302 Natur und Umwelt

 

 

 

Streuobstwiesen – Wertvoller Lebensraum und einmaliges Kulturgut Dank Bad Dürrheimer Mineralbrunnnen: „STREUOBST SCHÄTZLE“ von der Baar ist im Handel – Initiative von Landrat Sven Hinterseh von Tanja Bury 303

 

 

 

Apfelernte in Öfingen – pro Doppelzentner erhalten die Landfrauen 20 Euro und damit bedeutend mehr als sonst für ihre Ernte. Ohne den Einsatz des Landschafts erhaltungs verbandes würden die meisten dieser Äpfel wie vielerorts wohl ungeerntet bleiben. 304 Natur und Umwelt

 

 

 

Apfelbaumblüte bei Aasen. Nach wie vor sind etliche Dörfer der Baar von Streuobstwiesen umgeben. Die Idee zum Streuobstwiesen-Projekt hatte Landrat Sven Hinterseh: „Der SchwarzwaldBaar-Kreis ist zwar kein typisches Streuobstgebiet, glücklicherweise gibt es aber auch in unserer Region noch einige wertvolle Streuobstbestände“, betont er. Der Landrat weiter: „Ich selbst bin in einem Obstund Weinbaubetrieb am Kaiserstuhl aufgewachsen und habe so einen engen persönlichen Bezug zu diesem Thema. Die Streuobstbestände in der Region sind in den vergangenen Jahrzehnten drastisch zurückgegangen. Mein Anliegen ist es, die Streuobst-Kultur auch bei uns wieder mehr aufleben zu lassen.“ Wichtig sei dabei, die Früchte in eine Vermarktungskette zu bringen, fasst Landrat Sven Hinterseh seine Motivation zu diesem Herzensprojekt zusammen. Die perfekten Projektpartner dazu wurden mit der Bad Dürrheimer Mineralbrunnen GmbH, als Experte für das Produzieren, Abfüllen und Vermarkten von Getränken, und dem Landschaftserhaltungsverband Schwarzwald-Baar-Kreis e. V. mit seiner Fachkompetenz schnell gefunden. Das Apfelschorle-Projekt war geboren! Von den ursprünglich rund 250.000 bis 300.000 Bäumen im SchwarzwaldBaar-Kreis waren bei der jüngsten Streuobst erhebung des Landes im Jahr 2005 nur noch etwa 100.000 Bäume übrig. Die Streuobstwiesen Im Frühjahr zarte Blüten, im Herbst leuchtende Äpfel und Birnen: Dieses Bild prägte einst die Dörfer der Baar, waren sie doch traditionell umgeben von Streuobstwiesen. Ihre Anzahl ist jedoch seit den 1950er-Jahren mehr und mehr zurückgegangen. Von den ursprünglich rund 250.000 bis 300.000 Bäumen im SchwarzwaldBaar-Kreis waren bei der jüngsten Streuobsterhebung des Landes im Jahr 2005 nur noch etwa 100.000 Bäume übrig. Und auch sie drohen durch Verbuschung, Überalterung und mangels erfahrener Pflege nach und nach zu verschwinden. Ein großer Verlust, denn die Wiesen sind nicht nur Kulturgut, sondern wertvoller LebensStreuobstwiesen – Wertvoller Lebensraum und einmaliges Kulturgut 305

 

 

 

raum für mehr als 5.000 Tierund Pflanzenarten. Bedrohte Tiere wie Wendehals, Steinkauz, Neuntöter, Siebenschläfer und Fledermäuse fühlen sich hier ebenso wohl wie zahlreiche Insektenarten. Damit zählen die Streuobstwiesen zu den artenreichsten Kulturökosystemen Mitteleuropas. Im Landkreis Schwarzwald-Baar sind Streuobstwiesen vor allem im östlichen und südlichen Bereich zu finden. Die Schwerpunkte umfassen die Städte Bad Dürrheim, Bräunlingen, Blumberg, Donaueschingen, Hüfingen und Teile Villingen-Schwenningens. Besonders schöne Beispiele historischer Streuobstbestände finden sich in Riedöschingen und Öfingen. Das Projekt „Der Schwarzwald-Baar-Kreis stellt einen wichtigen Trittstein zwischen den traditionellen 306 Natur und Umwelt

 

 

 

Apfelernte in Weilersbach für das neue Apfelschorle der Bad Dürrheimer Mineralbrunnen GmbH mit Streuobstwiesen der Baar. Der Förderverein der Grundschule Obereschach hatte die Aktion auf Anregung von Margarete Schleicher und seiner Vorsitzenden Andrea Ettwein ausgeführt. Landrat Sven Hinterseh (unten) besuchte die Schulkinder bei der Apfelernte, er hat die Apfelschorle-Aktion ins Leben gerufen. In wenigen Stunden sammelten die Kinder rund 25 Zentner Äpfel und verdienten damit 500 Euro für die Kasse des Fördervereins. Reiche Weilersbacher Obstbaugeschichte Das Dorf Weilersbach bei Obereschach ist für seine reichen Streuobstwiesen bekannt gewesen. Im Lexikon des Großherzogtums Baden rühmt sein Verfasser Johann Baptist Kolb im Jahr 1816 die schönen Obstpflanzungen, erwähnt besonders die vielen Kirschbäume, die jährlich 40 bis 50 Gulden an Ertrag abwerfen. Beim großen Dorfbrand im Jahr 1834 wurden 41 von 63 Häusern vernichtet und anschließend solidarisch wieder aufgebaut. Ebenso wurden die meisten Obstbäume ein Opfer der Flammen. Es dauerte Jahrzehnte, bis hauptsächlich im Gewann „An der Halde“ die „Fässle-Äpfel“ aus Weilersbach wieder geerntet werden konnten. Heute stehen dort rund 50 Apfelbäume, die Herbst für Herbst mit köstlichen Früchten behangen sind. Wie in vielen Baar-Orten hat auch in Weilersbach das Interesse an den Äpfeln deutlich nachgelassen. Auch der frühere Obstbaumverein ist längst Geschichte. 307 307 Margarete Schleicher (links), Besitzerin der Obstbäume, mit dem Team der Grundschule Ober eschach bei der Apfelernte.

 

 

 

Obstbauregionen am Albtrauf und am Bodensee dar“, erklärt Stefan Walther, Geschäftsführer des Landschaftserhaltungsverbandes (LEV). Trotz des hohen Artenaufkommens sind die Bestände bislang nicht als Biotope geschützt. Sie wurden schlecht oder gar nicht gepflegt, Vitalität und Stabilität der Bäume haben gelitten, Jungbäume fehlen. „Wir müssen jetzt etwas tun, um die Streuobstwiesen für die Zukunft zu erhalten. Es wird 30 bis 40 Jahre dauern, bis die Bestände gesichert sind“, sagt Stefan Walther. Hier setzt die Arbeit des LEV an: Er forciert Erstpflegemaßnahmen wie Baumschnitte sowie dringende Nachpflanzungen. Außerdem sollen die Bestände erfasst und bewertet werden, um damit den Grundstein für eine Förderkulisse namens „Baar-Albtrauf-Wutachschlucht“ zu legen. Durch sie wiederum können andere Förderungen generiert und künftige Unterstützungen – zum Beispiel durch die Landschaftspflegerichtlinie des Landes Baden-Württemberg (LPR) – erleichtert werden. „Weiter können Kommunen auf die erfassten Bestände als Ausgleichsmaßnahmen für Bauprojekte zurückgreifen“, so Walther. Netzwerk für Streuobstwiesenschutz bringt alle Akteure zusammen Das Netzwerk für Streuobstwiesenschutz, welches unter der Regie des LEV ins Leben gerufen 308 Natur und Umwelt

 

 

 

wurde, bringt alle Akteure vom Wiesenbesitzer bis zum Vermarkter zusammen. Bei ein bis zwei Treffen im Jahr werden Ideen entwickelt, Pflegeund Erhaltungsmöglichkeiten besprochen, es gibt Infos zu Baumschnitt und Neupflanzungen. „Dieser Austausch hilft ungemein, die Aufmerksamkeit und Anerkennung für die Streuobstwiesen zu erhöhen“, freut sich der LEV-Geschäftsführer. Der 2013 gegründete Landschaftserhaltungsverband (LEV) Schwarzwald-Baar-Kreis e.V. hat sich als gemeinnütziger Verein dem Ziel verschrieben, die Kulturlandschaft zu erhalten, zu pflegen und zu entwickeln. Als Kooperationspartner von Kommunen, Naturschützern Der 2013 gegründete Landschaftserhaltungsverband (LEV) Schwarzwald-Baar-Kreis e.V. hat sich als gemeinnütziger Verein dem Ziel verschrieben, die Kulturlandschaft zu erhalten, zu pflegen und zu entwickeln. sowie Landnutzern und in Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnern vor Ort will der LEV einen Beitrag leisten zum Erhalt des Landschaftsbildes und wertvoller Lebensräume, zu einem intakten Naturhaushalt sowie zum Naturund Artenschutz. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen Umweltschutz und Landwirtschaft. Unter anderem berät der LEV Landwirte bei Bewirtschaftungund Fördermöglichkeiten in der Landschaftspflege, betreut Kommunen und Privatleute und kümmert sich um Pflege und Erhalt wertvoller Biotope. Naturschutz Hand in Hand sozusagen. Vereinsvorsitzender ist Landrat Sven Hinterseh Ein schönes Beispiel für die Arbeit des LEV ist das Bemühen um den Erhalt der Streuobstwiesen im Schwarzwald-Baar-Kreis. Oder ebenso der Einsatz von Wasserbüffeln bei Bad Dürrheim und auf dem Brend bei Furtwangen – damit kann der Landkreis zwei der höchstgelegenen Wasserbüffelweiden Deutschlands vorweisen. Vereinsvorsitzender ist Landrat Sven Hinterseh, seine Stellvertreter sind die Bürgermeister Christian Wörpel (Schönwald) und Die Öfinger Landfrauen beteiligten sich samt Kinder ebenfalls an der Apfelernte für das Streuobstschorle. Das Foto zeigt die Frauen bei der Ernte im Gewann „Kälbleweide“. Insgesamt wurden in Öfingen 25 Zentner Äpfel geerntet. 309

 

 

 

Michael Kollmeier (Hüfingen). Als Vertreter der Landwirtschaft sind Bernhard Bolkart (BLHV Kreisverband Villingen), Reinhold Moßbrugger (BLHV Kreisverband Donaueschingen) und Jörg Krüger (Regierungspräsidium Freiburg Abteilung 3) im Vorstand. Die Vorstandsmitglieder zur Vertretung des Naturschutzes sind Anita Sperle-Fleig (LNV-Arbeitskreis SchwarzwaldBaar), Thomas Schalk (NABU Schwarzwald-Baar) und Friedrich Kretzschmar (Regierungspräsidium Freiburg, Referat 56). Die Geschäftsstelle ist seit 2014 besetzt durch den Geschäftsführer Stefan Walther (Dipl.-Forstingenieur FH). Ihm zur Seite stehen Anna Stangl (M. Sc. Nachhaltigkeitsgeografie und Regionalentwicklung) und Ina Hartmann (Dipl. Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung). Die Vermarktung Die Anstrengungen zum Schutz der Streuobstwiesen bieten auch die Chance auf Wiederbelebung oder Neuschaffung einer regionalen Vermarktungsschiene für das Obst. Mit dem Mineralbrunnen aus Bad Dürrheim wurde dafür ein erster Partner gefunden. Im November hat das Unternehmen erstmals eine Schorle mit Früchten von Streuobstwiesen auf den Markt gebracht. Ab November für beschränkte Zeit im Handel: Das von der Bad Dürrheimer Mineralbrunnen GmbH produzierte „STREUOBST SCHÄTZLE“. Ein Apfelschorle gepresst mit dem Obst von Baaremer Streuobstwiesen. Die Bäume dafür werden mit sachkundiger Unterstützung des LEV ausgewählt. Dabei wird auch auf die Verwendung alter Apfelsorten geachtet, die mehr und mehr vom Aussterben bedroht sind. Dazu zählen beispielsweise Sorten wie Villinger Sautter Apfel, Blumberger Lang stiel, Schwarzwald Renette, Unadinger Sämling, Dürbheimer Sämling, Leipferdinger Langstiel oder Kardinal Bea. In Öfingen beispielsweise wurden roter Boskop, Berner Rosen, Jakob Fischer, Gewürzluiken und Danziger Kant geerntet. 20 Euro für 100 Kilogramm Äpfel Die Ernte wird durch Landwirte, Privatpersonen, aber auch Vereine unterstützt. Mit dabei waren in diesem Jahr der Förderverein der Grundschule Weilersbach, die Jugendfeuerwehr Heidenhofen, der Kindergarten Löwenzahn Biesingen, die Landfrauen Öfingen, der TV Sunthausen, die Umweltgruppe Südbaar, die Aasemer Dominos und der Schwarzwaldverein Donaueschingen. Bad Dürrheimer zahlt dieses Jahr 20 Euro pro 100 Kilogramm Streuobst und damit mehr als doppelt so viel als den aktuellen Marktpreis. Die Äpfel werden in der Mosterei Grüninger in Wutach-Ewattingen zu Saft gepresst. Bei Bad Dürrheimer wird der naturtrübe Apfelsaft mit reinstem Mineralwasser gemischt und mit Kohlensäure versetzt. „Die Vermarktung des heimischen Streuwiesenobstes durch Bad Dürrheimer stellt einen großer Erfolg für uns dar“, sagt LEV-Geschäftsführer Stefan Walther. Denn so würden Pflege und Erhalt der Bestände interessanter. Ein Produkt wie die Streuobst-Schorle helfe dabei, dass sich die Menschen im Kreis wieder mehr mit dem Lebensraum und dem Kulturgut Streuobstwiese identifizieren. Gerne möchte LEV-Geschäftsführer Stefan Walther deshalb die Vermarktungsschienen ausweiten. Mit der Fachhochschule Furtwangen gab es schon Gespräche darüber, den Presskuchen zum Gewinnen von natürlichen Obstaromen zu nutzen. Diese wiederum könnten in der Herstellung von Zerealien Verwendung finden, eine spannende Entwicklung somit, die sich da abzeichnet. 310 Streuobstwiesen – Wertvoller Lebensraum und einmaliges Kulturgut

 

 

 

Äpfel für das „STREUOBST SCHÄTZLE“ von der Baar. Begeistert sammelt die 10-jährige Karla Kremm aus Öfingen die alten Obstsorten wie Roter Boskop, Berner Rosen, Jakob Fischer, Gewürzluiken und Danziger Kant. 311

 

 

 

Geschäftsführer Ulrich Lössl von Bad Dürrheimer Mineralbrunnen: „Wir wünschen uns, dass der Verbraucher JA zur StreuobstSchorle sagt“ Naturschutz zum Trinken – so bewirbt Bad Dürrheimer die neue Apfelsaftschorle aus Früchten von Streuobstwiesen. Seit November ist die limitierte Abfüllung – genannt „STREUOBST SCHÄTZLE“ – in ausgesuchten Getränkemärkten des Landkreises zu haben. Mit Ulrich Lössl, Geschäftsführer des Unternehmens, hat sich Tanja Bury über diesen regionalen Zuwachs im Produktangebot unterhalten. Ulrich Lössl 312 Was hat Bad Dürrheimer dazu bewogen, sich dem Projekt zum Erhalt von Streuobstwiesen anzuschließen und eine Streuobstschorle auf den Markt zu bringen? Als zertifizierter Bio Mineralbrunnen und Leuchtturm für nachhaltiges Wirtschaften ist Bad Dürrheimer seit langer Zeit im Umweltund Naturschutz unterwegs. Unser Produkt, reinstes Bio-Mineralwasser, ist in seiner natürlichen Reinheit stark von unserer Umwelt abhängig. Nur durch einen gesunden Boden fließt reines Wasser. Nachhaltigkeit bedeutet hier, unsere Böden vor Zivilisationsspuren zu schützen, sodass auch nachfolgende Generationen noch ausreichend naturbelassenes, reines Wasser trinken können. Besonders gerne engagieren wir uns deshalb in Naturschutzprojekten, in die auch die Menschen aus unserer Heimat in irgendeiner Form mit eingebunden werden können. Naturschutz ist schließlich eine Herausforderung, die wir alle nur gemeinsam erfolgreich gestalten können. Das Projekt Streuobstschorle ist ein Paradebeispiel dafür. An diesem Projekt sind der Landkreis, der Landschaftserhaltungsverband und viele Landwirte und Vereine, die das Obst ernten, beteiligt. Wir fördern gemeinsam die Artenvielfalt und schützen gleichzeitig unsere Böden, denn Streuobstwiesen werden in der Regel weder chemisch gespritzt noch künstlich gedüngt. Das sind alles Multiplikatoren in unserer Sache und letztlich fördert das Projekt auch die regionale Wertschöpfung. Auch das ist uns als in der Heimat verwurzeltes Unternehmen sehr wichtig. Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit dem neuen Produkt? Natürlich wollen wir möglichst viele Flaschen von unserer heimischen Streuobst-Schorle verkaufen. Schließlich zahlen wir den Bauern und Sammlern für das Streuobst mehr als den doppelten aktuellen Marktpreis. Dadurch bekommen die Obstlieferanten einen wertschätzenden Preis, der auch die Kosten für das Sammeln des Obstes wirklich abdeckt. Außerdem Natur und Umwelt

 

 

 

Die Streuobstschorle aus Baaremer Äpfeln ist abgefüllt – Blick in die Produktion bei Bad Dürrheimer. spenden wir von jeder Flasche zehn Cent an Naturschutzprojekte. Von daher haben wir ein rundes Projekt und ein Produkt geschaffen, das zum Erhalt unserer wunderbaren Naturlandschaft einen wichtigen Beitrag leistet. Wir wünschen uns, dass der Verbraucher „Ja“ sagt. „Ja“ zu einem höheren Preis, der eine faire und angemessene Bezahlung für die Arbeit der Bauern und Sammler sichert – und damit letztendlich auch „Ja“ sagt zu regionalem Naturschutz. Wer die von unserem Landrat ins Leben gerufene Streuobstinitiative mit dem Kauf des daraus entstandenen Bad Dürrheimer Streuobst-Schorles unterstützt, betreibt aktiven Naturschutz für unsere Heimat. Wir freuen uns sehr, wenn sich die Menschen in unserer Region mit dem neuen Produkt identifizieren. Die Schorle heißt übrigens STREUOBST SCHÄTZLE. Was bedeutet die Streuobstschorle für Ihre Produktion? Muss sie für diese Art von Getränk geändert werden? Wir sind auf diese Art von Produktion, also das verarbeiten von Direktsaft, bei Just-in-timeAnlieferung nicht eingerichtet gewesen. Da bedurfte es einiges an Kreativität bei unseren Technikern in der Produktion. Schließlich haben wir einen sehr hohen Qualitätsanspruch und dem muss auch dieses Direktsaft-Schorle gerecht werden. Unsere Qualitätssicherung startet am Apfelbaum, geht über die Mosterei und reicht bis hin zur fertigen Flasche. Da bedarf es vieler neuer Abläufe. Das ist auch einer der Gründe, warum wir im ersten Jahr nur mit einer recht limitierten Menge starten. Streuobstwiesen – Wertvoller Lebensraum und einmaliges Kulturgut 313

 

 

 

Streuobst-Schorle. Verkauft wird die Schorle dort, wo die Äpfel wachsen – von der Region für die Region. Wir produzieren diese Schorle komplett CO₂ neutral und verwenden ausschließlich Glas-Mehrwegflaschen. Sogar das Etikett ist aus Recyclingpapier und wird mit nur einer Farbe bedruckt. Mehr Umweltschutz passt in keine Flasche. Wie wichtig ist es in Ihren Augen, solche regionalen Anstrengungen für mehr Naturschutz zu unterstützen? Heimat ist für uns von ganz besonderer Bedeutung. Hier fördern wir unser Mineralwasser aus geschützten Tiefen, hier produzieren wir, hier leben unsere Mitarbeiter und hier finden wir unsere treuesten Kunden. Vor diesem Hintergrund fördert der Bad Dürrheimer Mineralbrunnen schon immer regionale Projekte. Projekte, die unsere Region stärken und unsere Heimat attraktiv und lebenswert machen. Ein unverzichtbarer Bestandteil ist eine intakte Natur. Das Streuobstschorle-Projekt ist eine logische Konsequenz und Fortführung unseres bestehenden Engagements. Zum Beispiel im Umweltzentrum Schwarzwald-Baar-Neckar oder bei „Bad Dürrheim blüht auf“, einer Initiative für Artenund Grundwasserschutz in Bad Dürrheim, die wir ins Leben gerufen haben. Gibt es schon Ideen für ein neues Projekt in diese Richtung? Ideen gibt es viele, wichtig ist aber deren nachhaltige Umsetzung. Jetzt werden wir erst einmal unser STREUOBST SCHÄTZLE erfolgreich im Markt einführen und auf diesen Erfahrungen aufbauen – dann schauen wir mal! In Wutach-Ewattingen wurden Äpfel von Streuobstwiesen aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis für ca. 40.000 Liter Apfelschorle zu Most verarbeitet. Die Direktsaft-Schorle produziert Bad Dürrheimer Mineralbrunnen. Wird für die Schorle nur Obst von der Baar verarbeitet oder müssen – wegen Menge und/oder Geschmack – Früchte aus anderen Regionen zugekauft werden? Wir verwenden für das STREUOBST SCHÄTZLE ausschließlich Obst von der Baar und in geringem Umfang aus den angrenzenden Gebieten des Schwarzwalds und der Alb. Es ist ja eigentlich ein Landkreisschorle. Ein Paar Äpfel vom Kreis Tuttlingen oder Waldshut verirren sich sicherlich auch in unsere Schorle – aber der Naturschutz kennt ja keine Grenzen. Wie viele Liter werden in diesem ersten Jahr produziert und wo soll es hingehen? Wir produzieren im ersten Jahr zirka 80.000 Flaschen. Das sind gut 40.000 Liter Am Fürstenberg – Ländliche Idylle mit blühendem Apfelbaum. 314 Natur und Umwelt

 

 

 

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Notizen aus dem Land kreis Spektakuläre Aktion Münsterglocke wurde repariert Davon wird so mancher Villinger noch seinen Enkelkindern erzählen: Die größte der beiden Glocken im Nordturm des Münsters, die 5,4 Tonnen schwere Christus-Glocke aus dem Jahre 1954, bekam in der Glockenschale einen großen Riss und musste am 17. August 2020 ausgebaut und repariert werden. Zahlreiche Schaulustige hatten sich versammelt, um den Ausbau der Christus-Glocke mitzuerleben. Dazu waren ein Schwerlastkran und eine Seilbahn erforderlich. Mit einem Spezialtransporter wurde die Münsterglocke zur Reparatur nach Holland gebracht, wo sie erfolgreich instand gesetzt werden konnte. Dank modernster Messtechnik konnte zudem festgestellt werden, dass die kleinen Glocken im Südturm ein problematisches Frequenzspektrum hervorbringen. Dieses erzeugt im Nordturm störende Resonanzen, die für Folgeschäden im Glocken stuhl verantwortlich sind. Hans-Jürgen Götz 316

 

 

 

Villingen ohne SABA-Schriftzug! Es ist eine Zäsur: Villingen hat den SABA-Schriftzug verloren! Das ehemalige SABA-Areal sowie Teile des angrenzenden früheren Kasernen-Bereichs werden komplett umgestaltet. Der SABA-Schriftzug wurde seitens der Bauherren an die Stadt Villingen-Schwenningen übergeben. Im Schwarzwald-Baar-Kreis: Der Wolf ist eindeutig zurück Der Wolf ist zurück: 2016 wurde erstmals ein Hinweis auf die Rückkehr des Wolfes im Bereich Hüfingen als wahrscheinlich eingestuft. Von 2016 bis 2019 konnten in Bad Dürrheim und Vöhrenbach zwei Sichtungen durch einen Fotound einen Filmbeweis bestätigt werden. Ab Mai 2020 kam es nun zu Sichtungen und Funden in den Bereichen Vöhrenbach, Bräunlingen und Triberg. In den angrenzenden Landkreisen Breisgau-Hochschwarzwald und Waldshut wurde das Tier ebenfalls mehrfach bestätigt. Die regelmäßige Präsenz des Tieres mit dem wissenschaftlichen Namen „GW1129m“ führte dazu, dass der gesamte Südschwarzwald im Juli 2020 zum Fördergebiet Wolfsprävention ausgewiesen wurde. Halterinnen und Halter von Weidetieren erhalten dadurch die Möglichkeit, finanziell bei Schutzmaßnahmen unterstützt zu werden. Im Schwarzwald-Baar-Kreis: Dr. Martin Seuffert neuer Erster Landesbeamter Der neue Erste Landesbeamte des Landratsamtes Schwarzwald-Baar-Kreis heißt Dr. Martin Seuffert. Zugleich ist er Stellvertreter des Landrates. Dr. Martin Seuffert war bisher Referent und stellvertretender Referatsleiter am Regierungspräsidium Freiburg. Er tritt die Nachfolge von Joachim Gwinner an, der zum 1. Juli 2020 in den Ruhestand getreten ist (s. S. 24). Als Dezernent leitet Dr. Martin Seuffert künftig das Dezernat IV, welchem das Baurechtsund Naturschutzamt, das Amt für Abfallwirtschaft, das Amt für Umwelt, Wasserund Bodenschutz, das Gesundheitsamt sowie das Gewerbeaufsichtsamt zugeordnet sind. Dr. Martin Seuffert studierte Rechtswissenschaften an der Uni Würzburg. In den Dienst der Landesverwaltung trat er 2004 ein und war zunächst im Landratsamt Ostalbkreis tätig. Zuletzt leitete er dort den Geschäftsbereich Umwelt und Gewerbeaufsicht. Von 2009 bis 2012 war er im Ministerium Ländlicher Raum und Verbraucherschutz tätig. Dort war er Referent im Referat 14 – Recht und Forschung und im Referat 21 – Recht und Verwaltung (in der Landwirtschaftsabteilung) sowie stellvertretender Referatsleiter im Referat 11 – Organisation. Seit 2012 arbeitete er im Regierungspräsidium Freiburg. Er war Referent und seit 2016 stellvertretender Referatsleiter im Referat 54.3 – Industrie/ Kommunen, Schwerpunkt Abwasser und seit 2019 stellvertretender Referatsleiter im Referat 55 – Naturschutzrecht. Dr. Martin Seuffert ist 45 Jahre alt, verheiratet und hat ein Kind. Magazin 317

 

 

 

Be völ ke rungs ent wick lung im Schwarz wald-Baar-Kreis Stand der Wohn be völ ke rung 30.06.2019 30.06.2020 Ver än de run gen in Zah len in Pro zent Ge mein de Villingen-Schwenningen Donaueschingen Bad Dürrheim St. Georgen Blumberg Furtwangen Hüfingen Königsfeld Niedereschach Bräunlingen Brigachtal Triberg Schonach Vöhrenbach Dauchingen Mönchweiler Tuningen Unterkirnach Schönwald Gütenbach 85.700 22.067 13.444 12.998 10.058 9.015 7.910 5.988 5.960 5.864 5.171 4.719 4.060 3.852 3.818 2.989 2.964 2.579 2.506 1.151 85.365 22.396 13.311 12.965 10.072 9.061 7.872 6.024 5.935 5.822 5.167 4.763 4.040 3.886 3.810 2.994 2.925 2.612 2.456 1.140 335 -329 133 33 -14 -46 38 -36 25 42 4 -44 20 -34 8 -5 39 -33 50 11 197 0,39 -1,47 1,00 0,25 -0,14 -0,51 0,48 -0,6 0,42 0,72 0,08 -0,92 0,50 -0,87 0,21 -0,17 1,33 -1,26 2,04 0,96 0,09 Bundesrepublik Deutschland Kreisbevölkerung insgesamt 212.813 212.616 Ar beits lo sig keit in Pro zent zah len Stichtag Schwarzwald-Baar-Kreis Baden-Württemberg 30.06.2020 30.06.2019 30.06.2018 4,7 % 2,8 % 2,7 % Quelle: Agentur für Arbeit 4,4 % 3,0 % 3,0 % 6,2 % 4,9 % 5,0 % Beschäftigte insgesamt: 89.568, davon 39.918 im produzierenden Gewerbe (44,6 %), 16.906 in Handel, Verkehr und Gastgewerbe (18,9 %) sowie 32.560 im Bereich „Sonstige Dienstleistungen“ (36,4 %). Stand: 30.06.2019 (vorläufige Zahlen) Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg Orden und Ehrenzeichen Mit dem Bundesverdienstkreuz wurde im Dezember 2019 ausgezeichnet: Siegfried Jakob Gottlieb Heinzmann (Villingen-Schwenningen). Mit der Ehrennadel des Landes Baden-Württemberg wurden 2020 ausgezeichnet: Manfred Hilser (Triberg), Gerhard Labor (Villingen-Schwenningen). Mit der Staufermedaille wurden 2020 ausgezeichnet: Franz E. Mayer (Geisingen, u.a. für seine Verdienste für die Deutsch Französische Gesellschaft Donaueschingen e.V.), Manfred Schätzle (Furtwangen). 318 318 Magazin

 

 

 

Die Autoren und Fotografen unserer Beiträge Altun, Melanie, 78147 Vöhrenbach Binninger, Silvia, 78166 Donaueschingen Bury, Tanja, 78073 Bad Dürrheim Dickmann, Barbara, 78098 Triberg Dilger Gerhard, 78120 Furtwangen Dinkelaker, Dr. Frieder, Landratsamt Schwarzwald-Baar Dold, Wilfried, 78147 Vöhrenbach Eberl, Claudius, 78136 Schonach Eich, Marc, 78050 Villingen-Schwenningen Eisenmann, Hans-Jürgen, 78052 Villingen-Schwenningen Gail, Bernhard, 78183 Mundelfingen Göbel, Nathalie, 78048 Villingen-Schwenningen Götz, Hans-Jürgen, Brigachtal Hans Schonhardt / Bernhard Scherer, 78112 St. Georgen Heinig, Birgit, 78052 Villingen-Schwenningen Hinterseh, Sven, Landratsamt Schwarzwald-Baar Hockenjos, Wolf, 78166 Donaueschingen Kienzler, Michael, 78086 Villingen-Schwenningen Marek, Erich, 78054 VS-Schwenningen Neß, Simone, 78052 Villingen-Schwenningen Reim, Rudolf, 78048 Villingen-Schwenningen Ritter, Jogi, 78141 Schönwald Sigwart, Roland, 78183 Hüfingen Sprich, Roland, 78112 Sankt Georgen Stifter, Michael, 78147 Vöhrenbach Wacker, Dieter, 78052 Villingen-Schwenningen Zerm, Eric, 78647 Trossingen Bildnachweis Almanach 2021 Titelseite: Bianca Purath Fotografie: Michael Stifter, Vöhrenbach Rückseite: In der Natur bei Vöhrenbach Fotografie: Melanie Altun, Vöhrenbach Soweit die Foto gra fen nicht namentlich angeführt werden, stammen die Aufnahmen jeweils vom Verfasser des Beitrages oder sind die Bild autoren/Bildleihgeber über ihn erfragbar. Mit Fotos sind im Almanach vertreten: Wilfried Dold, Vöhrenbach: 2/3, 10-13, 27, 31, 32/33, 36/37, 77-81, 88-101, 110/111, 122, 126 ob., 127, 129 ob., 130 ob., 131, 132, 150, 164/165, 168 u., 169, 170, 171 u., 232/233 (Landschaftsbild), 236-237, 239, 240/241, 242245, 251-254, 256, 257, 258-267, 269 ob., 271, 302-309, 311, 314/315; Dold-Verlag, Vöhrenbach, Archiv: 55 ob.; Roland Sigwart, Hüfingen: 14-23, 52/53, 56 ob., 102-106, 107 ob. li, u.re, 109 ob. re.; Michael Kienzler, Brigachtal: 35, 39, 82-83, 134-145, 200/201, 205, 255; Hans-Jürgen Götz, Brigachtal: 44/45, 49, 55 u., 58/59, 60/61 ob., 60 u., 62/63 ob., 62 M., 62 u., 63 M., 64/65, 293, 316; Jens Fröhlich, Donaueschingen: 46; Roland Sprich, St. Georgen: 51, 74/75, 214-221, 232, 233, 234, 235, 238; Kath. Kindergarten, Maria Goretti, Furtwangen: 56 u.; Fam. Leicht, Villingen: 57 ob.; Fam. Tröndle, Villingen: 57 u.; Praxedis Dorer, Vöhrenbach: 60 M.; Silvia Binninger, Donau eschingen: 9, 61 u., 109 ob. re., M. u., 202; Melanie Altun, Vöhrenbach: 63 u.; Nathalie Göbel, Villingen-Schwenningen: 69; Lars Fischer, Bräunlingen: 107 ob. re.; Rudolf Reim, Villingen: 113-117, 118 u., 120/121; Erich Marek, VS-Schwenningen: 118/119 ob., 285; Birgit Heinig, VS-Villingen: 124/125, 126 u., 128 u., 129 u., 130 u.; Wolf Hockenjos, Donaueschingen: 128 ob., 298-301, Foto-Carle Triberg: 146/147; Claudius Eberl, Schonach: 149, 151, 152; Jogi Ritter, Schönwald: 153, 160 u., 162, 163 ob. li, ob. re; Marc Eich, VS-Villingen: 154/155, 157, 160 ob., 160 M. 160 M. u., 161, 163 M. u., 166/167, 171 ob., 196, 197, 198, 199, 317 u.; Marc Gut, Nassenwil/CH: 178/179, 183; Brian Gunter: 180 ob.; Michael Stifter, Vöhrenbach: 180 u., 184/185; Petra Schwuchow, Berlin: 181 u.; Atric, Freiburg: 182; Tanja Bury, Bad Dürrheim: 186/187, 188, 191; Bernhard Gail, Mundelfingen: 189, 192/193; Melanie Reischl, VS-Villingen: 194/195; Bianca Purath, Hubertshofen: 203, 204 (Archivbilder); Simone Neß, Villingen-Schwenningen: 225; Dieter Wacker, Marbach: 247, 248; Manfred Hildebrandt, VS-Villingen: 249, Eric Zerm, VS-Schwennigen: 272-277; Hans Schonhardt / Bernhard Scherer St. Geor gen: 278/279, 280, 281, 283, 284, 286, 287, 288/289; Martin Schwenninger, VS-Villingen: 291, 292, 295; stock.adobe.com, AB Photography: 317 ob. Magazin 319

 

 

 

Ehrenliste der Freunde und Förderer des Almanach 2021

 

 

 

110 Mit dem Bike durch Schwarzwald und Baar

 

 

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